Die Fußballkanzlerin meinte einmal, er habe sie sehr beeindruckt. Als er ihr imponierte wusste sie noch nicht, dass sie eines Tages Bundeskanzlerin in einem... Porträt: Der König bin ich (1)

Niederlande_abseits.atDie Fußballkanzlerin meinte einmal, er habe sie sehr beeindruckt. Als er ihr imponierte wusste sie noch nicht, dass sie eines Tages Bundeskanzlerin in einem vereinigten Deutschland sein würde, er aber war unbestritten schon König, König Johan. Im Laufe seines Lebens schwärmten zahlreiche Menschen von seinen Künsten, auch Kollegen, mochte er sie am Feld noch so tölpelhaft aussehen lassen. Wie damals Jan Olsen, den Cruyff bei der WM ‘74 überspielte, als wäre er nur ein Produkt seiner Fantasie und nicht aus Fleisch und Blut. Vielleicht gehörte die 19-jährige Angela Merkel damals zu jenen Deutschen, die nicht nur den Sieg bei der Weltmeisterschaft, sondern auch den besten Turnierspieler und seinen einzigartigen Fußball beklatschten. Als amtierender Weltmeister konnte man zwar großzügig sein. Doch Johan Cruyff musste man fast gut finden.

Er war wirklich kein gewöhnlicher Mensch: Ein Spargelsultan mit einprägsamen Gesicht und einer Frisur, die diesen Namen nicht verdient. Ein Spielmacher, der alles von Anfang an zu können schien. Nicht nur König, sondern auch Wunderkind mit Storchenbeinen. Ein Genie, das wusste woran es zu arbeiten galt und das hohe Ansprüche an den Fußball hatte. Attraktiv und gut – nie attraktiv oder gut. Ein halber, vielleicht sogar ein ganzer Fußballgott war Johan Cruyff schon zu Lebzeiten. Trotzdem trat ein sichtlich gealterter Herr im Herbst vor die Kameras und sprach über seine Lungenkrebsdiagnose. Er habe den Kampf angenommen, sagte er. Aggressiv und zielstrebig, so wie er Fußball spielte und spielen ließ, stellte er sich jetzt den bösartigen Zellen entgegen. Doch man konnte Cruyff schon damals ansehen, dass er erschöpft war. Bereits nach einem Monat Behandlung hatte er viel Substanz verloren. „Fußball ist mein Leben“, sagte er an diesem Nachmittag den spanischen Journalisten und das stimmte bis zum 24. März 2016. Jetzt ist sein Leben Teil des Fußballs.

Hase gegen Igel: Sorry, Johan!

Er hat es ja probiert. Doch schon nach wenigen Sekunden, weiß er, dass es so nicht klappen wird. Bereits kurz nach dem Anpfiff, beim ersten Angriff der Niederländer kann er nicht verhindern, dass er, der König, mit dem Ball auf und davon ist und nur mehr per Foul gestoppt werden kann. Da läuft er zur Seitenlinie und ruft: „Herr Schön, ich mach das jetzt wie ich will!“ Und er macht, wie er will. Berti Vogts, der Terrier, schaltet um: Von der Manndeckung fortan auf die Raumdeckung. Statt Handschellen, nun elektronische Fußfesseln für das holländische Herz. Die Maßnahme greift. Vogts hat Cruyff seine Handlungsfreiheit genommen und schirmt ihn vom Ball ab. Der Spielmacher kann das Spiel nicht lenken, in keine freien Räume laufen oder selbst dorthin passen. Und so kommt es, dass das Spiel der Oranje immer mehr einschläft. Die Deutschen spielen schlau: Ein geschickter Faller von Hölzenbein im Strafraum führt zum Ausgleich. Noch vor der Halbzeit erzielt Gerd Müller mit seinem letzten Tor für die Nationalmannschaft den Siegestreffer. Cruyff ist verärgert. „Sehen Sie, das war Vogts!“, ruft er und entblößt in der Halbzeit Schiedsrichter Taylor seine Beine: „Pfeifen Sie besser!“. Taylor reagiert prompt und zeigt Cruyff gelb. In der zweiten Hälfte reißt die Elftal das Spiel zwar mehr an sich, scheitert aber an einem glänzenden Maier. Johan Cruyff ist am Ende und wird laut. Er beschimpft seinen Wadenbeißer. Seine Verbalergüsse prallen am gebürtigen Westfalen aber einfach ab. „Dat is zwaar klote!“, quittiert Vogts mit „Halt die Klappe, Johan!“.

