Der Alpine Skisport hatte Felix Neureuther, der Biathlonsport hatte Magdalena Neuner und auch im Fußball gibt es ihn – den „Lieblingsdeutschen“ der ÖsterreicherInnen. Die Rede ist von Christian Streich, einem Mann, der kurz vor dem Jahreswechsel sein 10-jähriges Jubiläum auf der Trainerbank des SC Freiburg feierte. Grund genug, den Sportsmann und Menschenfreund mit einigen Zeilen zu würdigen.
Der geneigte Österreicher und hier vor allem der Fußballfan saugt eine gewisse Antipathie gegenüber den Ballartisten aus dem Nachbarland gewissermaßen mit der Muttermilch ein. Dafür verantwortlich ist wohl ein Cocktail aus Nationalstolz, Minderwertigkeitskomplex und einem Schuss Selbstüberschätzung. Schuld daran soll auch – so sagen historische Quellen – die 1:6-Halbfinalniederlage des damaligen Mitfavoriten Österreich bei der WM 1954 sein. Knappe Elf Jahre nach dieser Schmach erblickte Christian Streich das Licht der Welt. Ein Mann, den man selbst als germanophob angehauchter Staatsbürger der Alpenrepublik mögen muss, mit welchem man bereits angesprochenen Cocktail gerne in Zweisamkeit genießen und dabei (nicht nur) über Fußball sprechen möchte. Wobei Streich in diesem unwahrscheinlichen Fall wohl eher zu einem Glas Wein greifen würde.
Christian Streich – ein Abbild der Normalität
Sohn eines Fleischhauers, Haupt- oder heute Mittelschulabsolvent, Lehre als Industriekaufmann – nicht unbedingt der Ausbildungsweg, der einen trainertechnisch ins Spitzenfeld einer Top-5-Liga spült, möchte man meinen. Doch genau das hat Streich geschafft, liegt nach der Hinrunde mit Freiburg auf Champions-League-Kurs. Nicht zuletzt sein in vielen Etappen unspektakulärer Lebenslauf dürfte es sein, der Streich immer wieder erdet und ihn nahbar und sympathisch macht.
Christian Streich – der Fußballprofi
Natürlich hat Streich aktiv gegen den Ball getreten. Im heimatlichen Eimeldingen nahm seine aktive Laufbahn ihren Ausgang. Von dort folgte der Schritt zum FV Lörrach, 1982 weiter zum Freiburger FC. Damals war Streich 17 Jahre alt, aber noch kein Profi. Der Schritt in den Bezahlfußball gelang mit dem Schritt in die 2. Bundesliga zu den Stuttgarter Kickers, so geschehen im Jahr 1985, nachdem er drei Jahre zuvor mit dem FFC am Aufstieg in die zweithöchste Leistungsstufe Deutschlands gescheitert war. In zwei Saisonen bei den Kickers reichte es nur für 21 Einsätze, sodass es Streich 1987 zum Zweitligisten SC Freiburg abwanderte. Seine Mitspieler damals: Ex-Bundestrainer Jogi Löw sowie Suleymane Sané, Vater von Bayern-Akteur Leroy Sané. Nach nur einer Saison schloss er sich Homburg 08 an und stieg mit dem Absteiger sofort wieder in die Deutsche Bundesliga auf, nach 10 Erstligaspielen Streichs in der darauffolgenden Saison aber auch wieder ab. 1990 kehrte der Mittelfeldmann zum FFC in die Oberliga zurück und dem Profifußball damit den Rücken, im Alter von nur 25 Jahren.
Christian Streich – der Weinliebhaber
Eine Episode, die Streich immer wieder gerne erzählt. Als er mit Freunden in einem Lokal unterwegs ist, bittet er den Kellner um „A gläsle Wi“, woraufhin dieser ihm ein Glas Whiskey serviert. Für Streich kein Problem, schließlich könne ja nicht jeder seinen Dialekt verstehen. Ehemalige Spieler wie Noch-Gladbach-Akteur Matthias Ginter berichten, dass Streich im Training schon auch Mal sehr gutes Hochdeutsch auspackte, um von allen Spielern verstanden zu werden.
Christian Streich – der Student und verhinderte Lehrer
Viele, die Christian Streich erlebt, gehört oder gesehen haben, werden zustimmen: Dieser Mann wäre ein sehr guter Pädagoge geworden. Bevor er die Abzweigung in Richtung Profi- bzw. zunächst Jugend- und Amateurtrainer nahm, studierte Streich, nachdem er sein Abitur (die deutsche Matura) nachgeholt hatte, tatsächlich Deutsch, Sport und Geschichte als Lehramtsfächer. Das deutsche Bildungswesen hat spätestens mit seinem Amtsantritt in Freiburg eine Zukunftshoffnung verloren. Die Möglichkeit des Studiums sah Streich im Übrigen stehts als Privileg. Dass er den Klassenraum mit dem Trainingsplatz tauschte, kommentierte Streich folgendermaßen: „Das is halt das, was ich machen wollte, ich kann nix anderes.“ Kurze Anmerkung: Streich-Liebhaber dürfen sich den ihm eigenen Dialekt gerne dazudenken.
