1. Juli 2012, Kiew. Die spanische Fußballnationalmannschaft krönt sich zum dritten Mal nach 1964 und 2008 zum Europameister. Nach einer eher glanzlosen Gruppenphase und... Fußballmacht Spanien (1/2) – Ein Land, eine Philosophie

1. Juli 2012, Kiew. Die spanische Fußballnationalmannschaft krönt sich zum dritten Mal nach 1964 und 2008 zum Europameister. Nach einer eher glanzlosen Gruppenphase und einer Zitterpartie im Halbfinale gegen Portugal wird Italien nach einer souveränen Partie und einem idealen Spielverlauf mit 4:0 aus dem Stadion geschossen. Doch wie kommt es, dass Spanien in den letzten 6 Jahren zu solch einer unangefochtenen Fußballmacht wurde und weltweit kaum Konkurrenz existiert?

Der Beginn eines einzigartigen Erfolgslaufes

Bei der Euro 2008 feierte man nach einer langen Durststrecke erstmals wieder einen großen internationalen Titel. Der damalige Trainer Luis Aragonés schaffte es erstmals, seinem Team das bis heute berüchtigte „Tiqui – taca“ anzueignen und die Stars des FC Barcelona und Real Madrid zu einer Einheit zusammenzuführen. Europameister wurde man ebenfalls mit einigen Schwierigkeiten, da man den damals amtierenden Weltmeister Italien im Viertelfinale erst im Elfmeterschießen besiegen konnte. Doch der attraktive Spielstil der Mannschaft beeindruckte erstmals die Fußballwelt, wodurch das Team große Sympathien erlangte. Im Startkader des Finales standen übrigens sechs Spieler, welche auch 2012 beginnen durften.

Neuer Trainer, gleiches System

Als Vicente del Bosque das Ruder im spanischen Nationalteam übernahm, veränderte er nur wenig und setzte größtenteils auf die gleichen Spieler bzw. das eintrainierte System. Im erfolgreichen Finale der WM 2010 starteten wieder insgesamt sieben Spieler des heurigen Finales, was eine gewisse Struktur erkennen lässt. Zwar verfügt Spanien über eine ungeheure Spielerdichte, doch letztendlich kommen nahezu die gleichen Spieler zum Einsatz. Die Akteure des FC Barcelona bilden dabei mit neun Feldspielern das Fundament des Teams, welches zudem mit fünf Spielern von Real Madrid komplettiert wird. Diese sind nur sehr schwer aus dem Team zu verdrängen, da das System perfekt von jenen beherrscht wird und ebendieses in ihren Vereinen praktiziert wird. Ein großes Erfolgsgeheimnis ist die Eingespieltheit der Mannschaft, die sich im Nationalteam nicht total umstellen muss, da sich die Kollegen genau kennen.

Einzigartige Spielweise

Dieses perfektionierte Kurzpassspiel bzw. das Spiel auf Ballbesitz beeindruckte in den letzten Jahren Fußballfans aus aller Welt. Doch die Grundlagen dieses Spielstils liegen nicht im Ballbesitz, sondern viel mehr im Verhalten ohne Ball. Dieses kann man wiederum in zwei Bereiche gliedern:

  •  Gegner im Ballbesitz
  •  Eigener Ballbesitz

 

Auffällig im spanischen Spiel ist die Tatsache, dass die Spieler versuchen, in jeder möglichen Situation eine Überzahl zu erzeugen. Dabei wird versucht, einen ballführenden Gegner durch offensives Pressing schon früh in der eigenen Hälfte zu einem Fehler zu zwingen. Durch aktive Stürmer, Mittelfeldspieler aber auch  Außenverteidiger und durch geschicktes Stellungsspiel werden alle Anspielstationen sowie Passwege zugestellt. Das Team kann es sich leisten, dadurch Räume im defensiven Bereich zu öffnen, da nur sehr wenige Mannschaften es spielerisch schaffen, diesen Platz letztendlich zu nutzen und gefährlich vor das spanische Tor zu kommen. Wenn ein Team in die Nähe des spanischen Strafraums gelangt, so ziehen sich nahezu alle Spieler in die eigene Hälfte zurück, machen die Räume eng und zwingen den Gegner durch Überzahlsituationen zu Ballverlusten.

Das berühmte spanische Kurzpassspiel bzw. One-Touch-Fußball ist nur durch sehr gutes Spielverständnis, intelligentes Stellungsspiel, hoher Laufbereitschaft und perfekter Technik bzw. Umgang mit dem Spielgerät möglich. Das Spiel der Spanier ist in mehrere Abschnitte gegliedert:

