Lokalaugenschein in Niederösterreich: Mit Sturm Graz gastiert ein Champions-League-Aspirant beim potentiellen Abstiegskandidaten Wiener Neustadt. Klare Sache? Mitnichten. Vier Tore reichten aber für beide Mannschaften nicht zum Sieg.
Zuallererst werfen wir einen Blick aufs Publikum: Wie definiert man eine Vereinslegende? In Wiener Neustadt jedenfalls so: Vier Tore und ein Assist. Das genügt. Richtig – Stefan Maierhofer ist gemeint. So hört man es hier, wenn man in der Schlange vor der Presse-Kassa ansteht und man sich mit einem SCWN-Fan unterhält. In Graz definiert man eine Legende mit 451 Bundesligaspielen inklusive 145 Toren. Der größte Erfolg der Vereinsgeschichte ziert die Rückwand der Haupttribüne: Eine Cupfinalteilnahme gegen die einmal mehr zahlreich angereisten Gäste aus Graz. Die Relationen sind eben verschiedene.
Was tut sich am Spielfeld? Wiener-Neustadt-Coach Kolvidsson lässt Sturm-Schreck Rauter auf der Bank Platz nehmen, auf der Gegenseite darf in der Innenverteidigung wieder einmal Andreas Pfingstner ran, ersetzt Kapitän Madl. Sein Partner ist Kamavuaka, während Spendlhofer ausnahmsweise die Außenposition auf der rechten Seite einnimmt. Eingenommen wurde der Auswärtssektor, gut 700 Fans aus Graz sind dem Auge nach mitgereist. Es geht sportlich bergauf, die Fans begeben sich wieder zahlreicher auf Wanderschaft.
Nach elf Minuten wird es erstmals laut auf der Haupttribüne. Piesinger schießt versehentlich einem Wiener Neustädter auf den Kopf, Kamavuaka schlägt ein Luftloch und Maderner steht alleine vor Gratzei und probiert den Haken. Doch der Grazer Schlussmann bleibt lange stehen und lässt sich nicht umkurven. Vier Minuten später haben die Gäste die erste große Chance: Schick flankt auf Kienast, der köpft in die Hände von Vollnhofer. Dann geht es aber schnell. Alle Grazer sind noch vorne, während es dieses Mal Hellquist ist, der auf die Reise geschickt wird und allein auf den Grazer Tormann zuläuft, aber auch nicht für die Führung sorgen kann.
Keine fünf Minuten später gibt es wieder Tag der offenen Tür in der Hälfte der Grazer. O’Brien spielt einen hohen und weiten Ball auf den Ex-Blacky Ranftl, Klem hebt das Abseits auf und zum dritten Mal läuft damit ein Wiener Neustädter alleine auf Sturm-Goalie Gratzei zu. Wieder ist dieser zur Stelle und hält abermals, doch der Abpraller landet erneut bei Ranftl, der nur mehr einzuschieben braucht.
Es fängt genauso an…
Während sich die Möglichkeiten im Spiel in Grenzen halten, zeigen sich die Neustadt-Anhänger von ihrer schlechtesten Seite. In Gebietsliga-Manier gibt es zwar nur vereinzelte Zwischenrufe, diese dafür fallen umso schlimmer aus: Phrasen wie „Asylant“ und „Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann“ sind hier zu hören. Wie ein Journalisten-Kollege später erzählen wird, ist das nichts Unübliches hier. Genauso fängt es an, würde STS wohl an dieser Stelle singen. Nach diesen „Zwischenfällen“ haben die Gastgeber wieder Grund zu jubeln. Hadzic legt gut 30 Meter vor dem Tor einen Neustädter und Hellquist nimmt Anlauf gegen eine Sechs-Mann-Mauer. Mit einem wuchtigen Schuss überhebt er diese und Tormann Gratzei macht keine gute Figur: 2:0 in Minute 31.
Bereits nach dieser halben Stunde wird ersichtlich, dass Franco Fodas Experiment in der Verteidigung schief geht. Die Abstimmung passt überhaupt nicht, der Langzeitverletzte Pfingstner hat seine Probleme seine Nebenmänner zu dirigieren, Kamavuaka neben ihm hat bislang ebenso nur wenige Minuten in dieser Saison in den Beinen. Schon sehr früh sieht es hier nach einer Niederlage des Champions-League-Anwärters aus. Der Trainer reagiert allerdings an anderer Position, nimmt die Nummer 8 Hadzic raus und bringt Offensivmann Gruber. Bis zur Halbzeit sind es fast nur mehr die Hausherren, die Angriffe ausführen. Die Sturm-Verteidigung schwimmt im wahrsten Sinne des Wortes. Wiener Neustadt führt zur Hälfte mehr als verdient.