Christian Streich – der Umweltbewusste
Christian Streich ist kein Mann des Luxus. Es ist ihm bewusst, privilegiert zu sein, auch dies tut er immer wieder kund. Gleichzeitig ist der Freiburg-Coach jemand, der über den Tellerrand hinaus und auf aktuelle Probleme blickt. Und nicht nur das, er beteiligt sich aktiv an der Lösung derselben. So fährt Streich zu jedem Freiburg-Heimspiel mit dem Fahrrad. Angesprochen auf die Stadionpläne – die neue Heimstätte des SC liegt im Vergleich zur alten Wirkungsstätte am anderen Ende der Stadt – meinte Streich, dass es nun eben Zeit für ein E-Bike sei, da seine Knie nicht die besten seien. Unverzichtbarer Nachsatz Streichs: „Aber bitte machen Sie jetzt keine Überschrift in der Bild-Zeitung, dass der Streich nicht mehr laufen kann.“
Christian Streich – die Respektsperson/der Fachmann
Freiburgs Trainer wurde in den letzten Jahren vielfach als beliebtester Bundesligatrainer ausgezeichnet. Er ist bei eigenen und gegnerischen Fans, Trainern, Funktionären gleichermaßen angesehen, ebenso – wie dieser Beitrag zeigt – über die Landesgrenzen hinaus. Im Jahr 2020 wurde er von den Profis der Deutschen Bundesliga zum drittbesten Trainer der Welt gewählt. Vor ihm landeten nur Landsmann Jürgen Klopp – übrigens ebenso ausgewiesener Streich-Fan wie Jupp Heynckes – sowie Pep Guardiola. Streichs Kommentar dazu: „Ich komm auf dieser Liste lieber als Dritter vor als gar net.“ Matthias Ginter sprach davon, dass zu Beginn seiner Nationalteam-Ära einige Teamkameraden ebenso wissen wollten, wie der SC-Coach den so tickt. Mittlerweile sollte dies wohl jeder Nationalspieler wissen.
Christian Streich – der Meister der Maximierung
Ein Blick auf die Tabelle der Deutschen Bundesliga reicht. Wer mit dem SC auf Rang drei der höchsten Spielklasse Deutschland steht, der muss irgendetwas richtig machen. Oder besser gesagt, sehr viel. Der Etat der Freiburger ist mit jenem der Clubs auf den Rängen eins und zwei nicht vergleichbar. Noch wichtiger aber: Auch etliche Vereine, die in der Tabelle weiter hinten zu finden sind, verfügen über ein Vielfaches an Budget. Apropos Budget: Streich ist ein enorm wichtiger Wirtschaftsfaktor für Freiburg. Er formte Spieler wie Waldschmidt, Philipp, Söyüncü, die anschließend für viel Geld abgegeben wurden. Fluch und Segen zugleich: Die hohe Fluktuation im Kader bedingt einen ständigen Neuaufbau. Was passiert, wenn Freiburg nicht allzu viele Abgänge verkraften muss? Es lohnt sich erneut ein Blick auf die aktuelle Tabelle.
