Kommentar: Nur aus einem Grund verwundert
EURO 2016 23.Juni.2016 Stefan Karger 0
Die Enttäuschung ist groß. Das österreichische Nationalteam zeigte bei der Europameisterschaft in Frankreich ein völlig anderes Gesicht als noch während der Qualifikation und tritt verdientermaßen die Heimreise an. Über das Ausscheiden muss man sich nicht extrem wundern, denn bei nur drei Spielen kann viel passieren, wie wir dann auch leider eindrucksvoll gesehen haben. Gewundert habe ich mich eher über etwas anderes.
Was gestern in der ersten Halbzeit schieflief analysierte bereits Alexander Semeliker in dieser sehr lesenswerten Analyse. Zusammengefasst: Im 3-4-3-System wurden die Halbräume nicht besetzt und die isländische Formation ließ sich nicht auseinanderziehen, da sie erkannte, dass von den isolierten Flügelspielern wenig zu befürchten war. Ein Verschieben zum Ball reichte aus, um mit wenig Aufwand sicherzustellen, dass die Österreicher nicht in gefährliche Zonen kamen. Dies änderte sich in der zweiten Halbzeit, als man mit der von vielen erwarteten Aufstellung und dem gewohnten 4-2-3-1-System plötzlich viel dynamischer wirkte und mittels der einstudierten Abläufe den Gegner zumindest phasenweise vor große Schwierigkeiten stellte.
Wie Alex Semeliker anmerkte hätte das 3-4-3-System durchaus zum Erfolg führen können, jedoch nicht in dieser personellen Besetzung. Ich zitiere: „Viele Spieler waren auf den eingesetzten Positionen schlicht nicht in Lage, die dafür nötigen Aufgaben auszufüllen. Über einen Halbverteidiger, der nicht in der Lage ist, die gegnerische Formation anzudribbeln, und jemanden als Stürmer, der am besten dann zur Geltung kommt, wenn er das Spiel vor sich hat…“
Dass unser Team schon nach der Gruppenphase heimfahren muss hat viele Gründe. Bis auf drei, vier Spieler agierten die meisten Akteure unter ihrer Normalform und schienen dem Druck und vielleicht auch der hohen Erwartungshaltung nach der makellosen EM-Qualifikation nicht gewachsen zu sein. Dazu erwies sich die Verletzung von Zlatko Junuzovic als ein schwerwiegender Faktor. Die Mannschaft trat ganz anders auf als noch vor einigen Monaten. Das Offensivpressing und das Gegenpressing waren nicht vorhanden oder wurden nur unsauber ausgeführt, der Spielaufbau erschreckend hektisch und speziell im Ungarn-Spiel betrieb der Gegner einen weit höheren Aufwand.
Nach unserem ersten Gruppenspiel machte ich mich auf die Suche nach Kommentaren in den ungarischen Medien und stieß auf einen interessanten Artikel des Journalisten Albert Gazda. Seine These lautet, dass bis auf Deutschland und Spanien, die den europäischen Fußball in den letzten Jahren dominierten, sehr viele Teams ein ähnliches Niveau aufweisen. Viele Nationalmannschaften kleinerer Länder verbesserten sich stark, sodass diese Teams nun auch zu den sogenannten „Mittelklasse-Mannschaften“ zählen. Zu dieser Gruppe gehören alle Nationen, die bei der EM dabei waren, sowie einige weitere Länder, die sich nicht qualifizieren konnten, wie beispielsweise die Niederlande, Dänemark, Serbien, Bulgarien und Bosnien. In fast all diesen Ländern spielen zumindest die Leistungsträger in Top-Ligen, was das Niveau stark zusammenrücken lässt. Eine Entwicklung, die angesichts der zunehmenden Globalisierung schon vor einiger Zeit ihren Lauf nahm, nun aber bei dieser Europameisterschaft angesichts der knappen Resultate so richtig spürbar ist. Natürlich gibt es auch innerhalb dieser 30-40 “Mittelklasse-Mannschaften“ Niveauunterschiede, doch diese sind eben viel geringer als in der Vergangenheit. Gazda beendet den Artikel mit diesem einprägsamen Satz: „Und auf einmal ist es leicht und schwer – leicht ist es, weil keiner mehr unschlagbar ist, schwer ist es, weil weniger als 100 Prozent gegen niemanden mehr reichen.“ Diesen Satz sollten die Medien, Fans und die Spieler verinnerlichen!
