Jeden Sonntag wollen wir in dieser neuen Serie einen Blick in die Vergangenheit werfen: Wir spielen sozusagen einen Zuckerpass in den Rückraum und widmen... Wiederholung in Zeitlupe (24) –  Der König im Exil (KW 35)

Jeden Sonntag wollen wir in dieser neuen Serie einen Blick in die Vergangenheit werfen: Wir spielen sozusagen einen Zuckerpass in den Rückraum und widmen uns kurz und bündig legendären Toren, Spielen, Fußballpersönlichkeiten, Ereignissen auf oder neben dem Platz und vielem mehr. Wir wollen Momente, Begebenheiten, Biografien im Stile von Zeitlupenwiederholungen aus dem TV nochmals Revue passieren lassen. Gedanken machen wir uns dabei über Vergangenes, das in der abgelaufenen Kalenderwoche stattgefunden hat: Heute gratulieren wir Hakan Şükür, der am 1. September 1971 seinen 50er feiert, mit Rückblick auf ein bisher unglaubliches Leben zum runden Geburtstag …

Vom Adler zum Bullen, vom Lebensretter zum Flüchtling – Leben und Karriere von Hakan Şükür

Wer heute in Washington per App einen Mietwagen einer gewissen Firma bestellt, könnte von dem Spieler chauffiert werden, der einst das schnellste Tor einer WM erzielt hat: Hakan Şükür luchste einem koreanischen Verteidiger den Ball ab und netzte nach elf Sekunden im Match um den dritten Platz bei der WM-Endrunde 2002. Der Stürmer, der vor allem für Galatasaray Istanbul auf Torejagd ging, kann sich heute jedoch nicht auf seinen Millionen ausruhen, sondern lebt im amerikanischen Exil, nachdem er in seiner Heimat politisch verfolgt wird.

Geboren wurde Şükür vor einem halben Jahrhundert als Sohn albanischer Eltern an der türkischen Schwarzmeer-Küste. Als Zwanzigjähriger schoss er mit 19 Toren in 30 Spielen seinen späteren Stammklub zu Meisterschafts- und Cupsieg. Aufgrund seiner Größe und Kopfballstärke gab man ihm die Spitznamen „Bulle vom Bosporos“ und „Kral“ (König).

1994 wurde der Geografie-Student Ilhan Çomak beschuldigt ein Mitglied der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu sein und in einem Istanbuler Gefängnis von Polizisten gefoltert. Ein Polizist verkündete, den jungen Mann so lange an den Füßen aufgehängt zu lassen, bis Galatasaray ein Tor schieße. Auf Şükür war Verlass: Das Kopfballungeheuer traf und rettet Çomak so vermutlich das Leben. Wer hätte damals ahnen können, dass auch der Stürmer diese Staatsgewalt, die dem Studenten widerfuhr, später am eigenen Leib erleben sollte. Noch befand sich Şükür aber in einem sportlichen Höhenflug: In drei Perioden bei den Gelb-Roten holte er insgesamt sechs Mal die türkische Meisterschaft und vier Mal den Pokal. Seine Versuche in der italienischen Liga – bei Torino Calcio, Parma und Inter – Fuß zu fassen, scheiterten zwar genauso wie eine Auslandsstation bei den Blackburn Rovers, trotzdem gehört der dreifache türkische Torschützenkönig mit seinen 383 Ligatreffern, dem UEFA-Cup-Sieg 2000 und dem dritten Platz bei der WM 2002 zu den besten Spielern, die je im Halbmond-Trikot aufgelaufen sind. 2008 beendete Şükür schließlich seine Karriere und begann sich politisch zu engagieren.

Der heutige türkische Ministerpräsident Erdoğan war ein persönlicher Freund, der ihn – als Bürgermeister von Istanbul – 1995 mit seiner ersten Frau verheiratet hatte. War es ein schlechtes Omen, dass diese Ehe nach nur vier Monaten geschieden wurde und Şükürs Ex-Frau kurze Zeit später tragisch ums Leben kam? Die Freundschaft zwischen dem 1,91 Meter großen Ex-Kicker und dem Politiker ging jedenfalls Jahre später in die Brüche: Zunächst trat Şükür jedoch Erdoğans Einheitspartei bei und wurde ins türkische Parlament gewählt, doch dann schloss er sich wegen „feindlicher Schritte“ gegen die „Gülen-Bewegung“, einer religiösen Organisation, der Opposition an. Bald darauf wurde der Ex-Kicker wegen Präsidentenbeleidigung angeklagt. Als er nach dem gescheiterten Militärputsch 2016 mit Haftbefehl gesucht wurde, verließen Hakan Şükür, seine Frau und die drei Kinder Hals über Kopf die Türkei. Seither muss sich der 112-fache Nationalspieler, dessen Vermögen konfisziert und dessen Konten eingefroren wurden, als Privatchauffeur in den Vereinigten Staaten über Wasser halten. Şükür erklärte gegenüber der „Welt“, türkische Politiker würden den Fußball für ihre Zwecke benutzen und Angst sähen, indem sie ihn – als Fußballidol – angreifen. Seinen 50. Geburtstag muss die Galatasaray-Legende daher fernab ihrer Heimat ohne viele Familienmitglieder feiern. Mögen bald bessere Zeiten für ihn, alle Türken und Türkinnen und uns alle kommen!

Marie Samstag, abseits.at

Marie Samstag