Im Namen der Republik: Nachbetrachtung der Entscheidung zum Wiener Polizeikessel
Gesellschaft & Ethik 12.August.2019 Marie Samstag
Unsere Justiz ist ein hohes Gut. Der zivilisierte Mensch hat der Blutrache abgeschworen und ein System geschaffen, in dem nicht mehr der Stärkere sondern derjenige, der Recht hat, gewinnen soll. Vor einem Richter absolute Wahrheit zu generieren ist jedoch schon aus naturwissenschaftlicher Sicht unmöglich. Oder um es mit Sigmund Freud zu sagen: „Es gibt ebenso wenig eine hundertprozentige Wahrheit wie hundertprozentigen Alkohol!“ Unwiderlegbar können auch Presse und Berichterstattung niemals sein. Wenn man Recht und Journalismus jedoch auf einen gemeinsamen Nenner bringen will, dann kann man es nur so, im Idealfall sollten beide „the best obtainable version of the truth“ – wie Watergate-Aufdecker Carl Bernstein meinte – darstellen.
Was liegt, das pickt!
Damit wir uns nicht falsch verstehen, die (fast) gleichlautenden Erkenntnisse, mit denen über den Polizeikessel vom 16. Dezember 2018 abgesprochen wurde, sind – wenn materiell rechtskräftig – im juristischen Sinne endgültig. Diese Wirkung wird hier nicht in Frage gestellt. Worüber allerdings noch nicht diskutiert wurde, sind Umstände, die niemals Teil des in der Entscheidung behandelten Sachverhaltes waren. Hierbei stellt sich vor allem die Frage, warum es überhaupt zu dieser Polizeiaktion gekommen ist, zu Amtshandlungen, die im Namen der Republik geschehen sind. Davon soll dieser Artikel handeln, aber zunächst zur Vorgeschichte:
Vor dem 328. Wiener Derby wurden Rapid-Fans von der Polizei in widrigem Gelände eingekesselt, stundenlang festgehalten und anschließend weggewiesen. Am 12. Juli 2019 wurde den Maßnahmenbeschwerden von 28 Betroffenen, vertreten durch Anwälte der Rechtshilfe Rapid, gegen diesen Polizeieinsatz in den meisten Punkten stattgegeben. Das Verwaltungsgericht Wien wertete die Identitätsfeststellungen zwar als rechtmäßig, die Anhaltungen von 20:30 Uhr bis 21:30 Uhr wurden aber als unverhältnismäßig und damit – ebenso wie die Wegweisungen – als rechtswidrig eingestuft.
Ein Rapid-Fan, der als Zeuge geladen und an jedem Verhandlungstag anwesend war, ist Helmut Mitter. Mitter ist ein vielbeschäftigter Mann: Er ist Unternehmer, Familienvater, aktiver Fußballfan und engagiert sich bei der Rechtshilfe Rapid. Wenn man ihn an einem schwülen Sommertag trifft, sprudelt es über eine Halbzeit plus Nachspielzeit aus ihm heraus, sodass man sich am Ende fragt, wann er eigentlich Zeit gehabt hat seinen Cappuccino zu trinken. Der Oberösterreicher legt die Karten schnell auf den Tisch: Der Prozess sei in seinen Augen verwässert worden. Mitter kritisiert vor allem die Verhandlungsführung des Richters, die Geschehnisse abseits der Einkesselung in den Vordergrund gerückt haben soll.
Tatsächlich stellt der Verwaltungsrichter nicht zufällig „Begleitumstände“ fest, die wohl die prinzipielle Rechtmäßigkeit der Einkesselung rechtfertigen: Die Ausschreitungen bei vorangegangen Derbys, die Ligareform, der exzessive Gebrauch von Pyrotechnik bereits vor dem Abmarsch, das Werfen mit Gegenständen und Schneebällen auf Beamte und Unbeteiligte, Drohgebärden und signalisierte Kampfbereitschaft, ja, sogar das „Urinieren zahlreicher männlicher Teilnehmer an Hausmauern“ ist in die Entscheidungsgründe aufgenommen worden.