All das ist jedoch nicht wirklich überraschend. Man wird es Spielern wie Alaba zugestehen müssen, dass sie in ein Formtief fallen können. Leistungsträger können sich verletzen, Spieler können bei ihrem ersten EM-Auftritt hektisch agieren. Es kann so gut wie alles schiefgehen.
Dennoch war ich gestern so richtig überrascht – nämlich um 17 Uhr, als ich die Aufstellung sah. Koller ist dafür bekannt, dass er so lange es möglich ist an seinem Spielerstamm festhält, was man auch an seinem EM-Kader sehen konnte. Um einen der arrivierten Spieler zu verdrängen muss man schon enorme Argumente abliefern – so wie es beispielsweise Alessandro Schöpf tat. Weniger bringt nichts! Für Spieler wie Florian Kainz, Karim Onisiwo, Florian Grillitsch war die Tür (noch) geschlossen, wobei sie gute Argumente im Koffer nach Frankreich mitgebracht hätten. Das gleiche gilt für Kollers System. Klar, im Vorfeld der Europameisterschaft wurde die Dreier-Abwehrkette gegen den Schweizer Sechstligisten Schulein ausprobiert. Dragovic, Prödl, Hinteregger starteten im Abwehrzentrum, wobei jedoch in der ersten Halbzeit Garics und Suttner auf den Flügeln spielten. Als Fuchs und Klein nach der Pause für die beiden in die Partie kamen, musste jedoch auch Prödl für Wimmer weichen. Auch ansonsten befanden sich in der Startaufstellung mit Harnik, Hinterseer, Schöpf und Okotie Spieler am Platz, die gegen Island nicht zum Zug kamen.
Dass Koller also gerade im wichtigsten Spiel seiner Karriere als Trainer der österreichischen Nationalmannschaft nicht nur personell, sondern auch systemtechnisch experimentiert, war nur schwer vorauszusehen und extrem überraschend. Wäre diese Variante aufgegangen, dann hätte er sich zurecht als Genie feiern lassen dürfen. So wird unser Teamchef einiges an Kritik von Fans und Medien aushalten müssen.
Wichtig ist es jetzt jedoch den eingeschlagenen Weg ja nicht über den Haufen zu werfen. Auch wenn die Formkurve nach der erfolgreichen Qualifikation nach unten zeigt, darf man Kollers Verdienste nicht vergessen. Das Nationalteam entwickelte eine eigene Handschrift, die zwar bei der Europameisterschaft nicht zu sehen war, aber sicherlich wieder gefunden werden kann. Und Koller ist der richtige Mann dafür, seinen Schützlingen wieder den Weg dorthin zu zeigen.
Nicht nur der Mannschaft, sondern auch Marcel Koller muss man einen Lernprozess zugestehen. Auch hier zitiere ich einen Kollegen, denn Francois Plaiasu stellte richtig fest:
„Trotz dieses harten Aufpralls auf den Boden der Tatsachen gibt es Grund zur Hoffnung. Vor über zwei Jahren scheiterte man denkbar knapp in der WM-Qualifikation, weil man gefühlt dieselben Fehler wie in den vergangenen Tagen gemacht hat. Bei der darauffolgenden Qualifikation haben Marcel Koller und die Mannschaft aber daraus gelernt. Diese EURO wird man in Zukunft ebenfalls als wertvolle Lehrstunde bezeichnen können, mit der Gewissheit, dass Qualifikation und Turnier zwei unterschiedliche Paar Schuhe sind und wir nicht in einem Atemzug mit den Top-Nationen genannt gehören.“
Stefan Karger, abseits.at
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