  • So eröffnen die Innenverteidiger oft das Spiel und überbücken relativ schnell weite Räume in der eigenen Hälfte.
  • Im Mittelfeld warten üblicherweise mit Sergio Busquets und Xabi Alonso erste Anspielstationen, die mit schnellem Direktspiel den Ball tief in die gegnerische Hälfte verlagern können. Bei fehlenden Möglichkeiten in der Offensive wird nicht wie bei vielen andern Teams ein Risikopass gewagt, sondern die Sicherheitsvariante zurück zu den Verteidigern. So entsteht eine hohe Passgenauigkeitsquote, da fast ausschließlich sichere Pässe gespielt werden. Da die beiden „6er“ meist über einige Abspielmöglichkeiten verfügen, gelingt es den Spaniern sehr oft mit Leichtigkeit in die gegnerische Hälfte vorzudringen und den Gegner ca. 30 Meter vor dem eigenen Tor festzuschnüren. Dieser hat gegen das schnelle und technisch perfekte Passspiel nur wenige Chancen in Zweikämpfe zu kommen und diese zu gewinnen.
  • Im offensiveren Bereich spielen die Regisseure Xavi Hernandez und Andres Iniesta eine wichtige Rolle, welche sehr oft durch geniale Pässe in die Schnittstellen die Verteidigung aushebeln und den Stürmern somit große Torchancen ermöglichen. Um solche Passwege spielen zu können benötigt man viel Überblick, antrittsstarke Mitspieler, die in den Raum sprinten und viel Bewegung. Offensiv ausgerichtete Außenverteidiger erzeugen außerdem viel Druck und mehr Anspielstationen, wodurch man mit Leichtigkeit in die Nähe des gegnerischen Strafraums gelangt. Durch oftmaliges Rochieren wird es dem Gegner schwer gemacht gezielt zu decken. Dieser wird zudem demoralisiert, da die Akteure viele „leere Kilometer“ ohne Ball absolvieren müssen und nur wenige Zweikämpfe erfolgreich bestreiten können.

 

Rezept gegen diese Spielweise

In den letzten Jahren haben sich viele Teams an diesem perfektionierten Spiel die Zähne ausgebissen. Sei es bei den großen Turnieren der Nationalmannschaft oder auf Clubebene, vorallem gegen den FC Barcelona. Dieses System bescherte den Spaniern viele Titel und es braucht viel taktisches Geschick, um solche Mannschaften zu besiegen.

Dies kann man mit 2 Varianten bewerkstelligen:

  • offensives „Gegenpressing“
  • defensiver Abwehrriegel

 

Ersteres wendete Portugal im Halbfinale der diesjährigen EURO sehr erfolgreich an. Durch eine offensiv ausgelegte Spielweise versuchte man schon früh die Innenverteidiger und Spieleröffner (Ramos, Pique) unter Druck zu setzen und sie somit zu Fehlern zu zwingen. Dies gelang sehr gut, da zeitweise sieben Portugiesen in der Hälfte der Spanier „pressten“, und diese dadurch nicht zu ihrem gewohnten Spiel finden konnten. Dieses sehr laufintensive Spiel der Portugiesen machte sich letztendlich bezahlt, da Spanien nur zu wenigen Tormöglichkeiten kam und diese aufgrund mangelnder Gefährlichkeit nicht verwerten konnte. Portugal hingegen nützte das ungewohnt unsichere Spiel der Spanier zu schnellen Kontern, bei denen immer genug Mittelfeldspieler aufrückten, um für ausreichend Anspielstationen und damit Torgefährlichkeit zu sorgen.

Die defensive Variante wurde erstmals vom FC Chelsea im Champions-League Halbfinale gegen den FC Barcelona erfolgreich praktiziert. Durch geschicktes Verschieben der Abwehrreihen war es den Spaniern schlicht unmöglich, „tödliche“ Pässe in die Schnittstellen zu spielen bzw. spielerisch zum Erfolg zu kommen. Die verteidigenden Spieler formierten sich oft in zwei Fünferketten ca. 25 Meter vor dem eigenen Tor. Sie versuchten aber nicht in Ballbesitz zu gelangen, sondern machten die Räume geschickt eng und störten das Spiel durch Zustellen der Passwege. Viele Weitschüsse der Spanier aus der „zweiten Reihe“ waren ungefährlich, weil diese gezielt aus aussichtslosen Positionen zugelassen oder schlichtweg geblockt wurden. Diese Taktik ist aber sehr riskant, da individuelle Fehler passieren können und kleinste Unachtsamkeiten sehr schnell zu Gegentoren führen. Die Chance Tore zu schießen ist ebenfalls sehr gering, da sich nur wenige Spieler in die Offensive einschalten und somit generell in Unterzahl agiert werden muss.

Kritik

In den letzten Jahren wurde Spaniens Spiel in höchsten Tönen gelobt und von vielen Teams nachzuahmen versucht. Doch in den letzten Monaten machen sich Stimmen breit, die Spaniens Ballgeschiebe für langweilig und ermüdend halten. Dieses ballbesitzorientierte Spiel sei wenig effizient und bietet zu wenig Abwechslung und Kreativität. Außerdem wird die Möglichkeit eines Weitschusses nicht ausgenutzt bzw. wird der Ball lieber ins Tor „getragen“. Weiters musste sich das neue Spielsystem von Vicente del Bosque, ein 4-3-3 mit 6 Mittelfeldspielern und keinem Stürmer (4-6-0) harter Kritik aussetzen, welche sich schlussendlich aber nicht rechtfertigte. Zwar fehlte Spanien mit David Villa der Paradestürmer, doch trotz des Verzichts von Torres, Negredo und Llorente über weite Strecken, konnten die Mittelfeldstars genügend Offensivdruck ausüben und ihr Team oft in Führung bringen.

In der Tat werden hier einige Kritikpunkte genannt, die das Spiel Spaniens bzw. Barcelonas unattraktiv und eintönig erscheinen lassen. Doch dieses System kann im Moment fast niemand ausüben bzw. auf gleichem Niveau nachahmen, wodurch ein großer Vorteil für Spanien entsteht und Erfolge garantiert werden. Geduld ist dabei eines der wichtigsten Faktoren, was dem Zuschauer nicht entgegenkommt, weil dieser ein schnelles Spiel mit vielen Tormöglichkeiten auf beiden Seiten erwartet. Daher können wir in Zukunft nur hoffen, dass sich die Teams besser auf dieses System einstellen und uns somit spannende und offene Spiele liefern.

David Ryborz, www.abseits.at

David Ryborz

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