Taktiktheorie: Gegenpressing (1)
Taktik & Theorie 1.Oktober.2014 Rene Maric 4
In den letzten fünf Jahren hat sich das Wort „Gegenpressing“ zum Buzzword in der Fußballtaktik und in der medialen Berichterstattung gemausert. Durch die Erfolge des FC Barcelona und von Borussia Dortmund wurde das Gegen- oder Konterpressing zu einem der Hauptgründe ihrer Titel erhoben. Insbesondere der BVB definierte sich durch diese Spielweise. Doch häufig fehlt es medial am Verständnis, was genau das Gegenpressing überhaupt darstellt. Darum soll in diesem zweiteiligen Artikel zuerst geklärt werden, was das Gegenpressing ist und wie man es grundsätzlich umsetzt, bevor bestimmte Varianten, mögliche Weiterentwicklungen, die Frage nach dem genauen Effekt und die strategischen Grundlagen dahinter im zweiten Teil besprochen werden.
Was ist das Gegenpressing?
Das Gegenpressing bezeichnet das Pressing direkt nach einem Ballverlust; also das sofortige Pressing im defensiven Umschaltmoment bei organisierter Defensive. Die gesamte Mannschaft verfolgt hierbei den Ball und will ihn sich im Idealfall sofort vom Gegner wieder zurückholen. Ziel ist es, dass man einerseits den gegnerischen Konter verhindert und andererseits den Ball erobert. Darum heißt diese Spielweise im Englischen oder auch in Spanien und Italien auch „Konterpressing“ und nicht „Gegenpressing“; im Endeffekt wird schließlich der gegnerische Konter gepresst. Jürgen Klinsmann sprach 2008 von „sofortiger Ballrückeroberung“ und traf damit ebenfalls den Kern der Sache ausgesprochen gut.
Wie spielt man Gegenpressing erfolgreich?
Für ein erfolgreiches Gegenpressing gibt es mehrere Voraussetzungen. Entscheidend ist die Raumaufteilung und Spielweise davor. Die Spieler sollen möglichst eng aneinander agieren, damit sie direkt nach dem Ballverlust gemeinsam gegenpressen können – was bei einem Kurzpassfußball natürlich sofort gegeben ist. Gleichzeitig sollten sich aber nicht aneinander kleben, um nicht zu wenig Raum im Gegenpressing abzudecken. Meistens gehen aber eine gute Raumaufteilung in eigenem Ballbesitz und eine gute Staffelung nach dem Ballverlust Hand in Hand.
Einige Trainer nutzen als grundsätzliche Faustregel „möglichst wenige Zonen mit einzelnen Spielern besetzen, aber möglichst großen Abstand zwischen den Spielern innerhalb der Zonen“, um die Raumaufteilung simpel verständlich zu machen; obgleich durch solche Heuristiken natürlich immer gewisse Aspekte in puncto Komplexität verloren gehen.
Ähnliches ist auch bei der zeitlichen Komponente der Fall. Viele Teams haben Probleme mit dem Auflösen des Gegenpressings – wann stoppt man das Pressing, wenn man den Ball nicht erobern kann? Wann zieht man sich zurück? Wie lange pressen wie viele Spieler weiter? Das ist besonders problematisch, weil sich die Position des Balles hier verändert. Darum gibt es auch im Bezug auf die Zeit ein häufig genutztes Lemma – die Fünf-Sekunden-Regel. Direkt nach einem Ballverlust wird in höchstem Tempo fünf Sekunden mit maximaler Intensität vom Kollektiv gegengepresst.
Hat man innerhalb dieser fünf Sekunden den Ball nicht erobert und keine Chance mehr auf eine sofortige Balleroberung, so zieht man sich in die eigentliche Defensivformation zurück und stellt sich wieder auf. Je nach Mannschaft kann die Anzahl der Sekunden aber natürlich variieren. Dennoch ist hier ebenfalls eher empfehlenswert, wenn man die strategischen Hintergründe des Gegenpressings coacht und dadurch eine flexible, situationsangepasste Zeitdauer hat.
