Systemanalyse: Niederlandes Kontersystem und warum es gegen Mexiko fehlschlug
WM 2014 | Taktikanalyse 30.Juni.2014 Alexander Semeliker 0
Die Niederlande marschierte durchaus beeindruckend durch die Gruppenphase bei der WM in Brasilien und gewann alle drei Spiele. Dabei sorgte vor allem die Ausrichtung der Oranjes für Gesprächsstoff. Im Achtelfinale traf man auf Mexiko, das ebenfalls eine starke Vorrunde spielte. Das neue System der Niederländer stand dabei vor einer Zerreißprobe, die es nicht bestand. Dennoch setzten sie sich am Ende durch, stehen im Viertelfinale und sind ein realistischer Titelanwärter.
Der niederländische Fußball suggerierte in den letzten Jahren und Jahrzehnten stets ein sehr offensiv ausgerichtetes System. Seit Louis van Gaal Bondscoach ist hat sich dieses Bild geändert. Der 62-Jährige brach mit der lange praktizierten 4-3-3-Grundordnung und setzt nun auf ein defensiv ausgerichtetes System. In der Gruppenphase erreichte man damit drei Siege, gegen Mexiko schlug es jedoch fehl. Wir wollen uns das System im Folgenden genauer ansehen.
Wenig Ballbesitz, aber hohe Chancenqualität
Die Grundordnung der Niederländer ist am ehesten mit einem 3-4-1-2 zu vergleichen, wobei je nach Situation auch 3-4-3-, 5-3-2- oder 5-2-3-Staffelungen zu erkennen sind. Am markantesten dabei ist die Tatsache, dass mit Wesley Sneijder, Robin van Persie und Arjen Robben nicht nur nominell, sondern auch effektiv nur drei Offensivspieler am Rasen stehen. Der Rest des Teams rückt nur sporadisch auf bzw. wenn es die Spielsituation oder der Spielverlauf verlangt.
Diese vorsichtige Spielweise lässt sich auch in den Statistiken erkennen. So hatte in der Gruppenphase nur der Iran mit 29,7% weniger Ballbesitzanteile als die Niederländer (39,5%). Dass man bislang mit Spanien und Chile auf zwei sehr ballbesitzorientierte Teams traf, trug fraglos dazu bei, jedoch kam dies auch der niederländischen Philosophie zugute. Sie konnten abwartend agieren, tief die Bälle erobern und hatten viel Platz um ihre schnellen Offensivspieler einzusetzen.
Die geringen Ballbesitzanteile der Niederländer sind aber keineswegs ein Indiz dafür, dass sie kaum zu Chancen kamen. So verzeichnete kein anderes Team in der Gruppenphase so viele Schüsse auf das gegnerische Tor (26). Auch hinsichtlich der Schussgenauigkeit sind sie mit 67% platzierter Schüsse auf das Tor top. Dies ist einerseits eine Folge der hohen individuellen Klasse, aber auch ein Zeichen dafür, dass die Qualität der Chancen groß war und sie in günstigen Positionen zum Abschluss kamen. Mit einer Chancenauswertung von 26% waren sie zudem mit Abstand das effektivste Team in der Vorrunde.
„Richtige“ Überzahl in letzter Linie
Ein Nachteil von Dreier- bzw. Fünferkettenformationen ist, dass die Außenbahnen nur mit jeweils einem Spieler besetzt sind. Gegen Mannschaften, die diese zweifach besetzt haben, ergeben sich dadurch oft Schwierigkeiten, da die Seiten relativ simpel überladen werden können, während man im Abwehrzentrum im Allgemeinen eine drei-zu-eins-Überzahl hat. Dies mag auf den ersten Blick komfortabel sein, hat aber zur Folge, dass man irgendwo anders am Feld einen Spieler zu wenig hat um Druck erzeugen zu können.