Dummheit, Leichtsinn, zu wenig Härte und Durchsetzungskraft, der Wille zum Sieg hat gefehlt – jeder findet eine andere Ursache für die Finalniederlage der besten Turniermannschaft. Natürlich muss auch Johan Cruyff einiges einstecken. Auf der medialen Seenlandschaft drehen genügend Enten die Runde: Da liest man einerseits von wilden Champagnerpartys mit Gespielinnen im Teamhotel, dann wieder soll ein sorgenfaltiger Superstar ständig die Telefondrähte glühen haben lassen um seine krisengeschüttelte Ehe zu retten.

Die niedergeschlagenen Verlierer müssen sich auch Arroganz vorwerfen lassen. Kaum jemand kommt auf die Idee Vogts Leistung hervorzuheben: Der kleine Verteidiger machte an diesem 7. Juli das Spiel seines Lebens. Fußball ist eben mehr als ein hingetupfter Freistoß, Uhrwerk-Passspiel oder antrittsschnelles Dribbling. Hin und wieder muss ein dreckiger Sieg her und eben auch ein Verteidiger, der den Kettenhund mimt. Besonders bei einem Großturnier gewinnt meist nicht die stärkste, sondern die variabelste Mannschaft: Survival of the fittest.

Beckenbauer gegen Cruyff: An diesem Tag spielte Vogts den Platzhalter für seinen Chef. Die Welt kennt viele solcher Duelle: Salieri gegen Mozart, Kennedy gegen Chruschtschow, Hase gegen Igel. Wenn Sie‘s weniger pathetisch mögen, findet man auch im Sport Beispiele: Ullrich gegen Armstrong, Lauda gegen Hunt, Messi gegen Ronaldo. Beckenbauer, der Kaiser, hat eine einfache Antwort gefunden: „Johan war der bessere Spieler, aber ich bin Weltmeister.“

Mit dieser Finalniederlage muss Cruyff leben. Schulterzuckend gab er auch Jahre später zu, dass sich die Holländer ihr Grab selbst schaufelten: Auch wenn wir das Finale nicht gewinnen sollten, sind wir nach diesen sechs Spielen die wahren Sieger, ist der Tenor nach der eindrucksvollen Gruppenphase und der Demütigung Brasiliens. Die Elftal besteht großteils aus den Spielern von Ajax und Feyenoord, den Europapokalsiegern der Jahre ’70 bis ’73. Cruyff spielt vorne wo er möchte, nominell aber in der Mitte. Rep auf rechts, Rensenbrink auf links: Das Clockwork Orange gibt sich trotz aller Mechanik kreativ und kämpferisch. Aber trotz 31 Flanken und 18 Torschüssen auf dem Spielbericht, bleibt es nach 90 Minuten bei der Niederlage. Es dauert bis Cruyff und seine Kameraden die Situation begreifen. Für den Superstar selbst ist der Turnierauftritt im Alter von 27 Jahren Première und Dernière zu gleich. Schwarzwolkig überzieht die Niederlage das kleine Fußballland und Cruyffs Fingerabdrücke am Goldhumpen verblassen mit der Zeit. 1978 lehnt er es ab bei der WM-Endrunde in Argentinien zu spielen. Ernst Happel muss auf seinen ohnehin schon zurückgetretenen Star verzichten. Lange spekuliert man über die Beweggründe des Spielmachers, bis er 2008 den Spekulationen ein Ende macht und gesteht, dass seiner Familie damals mit Entführung gedroht wurde: „Man hielt mir ein Gewehr an den Kopf, meine Frau war gefesselt, unsere Kinder mussten das alles miterleben.“

Das Talent des Johan Cruyff steht in keiner Relation zu seiner Nationalmannschaftskarriere und das ist auch ein bisschen seine Schuld: Anfang 1966 feiert er sein Debüt, spielt sein zweites Spiel allerdings erst fast ein Jahr später. Darüber hinaus muss er wegen einer Ohrfeige am Schiedsrichter frühzeitig duschen gehen. Der KNVB sperrt daraufhin den Aufmüpfigen empfindlich lange. In Vorbereitung auf die WM 1970 fährt Johan mit Ehefrau Danny lieber nach Italien um Schuhe en gros für deren Schuhgeschäft zu besorgen, anstatt pünktlich ins Trainingslager einzurücken. Als er drei Tage später zum Team stößt, wirft in Coach Kessler kurzerhand aus der Mannschaft. Die Nationalmannschaft und Cruyff – das war keine Liebesbeziehung.

