Mit dem Champions-League-Finale am Samstagabend hat sich der europäische Klubfußball endgültig in die Sommerpause verabschiedet und alles fiebert der anstehenden Europameisterschaft in Polen und... Überangebot im Mittelfeld bietet viele taktische Möglichkeiten – das ist der EM-Kader von Italien

Mit dem Champions-League-Finale am Samstagabend hat sich der europäische Klubfußball endgültig in die Sommerpause verabschiedet und alles fiebert der anstehenden Europameisterschaft in Polen und der Ukraine entgegen. Bevor das Turnier beginnt nimmt abseits.at in Teaminfos die einzelnen Mannschaften genau unter die Lupe, analysiert die jeweiligen Kader und Hintergründe. Lest hier alles über die italienische Auswahl.

Ohne große Probleme und ohne Niederlage qualifizierte sich der Weltmeister von 2006 für die anstehende EM-Endrunde. In der Qualifikationsgruppe C mit Estland, Serbien, Slowenien, Nordirland und den Färöer-Inseln wurde das Team von Cesare Prandelli mit zehn Punkten Vorsprung auf die zweitplatzierten Balten überlegen Gruppensieger. Der 54-jährige Coach, der nach der WM 2010 beim italienischen Verband anheuerte, gilt als sehr experimentierfreudig, hat in 19 Länderspielen bereits 47 verschiedene Spieler einberufen. Auch mit seinem vorläufigen EM-Kader versetzte der ehemalige Betreuer der Fiorentina viele Leute in Erstaunen, indem er zwei Zweitliga-Spieler sowie vier Neulinge nominierte und sich so mit einer 32-Mann-starken Riege auf das Großereignis vorbereitet. Bis zum 29. Mai muss Prandelli damit noch ganze neun Akteure streichen.

Das Aufgebot im Überblick

Tor: Gianluigi Buffon (Juventus), Morgan de Sanctis (Napoli), Salvatore Sirigu (Paris St. Germain), Emiliano Viviano (Palermo)

Abwehr: Ignazio Abate (Milan), Davide Astori (Cagliari), Federico Balzaretti (Palermo), Andrea Barzagli (Juventus), Salvatore Bocchetti (Rubin Kasan), Leonardo Bonucci (Juventus), Giorgio Chiellini (Juventus), Domenico Criscito (Zenit St. Petersburg), Christian Maggio (Napoli), Angelo Ogbonna (Torino), Andrea Ranocchia (Inter)

Mittelfeld: Luca Cigarini (Atalanta), Daniele De Rossi (Roma), Alessandro Diamanti (Bologna), Emanuele Giaccherini (Juventus), Claudio Marchisio (Juventus), Riccardo Montolivo (Fiorentina), Thiago Motta (Paris St. Germain), Antonio Nocerino (Milan), Andrea Pirlo (Juventus), Ezequiel Schelotto (Atalanta), Marco Verratti (Pescara)

Angriff: Mario Balotelli (Manchester City), Fabio Borini (Roma), Antonio Cassano (Milan), Mattia Destro (Siena), Antonio Di Natale (Udinese), Sebastian Giovinco (Parma)

Torhüter

Im Kasten der Azzurri ist Gianluigi Buffon gesetzt. Dass der mittlerweile 34-jährige Schlussmann nichts von seiner Klasse verloren hat, zeigen die Zahlen zur abgelaufenen Saison, in der er bereits den fünften Scudetto für Juve stemmen konnte: In 35 Ligaeinsätzen musste Buffon nur 16 Mal den Ball aus dem eigenen Netz holen und blieb insgesamt bemerkenswerte 21 Mal ohne Gegentreffer. Als erster Ersatzmann des Routiniers gilt Salvatore Sirigu, der bei PSG als Stammkeeper alle Spiele machte und dabei elf Mal „zu Null“ spielte. Um den dritten Kaderplatz kämpfen Napolis de Sanctis und Viviano von US Palermo. Um seine EM-Chance zu wahren zog es Viviano nur ein halbes Jahr nach seinem Engagement bei Inter, wo den 26-Jährigen kurz nach seiner Ankunft ein Kreuzbandriss außer Gefecht setzte, zu Palermo. Wirklich überzeugen konnte er dort zwar nicht, wurde jedoch auch von seinen Vorderleuten oft im Stich gelassen. Nachdem auch de Sanctis‘ Saisonleistungen stark schwankten blieb Prandelli nicht von Kritik verschont, denn mit Lazios Federico Marchetti bewarb sich ein durchaus zuverlässiger Mann als zusätzlicher Kandidat um eine Stelle im Aufgebot. Der 29-Jährige stand schon bei der letzten Weltmeisterschaft in Südafrika für die Squadra Azzurra zwischen den Pfosten.

