Anekdote zum Sonntag (38) – Das falsche Gewicht
Gesellschaft & Ethik 6.September.2015 Marie Samstag 2
In seinem gleichnamigen Kurzroman beschreibt Joseph Roth die letzten Lebensmonate des Eichmeisters Anselm Eibenschütz, der nach langem Armeedienst in der k.u.k.-Provinz als pflichtbewusster Beamter Dienst versieht. Eibenschütz geht daran zugrunde, dass sich die praktische Erprobung seiner gesellschaftlichen und moralischen Werte am äußersten Rand, der sich schon in den letzten Zuckungen befindenden Monarchie, als unmöglich herausstellt. Falsche Gewichte, die er aufspürt, spielen dabei symbolisch eine zentrale Rolle.
Im selben Jahrhundert, allerdings viel später, ist ein anderer Österreicher an seinem falschen Gewicht zerbrochen. Leider handelte es sich bei dieser Geschichte weder um ein handliches Messing- oder Eisengewichtstück noch um eine fiktive Biografie: Der Fußballer Horst Nemec starb 45-jährig an den Folgen seiner Alkoholkrankheit. Schon während seiner sportlichen Karriere hatte der Austria-Stürmer mit reichlich Hüftgold, das er sich nicht nur durch deftige Hausmannskost sondern auch durch die falschen Getränke angesammelt hatte, zu kämpfen. Wie bei den meisten Suchtkranken wurzelte auch Nemec Laster auf einem psychischen Problem: Der Wiener litt an Hypochondrie und zappelte vor jedem Spiel auf und ab: „Bei größeren Matches war der so nervös!“, erzählt Kollege Walter Glechner. „Da hat er gezittert und war ein richtiges Nerverl.“
Schon am Beginn seiner Laufbahn, litt der gebürtige Rudolfsheimer an falscher Eigenwahrnehmung: Der große, schnelle Nemec war ein Löwe, der sich für einen Zimmertiger hielt, bis Mitspieler Johann Riegler ihm klar machte, dass jede Verteidigung einen Angreifer wie ihn fürchtete. Riegler redete den „Riegel“ Nemec stark und als dieser schließlich an seine Fähigkeiten glaubte, machte er Tore wie am Fließband und wurde auch ins Nationalteam einberufen. Abseits des Platzes ließen sich Nemec Selbstzweifel aber nicht so schnell beseitigen: Der Stürmer jammerte ständig über Wehwehchen und konnte mit dem Druck des Profigeschäftes nicht umgehen. Seine Kollegen, Trainer und der Mannschaftsarzt versuchten den Spieler so gut es ging zu unterstützen, doch der kannte nur ein Hilfsmittel:
Es gibt kein Kraut gegen Angst – außer man brennt es und füllt es in Flaschen. Dieses Rezept erprobte Horst Nemec zur Genüge. Eines kam zum anderen: Noch in den 60ern eröffnete er als zweites Standbein ein Espresso in der Gumpendorfer Straße und wurde sein bester Kunde: Seine Angst vor Verletzungen, vor dem eigenen Versagen und die vielen Stammgäste, die gerne mit einem bekannten Fußballer anstoßen wollten, führten dazu, dass der Spieler ordentlich becherte. Dementsprechend schnell legte er zu. Nemec war immer ein kräftiger Stoßstürmer gewesen, doch nun machte ihn sein Gewicht langsam und unbeweglich. Seine Glanzzeit bei der Austria, wo er dreimal Schützenkönig und ebenso oft Meister und Cupsieger geworden war, gehörte längst der Vergangenheit an. 1966 heuerte Nemec bei der Vienna an. Seine Karriere in der Nationalmannschaft war vorbei, trotzdem wollte er seiner Laufbahn noch ein ansprechendes Ende verpassen. Vienna-Trainer Alfred Körner glaubte an den Wiener und war fest überzeugt, ihn wieder auf Vordermann zu bringen. Bald musste Körner jedoch einsehen, dass Nemec nur mit professioneller Hilfe abspecken konnte. Er schickte ihn zu einer entschlackenden Mayr-Kur nach Niederösterreich. Der Fitnesscoach des Vienna FC pendelte jeden Tag Richtung Hohe Wand um mit Horst zwei Stunden außertourlich zu trainieren. Als Nemec nach einer Woche Harte-Semmel-Kauen jedoch ganze vier Kilo zugelegt hatte, tobte Körner: Er verlängerte den Aufenthalt des Spielers und beauftragte den Fitnesstrainer mit Spionagetätigkeiten: Beim nächsten Treffen verabschiedete sich dieser von Nemec also wie gehabt, fuhr anschließend aber nicht zurück nach Wien, sondern drückte sich in der niederösterreichischen Marktgemeinde herum. Es wurde Nacht und nichts passierte. Gegen 21 Uhr fragte der Vienna-Angestellte eine ihm begegnende Anrainerin, ob es in der Nähe eine ruhige Pension geben würde, in der er übernachten könne. Die Dame reagierte erbost: Hier gebe es seit einer Woche nur noch Krach, Gebrüll und Grillgestank: Nachtruhe adé! Der Fitnesscoach machte sich erstaunt auf den Rückweg zum Hotel und wurde kurze Zeit später Zeuge der Abendgestaltung, die der Dame und dem gesamten Ort so gegen den Strich ging. Tatsächlich wurde gegen später Stunde im Hotel lustig gefeiert und getafelt. Reichlich Alkohol machte die Runde und einige brieten sich in aller Ruhe Koteletts und Grillwürstel: Als der Fitness-Trainer Horst Nemec in der Gruppe erblickte, schritt er ein, brüllte Nemec an, was das ganze Theater solle und forderte auch die anderen Gäste auf, sich schleunigst auf ihre Zimmer zu verziehen.
Unnötig hinzuzufügen, dass das Heilfasten nicht den gewünschten Erfolg brachte: Nemec kehrte in schlimmerem Zustand nach Wien zurück, als er abgefahren war. Er fand nicht einmal ansatzweise zurück in die Spur und musste bald seine Fußballschuhe an den Nagel hängen. Ab diesem Zeitpunkt konzentrierte sich der Wiener – im wahrsten Sinne des Wortes – ganz auf sein Espresso und verlor den Kampf gegen seine Sucht.
Marie Samstag, abseits.at
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Marie Samstag
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