 „Erlaube dem Ball dein Freund zu sein!“

Betondorp ist eine gezirkelte Siedlung, in der sich Reihenhaus an Reihenhaus anschließt und viel Grün vom namensgebenden Beton ablenkt. Das soziale Bauexperiment der Stadt Amsterdam hat keine Lower Eastside oder ein stinkendes Hafenghetto hervorgebracht, vielmehr bezogen Beamte und Facharbeiter die kleinen, sauberen Wohnungen. Auf den Straßen spielten die Kinder ohne Angst zu haben und ohne sich zu verlaufen, denn das Straßennetz ist – wie ein Cruyff Diagonalpass – mit dem Lineal gezogen. Betondorp ist die andere Möglichkeit einer vermeintlich heilen holländischen Welt abseits von käserollenden Vermeer-Figuren, die vor saftigen Wiesen mit Windmühlen mit ihren Holzschlapfen klappern. Die Cruyffs – eigentlich Cruijffs – sind Kaufleute: Johans Opa bringt Erdäpfeln in Cruijffs Aardappelhandel an den Mann. Vater Manus erweitert das Geschäft auf Gemüse aller Art, seine Frau Nell hilft mit. Gemeinsam mit ihrem Sohn Henny wohnen sie in unmittelbarer Nähe ihres Kleinbetriebes. Am 25. April 1947 wird Manus und Nells zweiter Sohn Hendrik Johannes, genannt „Johan“, geboren und sogleich nach Betondorp gebracht. Wenige hundert Meter Luftlinie befinden sich zwischen dem Ajax-Stadion De Meer und Johans Kinderzimmer in der Akkerstraat 32. Seine Zukunft scheint von Anfang an vorbestimmt zu sein. „Jeder kann Fußballspielen.“, weiß Johan und so fängt er als Kleinkind an in den Straßen und auf der Wiese in Betondorp zu kicken. Verträumt treibt er sich nachmittags am Trainingsgelände herum und schaut den Spielern über die Schulter. Seine Schullaufbahn beginnt er ohne großes Interesse in einer protestantischen Privatschule.

Die frühe Kindheit ist eine unbeschwerte Zeit im Leben des späteren Spielmachers: Vater Manus hat Verständnis für das Hobby seiner Söhne. Johan wird schon zu Beginn eine große Begabung attestiert, der Vater ist stolz, nimmt die Sache aber noch nicht so ernst. Schließlich ist Johan erst fünf Jahre alt. Als sich Manus Cruijff mit seinen Buben in Fußballmontur vor einer typischen Backsteinmauer fotografieren lässt, ahnt niemand, dass er den Aufstieg seines Benjamins nicht im Entferntesten erleben wird. Der zehnjährige Johan ist der jüngste Spieler im Ajax-Nachwuchs, zwar klein, schmächtig aber glücklich. Dann die Katastrophe: 1959 stirbt Manus Cruijff plötzlich. Ajax-Platzwart Henk wird zum Ersatzvater für Johan: Gemeinsam putzen sie die Schuhe der Profis, mähen den Rasen und setzen die Eckfahnen. Manchmal unterhalten sie sich, manchmal nicht. Der Verlust des Vaters ist hart, doch Johan zerbricht nicht daran, sondern stürzt sich noch mehr in den Fußball. Seine Mutter kann das Gemüsegeschäft nicht alleine führen und arbeitet ab sofort in der Ajax-Kantine. Ein Grund mehr für den Sohn noch mehr Zeit am Trainingsgelände zu verbringen. Die Schule, die er nie für voll genommen hat, leidet darunter und so bricht er sie schließlich ab. Englisch lernt er lieber bei seinem Trainer Vic Buckingham. Seinen eigenen Sohn wird Cruyff später für schlechte Noten mit bis zu vier Wochen Trainingsverbot bestrafen.

Das sorglose Leben endet für Johan mit dem Tod seines geliebten Vaters. Bruder Henny kickt gemeinsam mit ihm bei Ajax, sie spielen einige Zeit sogar in einem Jahrgang und werden zusammen Jugendmeister. Gegen den Kleineren zieht Henny aber meist den Kürzeren. Das frustriert und später ist das Verhältnis zwischen dem Star und seinem Bruder mehr als angespannt. Irgendwann behauptet Henny sogar Johans Schiegervater sei ein SS-Kollaborateur gewesen: Johan und Danny Cruyff schalten ihren Anwalt ein. Der ältere Cruijff geistert immer wieder in den niederländischen Medien herum, wenn er öffentlich Brösel mit seiner Tochter Estelle, der Ex-Frau von Ruud Gullit, austrägt. Tja, jeder kann Fußballspielen, aber nur wenige so wie Johan Cruyff.