Innenverteidigung

Sieben potenzielle Innenverteidiger hat Prandelli einberufen, wobei Meister Juventus die Majorität stellt. Die Bianconeri Barzagli, Bonucci und Chiellini haben ihren Platz sicher, könnten möglicherweise sogar zu dritt auflaufen. Dies wäre dann der Fall, wenn Chiellini, wie er es schon öfter gemacht hat, die linke Seite der Viererkette bearbeiten würde, oder Prandelli mit einem 3-5-2-System plant – dazu später mehr. Da das Juve-Trio gesetzt ist und man davon ausgehen kann, dass Prandelli branchenüblich vier Innenverteidiger als ausreichend ansehen wird, bleiben im Kampf um den restlichen Startplatz vier Abwehrspieler übrig. Die unwahrscheinlichste Variante ist Angelo Ogbonna von Zweitligist Torino. Der Doppelstaatsbürger, der unter anderem auch von Milan umworben wird, kann zwar ebenso wie Chiellini notfalls auf der Linksverteidigerposition aushelfen, hat aber den Nachteil, dass die Saison in der Serie B noch nicht beendet ist. Die Einberufung des 24-Jährigen dürfte deshalb in erster Linie daher rühren, dass ihn Prandelli behutsam an das Nationalteam heranführen will. Von den übrigen drei Alternativen stellen alle den Anspruch bei der Endrunde dabei zu sein. Bocchetti wurde trotz ansprechender Leistungen bei Rubin Kasan lange Zeit ignoriert und steht erstmals auf Prandellis Kaderliste. Vernachlässigt er den Legionär abermals fällt die Entscheidung zwischen Astori und Ranocchia. Erster ist zwar auf dem Boden stärker, technisch beschlagener, besser in der Antizipationen und spielte eine solidere Saison. Inters Abwehrrecke hingegen verkörpert aber genau den Spielertyp, der im Abwehrzentrum noch fehlen würde – neben der Erfahrung ein weiterer Pluspunkt, der ihm ein Ticket in den Osten sichern könnte.

 

 

 

 

 

 

 

Außenverteidigung

Dass Prandelli bei der Kaderzusammenstellung auf ein 3-5-2-System geschielt haben kann, wurde bereits oben erwähnt. Gestützt wird die These wenn man einen Blick auf die Außenpositionen wirft. So sind zum Beispiel Atlantas Schelotto und Giaccherini von Juventus, zwei der vier Teamneulinge, Optionen auf den Außenbahnen in einer 3-5-2-Formation und hätten in anderen Systemen wohl auf allen anderen Positionen keine Chance auf den EM-Zug aufzuspringen. Für den 23-jährigen gebürtigen Argentinier Schelotto wird es auch so schon eine nahezu unmögliche Aufgabe, hat er mit Abate und Maggio doch zwei der besten Rechtsverteidiger der Serie A vor sich. Auf der gegenüberliegenden Seite könnte Prandelli durchaus darauf spekulieren nur Crisito mitzunehmen, da es wie bereits erwähnt mit Chiellini einen durchaus zuverlässigen Ersatzmann geben würde und den freigewordenen Kaderplatz an einen polyvalenten Spieler weiterzugeben – zum Beispiel Giaccherini. Durch das Sieb würde dann Federico Balzaretti von US Palermo fallen.