Wer Wind säht, wird Sturm ernten
In der Halbzeitpause gibt es Disco, dass es nur so dröhnt in den Ohren, eine Cheerleader-Choreografie und einen Stadionsprecher, der Stimme Ende nie zu haben scheint. Sturm-Coach Foda reagiert indes, nimmt den inferioren Kamavuaka raus und löst die Viererkette auf. Dafür spielt jetzt Tadic im Sturm. Aus dem Lüfterl der ersten Halbzeit entwickelt sich von der einen Sekunde auf die andere ein mächtiger Sturm. Binnen einer Minute sind es Donis Avdijaj und Simon Piesinger, die den Neustadt-Vorsprung im Alleingang egalisieren. Zuerst flankt die Nummer 13 wunderschön in den Strafraum und die Schalke-Leihgabe netzt staubtrocken ein. Keine Minute später ist es wieder Piesinger, der in Graz im Frühjahr die Sonne wieder scheinen lässt, nachdem ein Fehler im Spielaufbau der Gastgeber ihm den Ball zukommen lässt. Es lässt sich nur vermuten, was er sich gedacht hat: „Spiel ich links oder rechts? Egal. Den hau ich ins Kreuzeck“. Er gibt eine Granate aus 25 Metern ab und haut den Ball unhaltbar für Vollnhofer unters Lattenkreuz. Einfach weil er es kann. Der Auswärtssektor bebt und fordert den Auswärtssieg.
Die Abrechnung
Der Sturmanhang feiert, während hier zwei ehemalige Sturm-Spieler mit ihrem Ex-Klub abrechnen. Kainz lässt auf rechts Schick und Klem stehen, flankt auf Ranftl, der seinen zweiten Treffer erzielt. Beide lassen ihrem frenetischen Jubel vor dem Auswärtssektor freien Lauf. Und Kainz ist es, der hier noch lange nicht genug hat. Nach einem Foul an der Sechzehnergrenze nimmt er Anlauf und erzielt das zweite Freistoßtor des Abends. Gratzei ist ohne Abwehrchance. Gerade noch in Feierstimmung gewesen, wirken die Schwarz-Weißen plötzlich wieder ideenlos. Der Sturm-Trainer versucht aber noch eine letzte Chance, aufzuholen, nimmt auch Klem raus und wechselt mit Beichler einen weiteren Stürmer ein. Währenddessen ist Ranftl unter Standing Ovations ebenfalls vom Platz gegangen. Entlang der Längsseite marschieren einige Heim-Fans mit der Trommel auf und ab, im Auswärtssektor feiern die Sturm-Aficionados auch weiterhin ihre Gesänge an, denn sie haben noch lange nicht aufgegeben.
Doppelschlag zum Schluss
Aufgegeben hat sich auch die Mannschaft von Sturm noch nicht, Avdijaj erzielt nach Beichler-Assist den Anschlusstreffern, ehe in der Nachspielzeit Kienast den an der Seitenlinie leidenden Foda erlöst und den Ausgleich erzielt. Der Auswärtssektor bricht einmal mehr in Jubelstimmung aus, während man sich bei den Heim-Fans über eine vermeintliche Abseitsstellung mehr als nur ärgert. Und es wäre für beide Seiten noch ein Tor möglich gewesen, wie auch Franco Foda nach dem Spiel meint. Selbstkritisch zeigt sich seine Mannschaft in jedem Fall. Spendlhofer spricht davon, in der ersten Halbzeit, dem Sturm-Dress nicht würdig gewesen zu sein, Christian Gratzei ist nach vier Gegentoren gänzlich unzufrieden. Einig ist man sich, dass es die Moral war, die durch zwei Doppelschläge einen Punkt erzwungen hat. Auf der anderen Seite ärgert sich Helgi Kolvidsson, dass auch für sein Team vier Tore nicht zu einem Sieg gereicht haben. So ist es eben im Abstiegskampf. Zufrieden zeigte sich lediglich Reinhold Ranftl, der sich über zwei Tore sichtlich freute: „Gerade gegen den ehemaligen Verein ist es immer etwas Besonderes.“
Patrick Weißenbacher, abseits.at
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