Die 1960er waren wilde Zeiten. Und aus dem Epizentrum des Aufstandes und der Anarchie, der Auflehnung und des Protest – nämlich Amsterdam –  entstand... Totaalvoetbal (Teil 1/5) – Der langsame Aufstieg des Aushängeschilds Ajax Amsterdam

Die 1960er waren wilde Zeiten. Und aus dem Epizentrum des Aufstandes und der Anarchie, der Auflehnung und des Protest – nämlich Amsterdam –  entstand eine Mannschaft, die einen Fußballstil spielte, wie ihn die Welt zuvor noch nicht gesehen hatte. Die Art “ihren” Fußball zu spielen verlangte den Akteuren psychisch und physisch alles ab, aber der Fußball am europäischen Kontinent wurde dadurch über Jahre hinweg dominiert und keine Mannschaft konnte sich dem aggressiven, fordernden und unbequemen Spiel entziehen: Die Rede ist von Ajax Amsterdam und dem “Totaalvoetbal”, dem totalen Fußball, durch den auch die niederländische Nationalmannschaft mit einem Schlag in den Mittelpunkt des Weltfußballs rückte und (traurige) Berühmtheit erlangte.

Anfang 1950 oder: Die Nonexistenz des niederländischen Fußballs

Obwohl der 2. Weltkrieg endlich vorbei war, hinterließ er in den Niederlanden scheinbar Jahre später noch eine gewisse Schockwirkung. Denn wirft man einen Blick auf den niederländischen Fußball Ende der 1940er-Jahre bzw. Anfang der 1950er-Jahre, muss man feststellen: Es gab eigentlich keinen.

Auf Vereinsebene gab es den bezahlten Fußball in den Niederlanden ohnehin noch nicht (die Einführung erfolgte erst 1954), immerhin stellten die Niederlande aber weiterhin eine Nationalmannschaft. Diese dürfte zu dieser Zeit allerdings auch gern gesehener Gast in Europas Stadien gewesen sein. 1948 rannte man in eine 2:8 Auswärts-Niederlage gegen England und zwischen dem 4:1-Sieg gegen Finnland im Juni 1949 und dem 1:0-Sieg gegen Belgien im April 1955 lagen ganze 27 Partien, in denen man nur 2 Siege einfahren konnte.

Ein wesentlicher Grund der damaligen Erfolglosigkeit lag im veralteten Spielsystem der Niederländer. Das 2-3-5-System (auch “Schottische Furche”) entstand 1877 und war eigentlich das erste System, das Kombinationsspiel und Zusammenspiel der einzelnen Mannschaftsteile hervorhob bzw. diesem erstmals Bedeutung zukommen ließ, standen vorher doch hauptsächlich Tugenden wie Kampfkraft und Dribblings im Sinne von Einzelaktionen im Vordergrund. Mit Änderung der Abseitsregel 1925 war jedoch eine Umstellung des Systems notwendig und das WM-System, welches Ähnlichkeiten mit dem heute vergleichbaren 3-4-3 aufweist, hielt Einzug.

Diese Entwicklung schienen die Niederländer verschlafen zu haben. Eine Umstellung auf das WM-System zum “richtigen” Zeitpunkt ist nie erfolgt, das 2-3-5 wurde beibehalten.

Im Nachhinein gesehen ist dieser Umstand fast schon als Glücksfall zu bezeichnen, denn nur so konnten sich die Niederländer einen Zugang zum Fußball erhalten, der auch in den kommenden Jahrzehnten offensiver und in gewisser Weise auch naiver zu sein schien, als ihn scheinbar alle anderen Nationen hatten. Für den totalen Fußball eine wichtige Voraussetzung, wie sich herausstellen sollte. Immerhin wurde 1956 die Ehrendivision ins Leben gerufen und der niederländische Fußball kam, sehr langsam aber doch, etwas in die Gänge.

Der Grundstein zum totalen Fußball – Ajax Amsterdam und Jack Reynolds

So schlecht es um den niederländischen Fußball im Allgemeinen nach dem 2. Weltkrieg stand, ein Mann betrat schon 1915 die Fußballbühne in Amsterdam und sollte schon damals den Boden für tiefgreifende Veränderungen legen: Jack Reynolds.

Die Karriere des Spielers Jack Reynold ist schnell erzählt: Vom Reserveteam von Manchester City wechselte er zu Grimsby Town, von dort weiter zu Sheffield Wednesday und unter anderem auch zum FC Watford. Er war zwölf Jahre lang aktiv und hängte dann die Fußballschuhe an den Nagel – ohne größere Erfolge erzielt zu haben.