Wichtig ist aber auch, dass man auch sehr schnell reagiert und antizipiert. Sobald der Ballbesitz wechselt, soll man sich schon im Lauf befinden; wichtig ist dafür neben der motorischen Reaktion und der kognitiven Reaktion auf die genaue Art der gegnerischen Balleroberung und die Situation auch die Antizipation des Ballbesitzwechsels. Der Spieler muss jederzeit damit rechnen, dass ein Ballbesitz kommen könnte, gleichzeitig aber der Situation einen gewissen prozentuellen Anteil zuweisen und sich dementsprechend verhalten. Auch die Beobachtung der Situation und der Staffelungen ist wichtig.
Taktische Aspekte zur Berücksichtigung
Bei der genauen Umsetzung des Gegenpressings gibt es ein paar Aspekte, welche – wenn möglich – ebenfalls umgesetzt werden sollen. So ist das Versperren der strategisch wichtigen Mitte ein wichtiges Zwischenziel für eine erfolgreiche Umsetzung. In der Mitte hat der Gegner mehr Möglichkeiten in puncto Drehung, Sichtfeld und Passspiel. Selbst wenn man ihn bogenartig anläuft und dadurch eine Seite versperrt, hat er enorm viel Raum auf die andere Seite. Im Idealfall läuft man deswegen den Balleroberer der gegnerischen Mannschaft so an, dass er Richtung Auslinie oder zum eigenen Tor blickt und ihn auch weg aus der Mitte leitet. Dadurch hat er sowohl keine Möglichkeit sich zu drehen, als auch nur wenig Optionen in seinen Entscheidungsmöglichkeiten. Desweiteren raubt man ihm dadurch den effektivsten und schnellsten Weg zum eigenen Tor, die Konter werden – wenn sie durchkommen – länger.
Im Idealfall kapselt man den Gegner aber von der Mitte ab, zwingt ihn zu Rück- oder Querpässen und isoliert ihn von seinen Mitspielern. Hierbei stellt sich natürlich auch die Frage, wer letztlich den Ball erobert. Manche Mannschaften versuchen den Gegenspieler am Ball nur zu stellen und ihn passiv zu attackieren. Das ist zwar gut, damit man nicht ausgespielt wird und als erster Anläufer eine Chance hat den Ball zu erobern, gleichzeitig kann der Gegner sich aber frei bewegen, eventuell das Spiel verzögern und dadurch mehr Optionen generieren.
Eine andere Option ist das Durchlaufen; hier wird der Gegner einfach möglichst aggressiv gepresst, man bremst nicht davor ab und stellt nicht den ominösen „Basketballabstand“ im Zweikampf her. Dadurch hat der Gegner weniger Zeit, das Tempo ist höher und man kann aggressiver attackieren. Gleichzeitig verliert man aber öfter den Zweikampf, wird ausgespielt oder begeht Fouls.
Eine letzte Methode ist das bewusste Überlaufen des Gegners. Hier wird ebenfalls nicht abgebremst, aber der erste Gegenpressingakteur hat nicht die Intention den Ball zu erobern. Er soll bloß den Gegenspieler in seiner Bewegung weiterleiten und seine eigene, ursprüngliche Position möglichst im Deckungsschatten behalten. Dadurch ist das Tempo extrem hoch, der Gegner wird zu einer bestimmten Aktion gezwungen, worauf die eigene Mannschaft einfacher reagieren kann. Der nächste Spieler attackiert und kann den Ball dadurch leichter erobern. Ein interessanter Nebenaspekt: Nach der Balleroberung kann man auf den vorher durchgelaufenen Akteur sofort einen klaren Pass spielen. „Klar“ heißt hier, dass der Abstand meistens passend ist, Raumgewinn erzielt wird und der eigene Mitspieler aus der Vorsituation weiß, dass sich vorne ein Gegenspieler befindet.
Allerdings gibt es unterschiedliche Arten des Deckungsverhaltens des Kollektivs im Gegenpressing, die bei der Umsetzung auch eine Rolle spielen – was im zweiten Teil besprochen werden wird.
Ein weiterer Artikel zum Thema Gegenpressing mit einer beispielhaften Umsetzung findet sich übrigens hier.
René Maric, www.abseits.at
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