Obwohl viele Beteiligte für diese Feststellungen und ihre spätere Gewichtung bei der Beurteilung der Maßnahmen kein Verständnis haben werden, müssen sie akzeptieren, dass von einem Richter, der über die Einhaltung des Gesetzes wacht, nicht verlangt werden darf, dass er sein Urteil an das Recht- und Ehrempfinden der jeweiligen sozialen Gruppe anpasst. Die soziologische Bedeutung von Pyrotechnik, Sprachritualen (wie A.C.A.B.) und sogar manifester Gewalt sind für die Judikative nur nebensächlich. Der Hebel diesbezüglich muss in der Gesetzgebung angesetzt werden.
Ein Kessel Grün-Weißes
Mitter selbst, der ab dem Sammelpunkt in Hütteldorf mit von der Partie war, nahm eine andere Dynamik der Geschehnisse war: Von Straftaten, die die späteren Amtshandlungen gerechtfertigt hätten, habe er nichts mitbekommen. Szenekundige Beamte seien – wie sonst üblich – jedenfalls nicht eingeschritten. Mitter ging zunächst im Fanzug mit, entfernte sich aber nach der Überquerung der Laaerbergbrücke. Er spürte, dass etwas im Anrollen war: „Die bauen da Scherengitter auf, was machen sie denn da?“, sagte er noch zu einem Freund, bevor er vorausging. Er hatte Glück, blieb aber trotzdem vor Ort. Mitter umkreiste den Kessel und sammelte Aussagen der Fans. Er und andere Aktivisten der Rechtshilfe Rapid twitterten. Ein solcher Tweet, abgesendet um 18:31 Uhr, war eine Aufforderung an die beteiligten Vereine und den Samariterbund den Eingekesselten Tee zu bringen. Von Versorgung war demnach lange nicht die Rede, will Helmut Mitter von sämtlichen Fans, die betroffen waren, gehört haben. Das Verwaltungsgericht Wien hielt dazu unbestimmt fest, dass der Sanitätstrupp der Polizei Mineralwasser ausgeteilt habe sowie, dass die Feuerwehr und der SK Rapid heiße Getränke angefordert und gebracht haben. Mitters weitere Anschuldigungen sind hart: Als einige der Anwesenden nicht mehr in der Lage gewesen waren auszuharren, hätten die Beamten vielfach weggeschaut. Mitter selbst sei beschimpft worden, weil er sich einmischte.
Im Erkenntnis wird die Rechtmäßigkeit der Maßnahme durch die Feststellung, dass „vorwiegend Schneebälle, aber auch […] wenigstens eine Bierdose“ und ein pyrotechnischer Gegenstand während der Überquerung der Laaerbergbrücke auf die Fahrbahn der Südosttangente geworfen worden seien, begründet. Daraufhin habe die Polizei nach § 118 Strafprozessordnung Identitätsfeststellungen vorgenommen. Diese sind nach zitiertem Paragrafen zulässig, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen angenommen werden kann, dass eine Person an einer Straftat beteiligt ist, über die Umstände der Begehung Auskunft geben kann oder Spuren hinterlassen hat, die der Aufklärung dienen könnten. Bezüglich der Würfe wertete der Richter die Einschätzung der Behörde, es handle sich um Gemeingefährdung und somit um eine Straftat, als vertretbar. Die Identitätsfeststellungen seien daher rechtmäßig gewesen, nur in Bezug auf die Dauer der Anhaltung wurde den Beschwerden stattgegeben und die letzte Stunde als unverhältnismäßig eingestuft. Dabei urteilte das Verwaltungsgericht, die belangte Behörde habe jedenfalls davon ausgehen können, dass sämtliche Beschwerdeführer sowieso „sieben Stunden […] im Freien eingeplant“ hätten. Zwar räumt das Gericht ein, „die äußeren Bedingungen [wären] im Stadion freilich angenehmer gewesen“, das mache hierbei aber keinen wesentlichen Unterschied, denn „auch in diesem Fall hätten die Fans gleich lange unter den gleichen Temperaturbedingungen stehen müssen.“. Den Fans wird zum Vorwurf gemacht, sie hätten den Durchfluss von Informationen verhindert, einen Ausgang blockiert und Schwächere nicht vorgelassen. Die Wegweisungen wurden vom Gericht jedenfalls allesamt als rechtswidrig bewertet, unter anderem weil die drohende Gefahr einer weiterführenden Gemeingefährdung nicht bestanden hätte.