Als Trainer fand er offensichtlich zu seiner Berufung: 1912 startete er seine Trainerkarriere beim FC St.Gallen. 1913 und 1914 wurde er mit der Mannschaft jeweils Vizemeister, 1914 verließ Reynolds den Verein, um Trainer der deutschen Nationalmannschaft zu werden. Dies sollte allerdings durch den Ausbruch des 1. Weltkriegs verhindert werden und so flüchtete Reynolds 1915 in die Niederlande, wo er den Trainerposten bei Ajax Amsterdam bekam. In den nächsten 32 Jahren sollte Reynolds insgesamt 25 Jahre bei Ajax verbringen, verteilt auf 3 Amtszeiten. Die zweite Trennung sollte durch den 2. Weltkrieg bedingt werden, 1945 kehrte Reynolds allerdings noch einmal zurück.

Reynolds galt einerseits als Disziplinfanatiker, andererseits jedoch auch als großer Freund des Offensivgeists und Förderer des technischen Fußballs. Unter seiner Leitung schaffte Ajax Amsterdam den Aufstieg zur führenden niederländischen Klubmannschaft und es wurde auch die Grundlage zur Jugendabteilung von Ajax gelegt, welche ja bis zum heutigen Tag als eine der besten Ausbildungsstätten der Welt gilt. Bei der letzten Rückkehr Reynolds zu Ajax im Jahr 1945 spielte auch schon ein gewisser Rinus Michels für diesen Verein und Reynolds nahm den damals 17-Jährigen unter seine Fittiche. Ein fundamentaler Baustein zum späteren Spiel (und Erfolg) von Ajax Amsterdam.

Weiterführung der Spielphilosophie und Umstellung des Systems – 1959 bis 1965

1959 übernahm ein gewisser Vic Buckingham das Ruder bei Ajax. Im Gegensatz zu Reynolds konnte sich Buckingham als Spieler durchaus behaupten: Zwischen 1935 und 1949 spielte er für Tottenham – und zwar ausschließlich für Tottenham. Nach 230 Partien war allerdings auch für Buckingham Schluss und nur ein Jahr später feierte er sein Trainerdebut beim Amateurverein AFC Pegasus mit welchem er in der Saison 50/51 den Gewinn des FA Amateur Cups feierte. Es folgten Trainerstationen bei Bradford Park Avenue und West Bromwich. Mit West Brom feierte Buckingham 1954 den 2. Platz in der Football League First Division, sowie den Gewinn des FA Cups.

1959 wechselte Buckingham zu Ajax Amsterdam und er brachte auch sehr konkrete Vorstellungen mit: Buckingham forcierte das Kurzpassspiel, um bei Ballbesitz das Mittelfeld schnell zu überbrücken. Weiter Schwerpunkte seiner Arbeit waren das schnelle Weiterleiten des Balls in den eigenen Reihen sowie das Erlaufen von Freiräumen und natürlich spielte in diesem Zusammenhang auch Ballbesitz eine wesentliche Rolle in den Vorstellungen Buckinghams.

Mittlerweile waren nicht nur einige unübersehbare Grundzüge des totalen Fußballs in der Spielweise von Ajax erkennbar, auch erfolgte unter Buckingham die längst notwendige Systemumstellung. Das WM-System, in weiten Teilen Europas längst etabliert, fand, sehr spät aber doch, Einzug ins Spiel der Amsterdamer. 1960 durfte sich Buckingham über die Früchte seiner Arbeit freuen: Es wurde nicht einfach nur die Meisterschaft gewonnen, sondern gleichzeitig ein Schnitt von 3,2 Toren pro Spiel erzielt. Spätestens jetzt war Ajax in der fußballerischen Neuzeit angekommen. In den nächsten Jahren sollte die Entwicklung auch weiter rasant zunehmen, allerdings nicht, ohne vorher nochmals einen Dämpfer zu erhalten:

1961 wechselte Buckingham zu Sheffield Wednesday, um 1964 zu Ajax zurückzukehren. Buckingham konnte unter seiner zweiten Amtszeit allerdings nicht mehr an den alten Erfolg anknüpfen, ein Jahr nach seinem neuerlichen Engagement fand sich Ajax sogar auf den Abstiegsrängen wieder. Noch 1965 wurde Buckingham entlassen. Mit Rinus Michels stand nicht nur ein klingender Name ante portas. Die Goldenen Jahre des Totaalvoetbal standen unmittelbar bevor und Ajax Amsterdam sollte zur europäischen Spitzenmannschaft aufsteigen.

JK, www.abseits.at

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