 

 

 

 

 

 

 

Zentrales Mittelfeld

Unabhängig vom System, das Prandelli präferiert, ist das Herzstück sowohl in einem 4-3-1-2- als auch 3-5-2-System das zentrale Mittelfeld. Da in der Serie A hauptsächlich auf diese beiden Formationen zurückgegriffen wird, ist das Angebot an Spitzenspielern entsprechend hoch. Obwohl Andrea Pirlo in seiner letzten Saison beim AC Milan bestenfalls Durchschnittsleistungen zeigte, baute Prandelli stets auf den 33-Jährigen. Nach dem letztjährigen Wechsel zu Juventus blühte er wieder auf und gilt als unverzichtbar. Als tiefliegender Spielmacher prägte er das Spiel der alten Dame entscheidend, führt zahlreiche Passstatisik-Listen an. In der Squadra Azzurra verhält es sich nicht anders, das Spiel steht und fällt mit der Leistung Pirlos. Dafür, dass er den Spielaufbau ohne Druck ordnen kann, sorgt zum einen seine tiefe Position, aber auch die gute Abschirmarbeit seiner Nebenmänner – der Chilene Arturo Vidal und Claudio Marchisio, der auch bei der EM an der Seite Pirlos agieren wird. Einen Stammplatz in der Startformation hat der 26-Jährige allerdings nicht sicher, da sich mit Romas De Rossi, Nocerino vom AC Milan und dessen Neo-Teamkollegen Montolivo drei weitere hervorragende Spieler im Kader befinden. Der Römer dürfte als einziger neben Pirlo gesetzt sein, wenngleich er auf einer anderen Position als im Verein zum Einsatz kommen wird. Während der sehr dynamische und aggressive Kämpfer bei der Roma den klassischen Sechser mimt und sich beim Spielaufbau oft zwischen in die Innenverteidiger fallen lässt, wird er bei der EM auf einer der Halbpositionen in der Dreier-Zentrale eingesetzt werden. Für Nocernio spricht, dass er sehr torgefährlich ist (10 Tore in 35 Spielen), für Montolivo, dass ihn Prandelli sehr schätzt. Bei allen bisher genannten Spielern ist davon auszugehen, dass sie auch im endgültigen Aufgebot stehen werden – gut möglich, dass aber noch ein weiterer zentraler Spielmacher dabei sein wird. Gute Chancen hat dabei Thiago Motta, der im Winter von Inter zu Paris St. Germain wechselte und seit seiner Einbürgerung sieben Länderspiele absolvierte. Da der hochveranlagte Marco Verratti nur zu Lernzwecken die EM-Vorbereitung mitmacht, ist Luca Cigarini der einzige Herausforderer des Brasilo-Italieners. Der Atalanta-Mittelfeldakteur wurde zwar erstmals von Prandelli berücksichtigt, weist jedoch bessere Statistiken als Motta auf.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Trequartisti

Neben einem kompakten Zentrum ist das 4-3-1-2 durch den Spielmacher hinter den Spitzen charakterisiert – Trequartista wird er in Italien genannt. Für diese Position im dritten Viertel des Spielfeld ist primär Sebastian Giovinco vorgesehen. Bei Juventus kaum berücksichtigt wechselte der 164 Zentimeter kleine Techniker im Sommer 2010 zu Parma. Dort kommt er allerdings vorrangig als Stürmer zum Einsatz – das gleiche gilt auch für Antonio Cassano, der ebenfalls die Rolle hinter den Stürmern bekleiden kann. Ob der 29-jährige Milan-Angreifer überhaupt dabei sein würde, war allerdings lange ungewiss – jedoch nicht aufgrund seiner fußballerischen Fähigkeiten. Nach dem Auswärtsspiel bei der Roma Ende Oktober klagte Cassano über Schwindel, Sprach- und Sehstörungen. Bei einer Untersuchung in der Mailänder Poliklinik wurde anschließend ein Loch in der Herzgegend gefunden. Das einstige „Enfant terrible“ musste sich einer Operation erziehen und wurde erst kurz vor der Bekanntgabe des erweiterten Kaders fit. Ebenfalls kein „reinrassiger“ Zehner ist Alessandro Diamanti. Sowohl bei Livorno als auch bei West Ham und Brescia agierte der 29-Jährige als Stürmer, bei seinem aktuellen Verein, Bologna, besetzt er im 3-4-2-1 gemeinsam mit Gaston Ramirez die zweite Angriffsreihe. Diamanti, der auch erstklassige Standardsituationen tritt, wäre der einzige Linksfuß im Angriff. Angesichts der Tatsache, dass Prandelli aber noch neun Spieler streichen muss, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Diamanti die Europameisterschaft nur als Zuschauer erleben wird.