Nun könnte man die Halbverteidiger auf die gegnerischen Flügel ansetzen, was allerdings dafür sorgt, dass aus der Überzahl im Zentrum eine eins-gegen-eins-Situation entsteht, was gerade in dieser heiklen Zone vermieden werden soll. Die Niederländer reagieren auf dieses Problem damit, dass sich einer drei Verteidiger frei bewegen kann. Meistens ist dies der Spieler auf der linken Halbverteidigerposition, wo mit Bruno Martins Indi jemand agiert, der bei seinem Verein auch regelmäßig als Außenverteidiger aufläuft und dem ein gelegentliches Aufrücken nicht fremd ist. Gegen Chile und in der Anfangsphase gegen Mexiko bekleidete diese Rolle mit Daley Blind ebenfalls kein nomineller Innenverteidiger.
Die Folge dieses Mechanismus ist, dass man dadurch die „richtige“ ein-Mann-Überzahl im Abwehrzentrum hat. Ein Beispiel, bei dem Martins Indi gleich zweimal herausrückt, sieht man im obigen Video. Zunächst verfolgt er seinen Gegenspieler bis weit in die gegnerische Hälfte, weshalb sich dieser nicht nach vorne drehen kann. Bei der zweiten Szene driftet der Spanier in den Zehnerraum, wodurch er einen Sechser binden würde. Martins Indi rückt aber gut mit und ermöglicht seinem Mitspieler das Attackieren des Ballführenden. Nach der Verlagerung nach Außen geht er wieder zurück und stellt eine puls-eins-Überzahl vor dem Strafraum her. Dem Ballführenden bleibt daher nur mehr ein Distanzschuss.
Gute Abstimmung erforderlich
Dieses abwechselnde und sehr situationsbedingte Herausrücken einer der Verteidiger erfordert eine sehr gute Abstimmung – vor allem innerhalb der Dreierkette und zu den Flügelverteidigern. Die beiden verbliebenen Innenverteidiger müssen etwas zur Seite schieben um die Schnittstelle nach außen zu schließen und der entsprechende Flügelverteidiger darf sich nicht aus seiner Position ziehen lassen. Genau letzteres ist aber im Spiel gegen Australien passiert und wurde sogar mit einem Tor bestraft, wie man in der nachstehenden Szene sieht.
Der rechte Flügelspieler der Australier rückt hier in den Halbraum ein – wie zuvor der Spanier. Blind folgt dieser Bewegung, was zur Folge hat, dass seine Seite vollkommen entblößt wird und Australiens Rechtsverteidiger flanken kann. Wäre nur Martins Indi auf das Zuspiel in den Halbraum herausgerückt, hätte Blind die Hereingabe wohl verhindern können. Man erkennt zu Beginn der Szene sogar, dass Martins Indi mit seinem linken Arm zuckt, vermutlich um Blind anzuweisen außen zu bleiben. So steht der linke Halbverteidiger aber im Nirgendwo und sein Team muss den Ausgleich hinnehmen.
„Rücken zum Tor“ als Trigger im Pressing
Die Niederländer praktizieren im Wesentlichen ein Mittelfeld- oder Abwehrpressing. Die drei Angreifer laufen zwar schon in der Nähe der Mittellinie an, dies hat aber meist nur den Zweck, das gegnerische Aufbauspiel in eine gewünschte Richtung zu lenken. Die meisten Ballgewinne verzeichnen die Niederländer nämlich im zweiten Drittel. Der Zeitpunkt, zu welchem der Gegner attackiert wird, wird von diesem selbst bestimmt – nämlich dann, wenn dieser mit dem Rücken zum Tor steht und sich in den vermeintlich offenen Raum dreht.
Dieser hat so nämlich sein Sichtfeld nach hinten und kann nicht nach vorne spielen, ist aber gleichzeitig auf ein etwaiges Rückwärtspressing anfällig, da er in diese Richtung seinen Körper nicht zwischen Gegenspieler und Ball bringen kann. Unter diesem Druck folgt dann entweder ein Fehlpass oder ein verlorener Zweikampf. Zwei Beispiele wollen wir uns dazu ansehen, beide aus dem Spiel gegen Australien.