Mitter selbst will kooperatives und deeskalierendes Verhalten der Eingekesselten erlebt haben. Er selbst, Vereinsvertreter und szenekundige Beamte seien eingeschritten und hätten die ursprüngliche Idee der Polizei, sämtliche Personen einzeln aus dem Kessel zur Identitätsfeststellung abzuführen, verhindert und einen anderen Modus gefordert. Die Beschwerdeführer versuchten im Prozess zu beweisen, dass zumindest die Möglichkeit, die Amtshandlung an einem anderen Ort durchzuführen, bestanden hätte. Mitter stößt sich diesbezüglich an der Qualifikation der äußeren Bedingungen: Die Temperatur und der schlammig-nasse Untergrund seien nicht ausreichend gewürdigt worden: „Es war eine Gatschwiese. Nasse Füße – jeder weiß, was das für einen Körper bedeutet.“, schnauft er.
Regelmäßig werden richterliche Entscheidungen (auch) mit Aussagen von Polizisten begründet. Auch hier stützte das Verwaltungsgericht seine Feststellungen größtenteils auf die – so die übliche Formulierung – „um Wahrheitsfindung bemühte[n] Beamte[n]“. Werner Zinkl, der damalige Präsident der Österreichischen Richtervereinigung, erklärte 2009 im Gespräch mit derStandard.at: „Die Polizei hat keinen Grund zu lügen. Sie gehen nicht leichtfertig mit Aussagen um. Schließlich wollen sie nicht ihren Job riskieren.“ Dieses Bild machte sich offensichtlich auch der Richter des Verwaltungsgerichts. Die Fans dagegen hätten die Vorfälle im Corteo meist heruntergespielt. Ausdrücklich wurde festgehalten, dass ein bekannter Angestellter des SK Rapid „in geradezu auffälliger Weise“ „immer gerade dort, wo es für die Fans nachteilig gedeutet werden konnte“ keine Wahrnehmung gemacht habe.
Weiters stützte der Richter seine Beweiswürdigung zu den geworfenen Bierdosen auf die Aussagen zweier Polizisten und den Fund der corpora delicti auf der Fahrbahn. Wer das Umweltbewusstsein vieler Verkehrsteilnehmer kennt, der wird sich nicht wundern: Es wird wohl wenige Autobahnen geben, an denen man keine zerdrückten Blechwimmerln finden kann. Zur angeblich geworfenen Fackel hielt der Richter kryptisch fest, dass der Wurf eines pyrotechnischen Gegenstandes „weniger gewiss aber durchaus wahrscheinlich“ sei. Helmut Mitter wird als Zeuge zitiert, da dieser von einem szenekundigen Beamten von diesem „Gerücht“ gehört haben will, auch ein Gruppeninspektor habe „immerhin“ angeben können, die Fackel sei in Richtung der Exekutivbeamten geschmissen worden. Das ist dann doch recht dünn. Mitter schüttelt den Kopf: Naturgemäß seien die Beschwerdeführer bei der Beweisaufnahme im Nachteil gewesen. Die vorgezeigten Videos habe schließlich die Behörde vorlegen müssen. Geschnitten. Weiters habe die Polizei angegeben, dass Funkprotokolle „aus Kapazitätsgründen“ gelöscht worden seien.
Moralbrust oder -keule?
Trotz aller Wut werden Helmut Mitter und die 28 Beschwerdeführer mit der Tatsache zurechtkommen müssen, dass die Erkenntnisse – laut Expertenaussage – juristisch vertretbar sind. Die moralische Kritik der Betroffenen war nie Teil jenes Sachverhaltes, den der Richter zu beurteilen hatte. Diskutabel sind gewisse Umstände dann aber doch:
Da wäre zum Beispiel die beiläufige Täter-Opfer-Umkehr, die einige Beteiligte in den Prozess zu schleppen versuchten. Eingang in die Entscheidung hat dieser bullshit gottseidank nicht gefunden. Auch abseits des Prozesses fühlten sich zahlreiche Stimmen aus dem Off mit der beratungsresistenten Wetti-Tant-Weisheit, Fans, die sich freiwillig in Corteos begeben, seien an ihrem Unglück sowieso selbst schuld, bemüßigt mitzuschnattern. Ganz Schlaue fragten gar laut, warum solche Märsche überhaupt durch Polizeibegleitung „unterstützt“ werden.