 

 

 

 

 

 

 

Stürmer

Im Sturm setzt Prandelli mehr oder weniger auf dieselben Spielertypen: gute Abschlussfähigkeiten, leichtfüßig und stark am Ball. Einen richtigen Brecher hat er jedoch nicht einberufen. Die Athletik von Mario Balotelli ist zwar unverkennbar, der „Bad Boy“ hat aber trotz 1,90 Meter Körpergröße Probleme in der Luft und konnte in der Saison 2011/2012 keinen Kopfballtreffer erzielen. Antonio Di Natale unterstrich mit 23 Toren einmal mehr seine Torjägerqualitäten, leidet im blauen Dress jedoch unter Ladehemmung und scheint nicht der richtige Stürmer zu sein um Italien zu Titeln führen zu können. Das dürfte auch Prandelli so sehen, denn der Coach hat den Torjäger von Udinese bisher noch kein einziges Mal einberufen. Ebenfalls zum ersten Mal im Kreise der nationalen Auswahl steht Mattia Destro. Bisher durfte der 21-Jährige nur im U21-Team auf Torejagd gehen, insgesamt 22 Treffer in 29 Spielen für die Jugendauswahlen sowie 12 Tore in der Serie A brachten dem Angreifer aber eine Einladung für das Teamcamp. Im Kampf um einen Platz im Angriff muss er neben dem bereits erwähnten Diamanti seinen ehemaligen U21-Sturmkollegen Fabio Borini ausstechen. Zwar hat dieser drei Tore weniger erzielt, aber dass die Roma einen ballbesitzorientieren Fußball als Siena spielt und er somit womöglich besser in Prandellis Konzept passen könnte, dürfte ihm zu einer besseren Ausgangslage verhelfen.

 

Aufstellungsvarianten

Der vorläufige Kader legt die Vermutung nahe, dass Prandelli während der WM sowohl ein 4-3-1-2- als auch ein 3-5-2-System praktizieren möchte. Letzteres würde sich vor allem im ersten Gruppenspiel gegen Spanien anbieten. Der Titelverteidiger verfügt über das beste Mittelfeld der Welt – so zumindest die Meinung vieler „Experten“. Daher ist es durchaus legitim den Kurzpassstafetten in der Mitte und Spielverlagerungen viele Beine in den Weg zu stellen und im Zentrum ein numerisches Übergewicht herzustellen. Ein Problem der Iberer ist die fehlende Breite, wodurch situationsbedingt auch die Außenverteidiger einrücken können und so den Raum verknappen können. Hinter dieser dichten Fünferkette würde sich das eingespielte Juve-Abwehrtrio aufstellen. Generell ist damit zu rechnen, dass wenige Spieler Schwierigkeiten bei der Umstellung auf eine Dreierkette hätten, da Juventus, das über weite Strecken der Saison die gleiche Strategie anwandte, den Stamm der Mannschaft stellt. Zudem haben auch Maggio und Criscito ausreichend Erfahrung darin und sind Vertreter des wing-back-Typus.

 

 

 

 

 

 

Gegen eine 3-5-2-Formation spricht, dass Prandelli bisher nicht vom 4-3-1-2-System abgewichen ist. Es davon auszugehen, dass zumindest gegen die beiden Außenseiter Kroatien und Irland letzteres zum Einsatz kommen wird. Als Trequartista könnten sich Giovinco und Cassano abwechseln, offen ist die Besetzung der rechten Abwehrseite sowie linken Halbposition.

 

 

 

 

 

 

Eine weitere, wenn auch eher unrealistische Möglichkeit wäre es das 4-4-2 mit einem flachen Mittelfeld anstatt einer Raute auszuführen. Dies wär auch die einzige Möglichkeit alle Box-to-Box-Mittelfeldspieler unter einen Hut zu bekommen. Dadurch hätte man zwar sichergestellt, dass das Zentrum noch kompakter wäre, allerdings würde neben der fehlenden Breite auch die entsprechende Anbindung des Angriffs verloren gehen. Abhilfe könnten Vorstöße von De Rossi sowie eine Aufstellung von Giovinco schaffen.

 

 

 

 

 

 

axl, abseits.at

Alexander Semeliker

@axlsem

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