In der ersten Szene sieht man, dass der linke Achter, Nigel de Jong, seinen Gegenspieler zunächst von hinten lediglich zustellt. Dieser wird angespielt, dennoch verzichtet der Niederländer darauf, ihn aktiv zu bedrängen, er lenkt ihn vielmehr nach hinten und wartet auf den richtigen Zeitpunkt. Seine Mitspieler stellen indes die anderen Gegner zu. Ein Pass in diese enge Konstellation würde mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Ballverlust bedeuten, weshalb sich der Ballführende in die Mitte dreht. Genau in diesem Moment kommt de Jong aus seinem Rücken und spitzelt den Ball in den Lauf von Sneijder.
Die zweite Szene zeigt das Tor zum 1:0, die Situation ist ähnlich zu jener davor. Wieder nimmt de Jong den Part des attackierenden Spielers ein. Die Passoptionen auf die ballnahe Seite sind wieder von den Niederländern zugestellt, weshalb der Ballführende eine Seitenverlagerung anstrebt. Aufgrund des Drucks ist dieses Zuspiel jedoch zu unpräzise und die Niederländer können einen erfolgreichen Konter fahren. Ebenfalls zu sehen ist die gute Abstimmung zwischen rechtem Halb- und Flügelverteidiger. Blind antizipiert den Pass schon früh und rückt nach vorne, Martins Indi übernimmt Blinds Gegenspieler fließend.
Mannorientierungen im zentralen Mittelfeld
Ein besonderes Merkmal im Defensivkonzept der Niederländer ist der hohe Grad an Manndeckungen im Zentrum. Man erkennt dies in Ansätzen bereits in den obigen Videos. Die Achter verfolgen ihre Gegenspieler quasi in jeder Aktion auf Schritt und Tritt. Im Spiel gegen Chile reizte man das besonders stark aus, indem selbst Sneijder, der nominelle Zehner, seinen direkten Gegenspieler in Manndeckung nahm. Dadurch war das chilenische Aufbauspiel weitestgehend lahmgelegt.
In diesem Video sieht man zwei beispielhafte Szenen dafür. Durch permanente Rochanden, die an ein Karussell erinnern, versuchen die chilenischen Zentrumsspieler ihre Gegenspieler abzuschütteln bzw. Räume zu öffnen. Besonders Marcelo Diaz, der Schlüsselspieler im Aufbau, wurde dadurch perfekt aus dem Spiel genommen. Man erkennt zwar, dass er beim Freilaufen immer wieder auch Sprints einstreute, aufgrund der direkten Manndeckungen wurden seine Mitspieler dadurch aber nicht frei. Stattdessen mussten die Chilenen zu langen Bällen greifen, was bei den körperlichen Voraussetzungen naturgemäß wenig Erfolge brachte.
Zudem passte auch die Grundordnung der Südamerikaner zur Ausrichtung der Niederländer. Die Südamerikaner spielten nämlich mit zwei Stürmern, die von den Halbverteidigern ebenfalls mannorientiert zugestellt wurden, und besetzten die Außenbahnen ebenfalls nur mit einem Spieler. Dadurch ergaben sich praktisch überall am Platz eins-gegen-eins-Situationen, die die Niederländer zwar nicht immer für sich entscheiden konnten, aber dafür sorgten, dass Chile seinen Rhythmus nicht wie geplant durchsetzen konnte.
Mexikanische Vertikalläufe als Gegenmittel
Wie eingangs erwähnt taten sich die Niederländer im Achtelfinale gegen Mexiko enorm schwer. Als Grund dafür wird landläufig der hohe läuferische Aufwand der Mittelamerikaner genannt. Dies ist allerdings nur bedingt richtig, denn auch die Chilenen bewegten sich enorm viel und rochierten permanent, wie man oben gesehen hat. Auch die Grundformation war im hohen Maße die gleiche. Es war vielmehr die strategische Ausrichtung, die den Niederländern zu schaffen machte und weniger zu deren Defensivkonzept passt.
