Jeden Sonntag wollen wir in dieser Serie Spieler beleuchten, die ungewöhnliche Wege eingeschlagen haben. Wir möchten Geschichten von Sportlern erzählen, deren Karriere entweder im... Men to (re)watch (27) –  Alexandre Pato (KW 27)

Jeden Sonntag wollen wir in dieser Serie Spieler beleuchten, die ungewöhnliche Wege eingeschlagen haben. Wir möchten Geschichten von Sportlern erzählen, deren Karriere entweder im Konjunktiv stecken blieb, die sich zu einem gegebenen Zeitpunkt radikal verändert haben oder sonst außergewöhnlich waren und sind: Sei es, dass sie sich nach dem Fußball für ein völlig anderes Leben entschieden haben, schon während ihre Profizeit nicht dem gängigen Kickerklischee entsprachen oder aus unterschiedlichen Gründen ihr Potenzial nicht ausschöpften. Auf jeden Fall wollen wir über (Ex)-Fußballer reden, die es sich lohnt auf dem Radar zu haben oder diese (wieder) in den Fokus rücken. Wir analysieren die Umstände, stellen Fragen und regen zum Nachdenken an. In der 27. Ausgabe analysieren wir die Karriere eines brasilianischen Supertalents…

Erste Minute, erstes Spiel, erster Treffer – Alexandre Patos Premierenmatch hätte nicht besser laufen können: Der damals 17-jährige brach Pelés Rekord als er im Semifinale der Klub-WM 2006 gegen den ägyptischen Klub Al Ahly traf und so der jüngste Spieler wurde, dem ein Tor bei einem FIFA‑Herrenturnier gelang. Sein Klub Internacional gewann daraufhin die Klub-WM und später die Copa Libertadores. Pato galt zu dieser Zeit nicht nur am Zuckerhut als heißeste Transferaktie; sämtliche europäische Großklubs gaben Angebote für den Super-Angreifer ab. Zwar sollte der heute 32-jährige seiner Angewohnheit in seinem ersten Einsatz zu netzen fast in seiner gesamten Laufbahn treu bleiben, es gelang ihm jedoch nicht zur absoluten Weltspitze vorzudringen. Warum, das soll hier erzählt werden.

Golden Boy zwischen Seedorf, Kaka und Pirlo

Tatsache ist, dass die Startbedingungen des späteren Profis nicht optimal waren: Pato wurde am 2. September 1989 in Pato Branco, im Nordwesten von Brasilien geboren. Die Familie war arm: Alexandres Vater schuftete als Straßenbauer, seine Mutter war aufgrund von Rückenproblemen nicht arbeitsfähig. Das Talent des kleinen Alexandre zeigte sich bei Kleinfeldturnieren, eine Zukunft als Fußballer schien denkbar, bis man im Alter von 11 Jahren nach einem Sturz zufällig einen Tumor in seinem Arm entdeckte. Eine Operation war unumgänglich, dem Buben drohte die Amputation, aber die Familie hatte nicht das Geld, um sich einen Eingriff leisten zu können. Patos Vater überzeugte den Chirurgen mit Videos von Alexandres Fußballkünsten seinen hochtalentierten Sohn gratis zu operieren, dieser willigte überraschenderweise ein: „Er meinte, er würde die Kosten der Operation übernehmen. Ich werde diesen Namen nie vergessen: Paulo Roberto Mussi. Ich war 24 Stunden davon entfernt, meinen Arm zu verlieren. Er hat mir ein neues Leben geschenkt.“, weiß der einstige Serie A-Legionär. Kurze Zeit später hatte er erneut Glück, ein Scout von Internacional de Porto Alegre lud ihn zu einem Probetraining ein: „Die Chance eines Lebens“, erinnert sich der heute 32-jährige. In seinem ur-alten, verbeulten VW-Käfer fuhr ihn sein Vater 600 Kilometer nach Porto Alegre, wo Alexandre überzeugte: Schnell, dribbelstark und ein gnadenloser Vollstrecker.

Pato durchlief sämtliche Jugendmannschaften, ehe er 2006 sein Debüt für Internacional feierte. Nach unglaublichen Meilensteinen rissen sich plötzlich sämtliche europäische Teams um ihn und der Teenager entschied sich für einen Wechsel zum AC Milan, der damals von Carlo Ancelotti trainiert wurde. Obwohl er zunächst aufgrund von Regularien der italienischen Liga nicht in der Meisterschaft auflaufen durfte, zeigte er in Freundschaftsspielen sein ganzes Können. Pato feierte im Jänner 2008 sein Debüt gegen Neapel und traf prompt: Es hagelte Auszeichnungen wie den Golden Boy Award als bester Nachwuchsspieler 2009, weiters wurde er zum besten jungen Serie A-Spieler gewählt. Im gleichen Jahr holte der Stürmer mit Brasilien den Confed Cup, seine Karriere ging steil bergauf und bis ins Jahr 2010 brachte er konstant Topleistungen, ehe plötzlich der Verletzungsteufel zuschlug.