Diese Menschen verfügen über kein ausreichendes demokratisches Grundverständnis, solche Aussagen verdienen es nicht mit Argumenten aufgewertet zu werten. Debatten nach dem Motto „Mitgefangen, mitgehangen“ zeugen von einem Horizont, der an der eigenen Wohnungstüre endet; ist es doch per se sinnvoll Corteos abzuhalten: Fanmärsche sind das kleinere Übel, denn eine konzentrierte Gruppe ist leichter zu kontrollieren als versprengte Haufen. Überdies werden Straftaten bei gleichzeitig geringerer Polizeipräsenz eher verhindert. Beides freut den Steuerzahler.
Letztendlich läuft alles doch auf die Frage „Cui bono?“ hinaus. Zwar hat das geflügelte Wort Ciceros heute die Reputation, dass es von Verschwörungstheoretikern als ultimatives Argument aus dem hintersten Winkel gezogen wird, wenn man sich in diesem Fall die Umstände des Einsatzes sowie dessen Verteidigung durch den damaligen Innenminister genauer anschaut, dann tut sich doch ein gewisses Bild auf.
Für Helmut Mitter war das Vorgehen der Polizei an diesem Dezembertag jedenfalls eine Art Test: Fußballfans als Laborratten, Maßnahmen werden an Menschen ohne Lobby erprobt. Wahrscheinlicher ist allerdings – wie schon in einem ersten Kommentar behauptet –, dass die Aktion gezielt geplant war, um blaues Law-and-Order in die Abendnachrichten zu bringen. Für diese Vermutung spricht das konzertierte Vorgehen der Organe, die Masse an vorbereiteten Wegweisungszetteln, die Anwesenheit vieler Zivilpolizisten und Verfassungsschützer, sowie die Marschroute. Es ist eine Milchmädchenrechnung, dass die Überquerung einer schmalen Autobahnbrücke durch eine Gruppe, die definitiv nicht nur aus „armen Hascherln“ (O‑Ton Ex‑Innenminster Kickl) besteht, nicht friktionsfrei ablaufen wird. Schon bei der Benützung eines solchen Weges mit einer Gruppe Teenager sind die Chancen hoch, dass zumindest ein Schneeball innerhalb der Gruppe geworfen wird. Der Behörde muss klargewesen sein, dass in dieser 1.338-Menschen-Ansammlung etwas passieren wird, das als Straftat gewertet werden kann. Abgesehen davon bestand die Gefahr einer Massenpanik. War die Laaerbergbrücke, obwohl sie bereits mehrfach vor Derbys von Auswärtsfans beschritten wurde, als Schauplatz einer Art Agent-Provocateur-Aktion miteinkalkuliert? Man weiß es nicht. Helmut Mitter sagt, die Route sei bei einer Sicherheitsbesprechung im Vorfeld zwischen den beteiligten Vereinen und der Polizei diskutiert und so festgelegt worden. Das Verwaltungsgericht hielt fest, dass die Behörde bei diesen Treffen deponiert habe, dass „ein allenfalls stattfindender Corteo auf demselben Weg wie üblich abgehalten werden möge“. Die Amtshandlung passt jedenfalls in das Verständnis von Innenpolitik der Regierungsparteien. Gepaart mit der Aussage, künftig solche Fanzüge – die der Richter als nicht angemeldete Versammlung qualifizierte – sofort aufzulösen, versuchte man oberflächlich ein Bild von Sicherheit zu erzeugen, indem man demonstriert, dass Chaoten an die kurze Leine gehören. Härte, aber auch Augenauswischerei.
Doch das alles sind nur Gedanken, die nicht Gegenstand dieser richterlichen Entscheidungen waren. Es sind Gedanken, die man sich machen kann aber nicht muss. Rechtlich, das wird vermutlich nach Ablauf der Frist für die Erhebung der letzten Rechtsmittel feststehen, sind sie unbedeutend. Moralisch sind sie unklärbar oder wie Helmut Mitter sagt: „Das sind Mutmaßungen, die man nicht beweisen aber auch nie widerlegen kann.“
Marie Samstag, abseits.at
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Marie Samstag
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