Während Chile alle Zentrumsspieler nach vorne bringen wollte, staffelten sich die Mexikaner abwartender. Mit Carlos Salcido agierte ein Spieler auf der Sechserposition, der nicht wie Diaz für die Ballzirkulation verantwortlich war, sondern für Stabilität sorgen und Ballverlusten absichern sollte. Daneben bewegten sich auch die Achter anders. Chiles Achter wollten sich den Ball von hinten holen, während jene der Mexikaner stärker nach vorne drängten. Die manndeckenden Sechser der Niederländer konnten so keinen Druck gegen den Ball entwickeln, sondern mussten sich nach hinten orientieren.
Hier sieht man ein Beispiel dazu. Sneijder steht zunächst in einer losen Manndeckung gegen Salcido, läuft dann den Ballführenden Mexikaner an. Die beiden Sechser der Niederländer wurden nach hinten gezogen, sodass gewissermaßen eine 7-0-3-Formation entsteht mit viel Platz vor der Abwehr. Salcido bewegt sich aus dem Deckungsschatten heraus. Das Spiel nimmt nun Dynamik auf, da die Niederländer ihren freien Mann verloren haben. Der linke Sechser rückt auf den Ballführenden, sein ursprünglicher Gegenspieler wird vom linken Halbspieler übernommen. Mexiko behauptet den Ball in den direkten Zweikämpfen und hat eine gute Flankenmöglichkeit.
Ein weiterer Punkt, der den Mexikaner in diesem Spiel zugutekam ist, dass die Rollen vor dem Spiel nicht so klar verteilt waren. Spanien und Chile pflegen einen ballbesitzorientierten Stil, wollen eine Ballzirkulation in hohen Zonen, weshalb sich die Niederländer ohne weiteres auf ihre defensive Ausrichtung verlassen konnten. Mexiko ist ebenfalls ein Team, das eher aus einer tiefen Ordnung heraus agiert und weniger Räume für Konter bot. Die Dreierkette war sehr konservativ ausgerichtet und rückte auch bei eigenem Ballbesitz nicht übermäßig auf, sodass man bei Kontern nicht in Unterzahl geraten konnte.
Viertelfinale dank Umstellungen und Glück
Dass ausgerechnet van Gaal als jemand, der den niederländischen Offensivfußball entscheidend mitprägte, diese einschneidende Veränderung herbeiführte ist durchaus kurios. Er zeigt aber dennoch Flexibilität und greift immer wieder aktiv in das Spielgeschehen ein. Einerseits tut er dies mit personellen Wechseln. So war gegen Australien der eingewechselte Memphis Depay mit einem Tor und einem Assist entscheidend für die 3:2-Wende verantwortlich. Beim 2:0 gegen Chile trafen ebenfalls zwei Joker. Der Siegtreffer im Achtelfinale durch Klaas-Jan Huntelaar wurde ohnehin medial ausgeschlachtet.
Daneben gab es aber auch strategische Umstellungen. Australien bespielte die Mannorientierungen der Niederländer in der ersten Halbzeit ebenfalls gut, weshalb van Gaal wieder auf eine Viererkette in der Abwehr wechselte. Auch gegen Mexiko löste er die ursprüngliche Formation auf; zunächst zu einem 4-2-1-3 und gegen Ende hin sah man sogar 3-3-4-Staffelungen. Andererseits wurden die Niederländer aber auch nicht von günstigen Umständen verschont.
Gegen Spanien erzielte man prompt in dem Moment das vorentscheidende 3:1, als dies Iberer ihr Spiel mit einem Wechsel anpassen wollten. Übrigens ebenso nach einer Standardsituation wie das 1:0 gegen Chile und der Ausgleich gegen Mexiko. Zudem war der Elfmeter, der zum späteren 2:1 führte, umstritten. Es sind aber auch gerade diese Dinge, die es neben einer guten Basis und Anpassungsfähigkeit – was bei den Niederländern wie dargelegt vorhanden ist – braucht, um am Ende den WM-Pokal zu holen.
Alexander Semeliker, abseits.at
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