Die fetten Jahre sind vorbei

Zu Beginn der Spielzeit 2010/11 traf der Stürmer zweimal beim 4:0-Sieg gegen Lecce, musste aber nach dem zweiten Saisonspiel drei Wochen lang pausieren. In diesem Jahr fingen Patos gesundheitliche Probleme an: Erst zwickten die Adduktoren, dann machte die Achillessehne Manderln und der Oberschenkel tat weh. Pato sollte im Jänner 2012 eigentlich zu Paris Saint Germain wechseln, entschied sich aber in Mailand zu bleiben, wo er sich kurze Zeit später erneut am Oberschenkel verletzte. Nachdem er nur in elf Spielen eingesetzt wurde, wurde ihm der „Bidone d’oro“, ein satirischer Preis für den schlechtesten Serie A-Kicker, verliehen. Auch sein Privatleben beeinträchtigte seine sportlichen Leistungen: Nach einer kurzen Ehe mit der brasilianischen Schauspielerin Sthefany Brito, war er mit der Tochter des Klubbesitzers Berlusconi liiert: Daraufhin seien seine Mannschaftskollegen auf der Hut gewesen, man habe sich auf die Zunge gebissen: „Wenn dein Mitspieler die Tochter des Präsidenten datet, dann muss man vorsichtig sein.“ Auch munkelte man, dass Pato seine Verletzungszeit zu Partys und Ausschweifungen nutzte und auch deshalb nicht mehr richtig in Tritt kam.

Letztendlich ging der Offensivfußballer im Jänner 2013 in seine Heimat zurück und lief für die Corinthians auf. Zwar blieb Alexandre der Serie, bei seinem Debüt stets zu treffen, treu, aber er begann Hochkaräter auszulassen, wofür er von den Fans heftig kritisiert wurde: So verursachte sein verunglückter Heber im Elferschießen das Ausscheiden seines Klubs im brasilianischen Cup. Corinthians wollte ihn loswerden und tauschte ihn gegen Jádson von São Paulo ein, doch in der Millionenmetropole wollte der damalige Trainer Mano Menezes den einstigen Wunderknaben nicht einsetzen.

Pato wurde im Jänner 2016 von Chelsea ausgeliehen, doch er konnte das Steuer nicht herumreißen. Zwar traf er (wie üblich) in seinem ersten Spiel, lief aber nur ein weiters Mal für die Blues auf und ging anschließend zu Villareal, wo er – Überraschung! – ebenfalls sofort ein Tor schoss, aber sich letztendlich wieder nicht durchsetzen konnte. Für 18 Millionen wechselte er zu Tianjin Quanjian nach China, wo seine Serie der Premierentreffer trotz Chancen riss, er aber immerhin insgesamt 36 Mal netzte. Erstmals seit seiner erfolgreichen Zeit bei Milan konnte der Stürmer den Fußball wieder genießen: Weit weg von der europäischen Fußballpresse, die ihn einst auf Schritt und Tritt verfolgt hatte. „Ich habe den Fußball dort wie einen normalen Job gesehen, habe während meiner Zeit dort viel über das Essen und die Kultur gelernt. Ich habe verstanden, dass es mehr als Fußball und das gibt, was auf dem Platz passiert.“ Über São Paulo kam der Stürmer zu Orlando City, wo er bis heute unter Vertrag steht. In der Major League Soccer spielt der Stürmer in dieser Saison regelmäßig und gibt sich mittlerweile geerdet. Der einstige brasilianische Teamspieler hat sich äußerlich kaum verändert, nur sein linker Arm ist zutätowiert. Bei seiner Station in São Paulo habe er nochmals die Korken knallen lassen: „Ich wollte im besten Hotel leben, das schnellste Auto fahren und die wildesten Partys feiern.“ Als jedoch auf einer Feier neben ihm Kokain konsumiert worden sei, habe er sich daran erinnert, dass er nicht so leben wolle und sich wieder dem Fußball gewidmet.

Der zerplatzte Traum

Klar, dass Pato nicht jene Laufbahn gelungen ist, die ihm nach seinen Anlagen zuzutrauen war. Dennoch muss man berücksichtigen, dass auf dem Brasilianer von Anfang an gehöriger Druck lastete, den er wohl mit langen Nächten zu kompensieren versucht hatte. Nicht selten hört man von Fußballtalenten aus armen Familien, dass sie schon als halbe Kinder zum Hauptversorger ihrer Lieben wurden. Mit dieser Rolle ist man jedoch als Kind überfordert; das bedeutet nicht selten einen seelischen Knacks, der ins Erwachsenenalter mitgenommen wird. Auch Pato gab an, dass ihm die Umstände zu schaffen machten: „Ich träumte davon, der beste Spieler der Welt zu werden. Mein Kopf war gefangen in der Zukunft.“

Nur wenig später kam das Verletzungspech hinzu, dass ihn seiner besten Eigenschaften beraubte; für seinen Spielertyp waren Antritt, Geschwindigkeit und Flexibilität, die er rekonvaleszent nicht ausspielen konnte, enorm wichtig. Erst nach seiner Rückkehr nach Brasilien stellte ein Arzt die richtige Diagnose: Die Muskelverletzungen rührten aus Verkürzungen, die aus der Ungleichbelastung des Körpers entstanden. Seine Entwicklung vom Player zum Playboy tat das Ihre: Kein Profisportler kann einen ungesunden Lebensstil wirkungslos verkraften. So blieb Alexandre Pato bei 27 Länderspielen für die Seleção stehen und nahm an keiner WM-Endrunde teil. Sein größter Erfolg bleibt der italienische Meistertitel 2010/11; Alexandre Patos Stern verglühte danach rasch.

Marie Samstag, abseits.at

Marie Samstag