Christian Streich – der Bescheidene
Bescheidenheit ist eine Tugend. Eine Tugend, die Christian Streich verkörpert wie kaum ein anderer im internationalen Fußballgeschäft. Und die man ihm – im Unterschied zu einigen Mitstreitern im Fußball-Business – auch abkauft. Bestes Beispiel dafür: Freiburgs 6:0-Erfolg gegen Adi Hütters Gladbacher in der abgelaufenen Hinrunde. In einem Interview nach dem Spiel gab Streich an, dass man auch auf der anderen Seite stehen könne und er auch Mitgefühl mit seinem Gegenüber habe. Nach dem fixierten Wiederaufstieg 2016 bremste Streich seine die Pressekonferenz stürmenden Spieler mit den Worten, man solle Respekt vor dem Gegner haben, der damals gegen den Abstieg spielte. Selbst den Begriff „Cheftrainer“ lehnt Streich in aller Bescheidenheit ab. In einem Interview sagte er dazu: „Ich bin nicht der Chef, ich habe eine Funktion in dieser Gruppierung, aufgrund derer ich zu sagen verpflichtet bin, dass wir es so oder so machen.“
Christian Streich – der Jugendtrainer/die Vaterfigur
Christian Streich bzw. Freiburg und Jugendarbeit – das passt zusammen wie Stürmer und Tore. Vor etwa 26, in Worten – SECHSUNDZWANZIG – Jahren wurde Streich Jugendtrainer bei Freiburg. Eine Zeitspanne bei einem Verein, die sich heute kaum jemand vorstellen kann. Dementsprechend viele Spieler hatte er unter seinen Fittichen. Hoffenheim-Keeper Oliver Baumann bezeichnete ihn als eine Art Vaterfigur, die ihm gewisse Werte mitgab. Neben der menschlichen Komponente ist Streich dabei beinahe ein Garant für sportlichen Erfolg: So holte er mit der Freiburger Jugend mehrfach den Junioren-Pokal und einmal sogar die Meisterschaft. Die Liste der unter seiner Ägide zum Profi gereiften Spieler ist lang: Neben Baumann gehören ihr Namen wie Toprak, Schwolow oder eben Ginter an. Passend: In seinem letzten Spiel als Jugendcoach 2011 holte sein Team einen der erwähnten Pokaltitel – im Elfmeterschießen.
Christian Streich – der Beschützer auf der Bremse
„Kümmert euch um Bayern, um Dortmund und die anderen, aber lasst unsere Jungs in Ruhe.“ Man könnte meinen, dass diese „Kritik“ an einen Gegner nach überharter Spielweise gerichtet sein könnte. Doch weit gefehlt: Streich äußerte diesen Satz, nachdem man ihn zum wiederholten Male auf die Champions-League-Chancen seiner Mannschaft ansprach. Unvergessen sein Verteidigungsplädoyer für den damaligen Leverkusen-Coach Roger Schmidt nach dessen „Spinner-Sager“ in Richtung Julian Nagelsmann, als Streich das ständige Überwachtsein der Trainer anprangerte und an die Menschen in den Kritikern und Pressemitarbeitern appellierte, solche Äußerungen nicht auf die Goldwaage zu legen. Gleiches Spiel nach Freiburgs Niederlage gegen das im Abstiegskampf steckende Werder Bremen vor wenigen Jahren oder vor wenigen Wochen nach einer Wolfsburger Niederlage in Freiburg, als er Mark von Bommel zur Seite sprang.
Christian Streich – der Kosmopolit
Man spricht gerne davon, dass Leute über den Tellerrand hinausschauen können. Bemüht man diese Metapher für Christian Streich, so reicht ein Teller für seine Weitsicht nicht aus, man müsste wohl eher von einem riesigen Backblech sprechen, so vielfältig sind die Themen, zu denen er – meist kritisch, aber nie wertend – Stellung nimmt. Die Palette reicht von banalen Themen wie Christiano Ronaldos Muskeln über Laptops im Fußball bis hin zu Massentierhaltung, Flüchtlingsdebatte oder Politik in Großbritannien oder Dirk Nowitzkis Bedeutung für Deutschland. Und selbst bei scheinbar unwichtigen Themen wie den eben angesprochenen nimmt Streich eine stets hinterfragende Perspektive ein, beleuchtet mehrere Akteure in einem oft und nur scheinbar eindimensionalen Spiel.
Christian Streich – Der Philosoph
Entstanden ist diese nicht unpassende Beschreibung für Streich nach einem Interview mit der New York Times, welches auch titelgebend für diesen Artikel war. Streich selbst sieht sich aber keineswegs als Philosoph, sondern verortet Philosophie in alltäglichen Begegnungen. „Man kann auf Menschen treffen und nach der Begegnung mit ihnen ist man begeistert, weil sie einem etwas mitgegeben haben, woran man sich lange Zeit erinnert und immer wieder denkt“, sagte der Freiburg-Trainer einmal sinngemäß.
Ob Philosoph oder nicht, Christian Streich ist und bleibt ein Sympathieträger. Ein Mann, der im schnelllebigen Fußballgeschäft eine nur allzu willkommene Abwechslung darstellt. Schade nur, dass gerade unsere „Lieblingsnachbarn“ einen solchen Menschen für sich beanspruchen dürfen. Wobei diese Formulierung Streich wohl – nicht zu Unrecht – maßlos aufregen würde, ließe sich für ihn doch kein Mensch von anderen beanspruchen. Was von Christian Streich in jedem Fall bleibt: Eine ständige Mahnung zu Selbstreflexion und Erdung, die jedem Menschen – ob Fußballprofi oder „Normalverbraucher“ – gut zu Gesicht stehen würde.
Julian Berger, abseits.at
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