One-Touch-Pythagoras

Johans Talent wird bei Ajax schnell gefördert. Seine Anlagen sind überragend, doch er leidet unter seiner schmächtigen Statur. Als 15-Jähriger schafft er es noch nicht einen Eckball gefährlich in den Strafraum zu spielen. Coach Buckingham hat Vertrauen und schickt den Buben in die Kraftkammer. Danach verstummen auch die letzten Zweifler. Körperlichkeit ist nicht alles, aber ohne Körperlichkeit ist alles nichts. Sein Leben lang wird der Experte Cruyff eine Lanze für kleine, zarte Spieler brechen: Man braucht unterschiedliche Typen. Kleine Körpergröße muss durch geistige Schnelligkeit und Antizipation weggemacht werden, pflegt er zu sagen. Da ist es kein Zufall, dass er Yann Sommer oder Cannavaro besonders schätzt, ganz zu schweigen von seinen Nachfolgern Iniesta, Messi oder Xavi. Er ist schon als Juniorenspieler unverwechselbar: Ein holländisches Genie mit einzigartiger Identität. Seine Angriffslust stellt er als 17-jähriger in seinem ersten Profispiel unter Beweise, als er sogleich ein Tor erzielt. Bereits als 14-Jähriger ist seine Technik derart ausgereift, dass er Fußballspiele von nun an  wie ein Mathematiker betrachtet. Bei all seinem Geschick und seiner Übersicht, bleibt Intelligenz seine wichtigste Waffe. Auf dem Gebiet habe er mehr mitbekommen als andere Spieler, rechtfertigt er seine taktische Begabung. Eine Kombination aus Durchblick, Vertrauen und Mut braucht ein Fußballer, erklärt Cruyff.  Das unterscheidet ihn von vielen ähnlichen Spielertypen.

Bei Ajax befindet er sich in der richtigen Umgebung, mit den richtigen Helfern um aufzublühen: Um es wieder mit der Geschichte zu sagen: Was wären The Beatles ohne Brian Epstein, Wolfgang ohne Leopold Mozart, Albert Einstein ohne Felix Klein (und Marilyn Monroe). Im Jänner 1965 lernt Johann Cruyff seinen Pygmalion kennen: Rinus Michels. Der taktische Revolutionär ist einer der ersten der beim niederländischen Verband die Trainerausbildung absolviert hat, nachdem er schon mit 30 Jahren seine aktive Karriere als Stürmer beenden musste. Doch nicht nur Taktik und Analyse gehören zu Michels Steckenpferden. Er beharrt auf einer harten körperlichen Vorbereitung. Da murrt der König zwar, weiß jedoch: „Es gibt niemanden, der mir mehr beigebracht hat als Rinus Michels. Ich habe oft versucht, so zu sein wie er und das ist wohl das größte Kompliment, das man jemandem machen kann.“ Michels Philosophie wurde die seine: Der Ball ist das Epizentrum des Fußballs.

Anfang der 70er stellt Michels auf ein 4-3-3 um, das sich durch Vorrücken des ballführenden Liberos in ein 3-4-3 verwandelt. Er will Angriffsfußball sehen, aber nicht verspielt, sondern zielstrebig: Präzise Ballannahme, schnelle Positionswechsel. Diese Spielweise kommt Cruyff entgegen und wird zu seinem Mantra. „Der Ball wird nie müde.“, pflegt er zu sagen und verlangt, was heute gang und gäbe ist: Der Ball soll nicht auf den Fuß, sondern in den Laufweg gespielt werden. Passübungen werden so zum wichtigsten Teil des Trainings, auch weil Michels Zirkulationsfußball predigt: Den Ball solange spielen, bis sich die Möglichkeit zum Angriff bietet. Da muss auch der Tormann mitmachen. Totaal Voetbal heißt das.

Was damals revolutionär war, ist heute selbstverständlich: Pressing in der gegnerischen Hälfte, Außenverteidiger, die das Spiel machen, Manuel Neuer, schnelles Umschaltspiel – nichts ist uns Nachgeborenen bekannter. Damals findet der Theoretiker Michels im Praktiker Cruyff den optimalen Strategen für sein Spiel: Denn Cruyff kann alles. Er ist schnell, technisch brillant, mit perfektem Überblick. Seine Antrittsschnelligkeit ist die eines Sprinters, seine Körpertäuschung, bis heute unübertroffen und er ist der Lenker und Denker des Spieles. Anders als Lionel Messi, der vielfach mit ihm verglichen wird, ist Cruyff der unumstrittene Chef am Platz. Derjenige, der nicht auf den Ball wartet, sondern ihn fordert und Impulse setzt. Für David Miller ist Cruyff der erste Spieler, der auch seine Mitspieler um Längen besser macht. „Die augenscheinlich einfachste Lösung scheint in der Praxis die schwierigste zu sein. Der kürzeste Weg zum Tor bleibt der sicherste.“, umschreibt der Star selbst seine Philosophie. Europas Jahrhundertfußballer war alles nur nicht kompromissbereit. So handelte er auch nach seiner Diagnose: „Ich habe das Gefühl, dass ich 2:0 in der ersten Halbzeit eines Spiels führe, das noch nicht zu Ende ist. Aber ich bin mir sicher, dass ich am Ende gewinnen werde.“

Im nächsten Teil betrachten wir seine Vereinskarriere als Spieler und Trainer.

Marie Samstag, abseits.at

Marie Samstag

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