Jeden Sonntag wollen wir in dieser Serie Spieler beleuchten, die ungewöhnliche Wege eingeschlagen haben. Wir möchten Geschichten von Sportlern erzählen, deren Karriere entweder im... Men to (re)watch (45) –  Éric Cantona (KW 45)

Jeden Sonntag wollen wir in dieser Serie Spieler beleuchten, die ungewöhnliche Wege eingeschlagen haben. Wir möchten Geschichten von Sportlern erzählen, deren Karriere entweder im Konjunktiv stecken blieb, die sich zu einem gegebenen Zeitpunkt radikal verändert haben oder sonst außergewöhnlich waren und sind: Sei es, dass sie sich nach dem Fußball für ein völlig anderes Leben entschieden haben, schon während ihre Profizeit nicht dem gängigen Kickerklischee entsprachen oder aus unterschiedlichen Gründen ihr Potenzial nicht ausschöpften. Auf jeden Fall wollen wir über (Ex)-Fußballer reden, die es sich lohnt auf dem Radar zu haben oder diese (wieder) in den Fokus rücken. Wir analysieren die Umstände, stellen Fragen und regen zum Nachdenken an. Skandale und Tore begleiteten die Laufbahn des Fußballers, der in der heutigen Ausgabe dieser Serie porträtiert werden soll. Die Rede ist von Éric Cantona…

„Sie ist eine Frau, mein Herr. Sie sagen etwas, meinen aber etwas anderes. Niemand kann ihre Geheimnisse entschlüsseln.“, sagt er im dunklen Samtkostüm. Éric Cantona spielt Monsieur de Foix, einen französischen Adeligen, im Film „Elizabeth“. Der 1998 gedrehte Kinoerfolg erzählt vom Leben der gleichnamigen englischen Monarchin im 16. Jahrhundert, doch beinahe könnte man meinen, Éric spreche über sich selbst. Schließlich gelang es niemandem ihn und seine Geheimnisse zu entschlüsseln. Ohne Zweifel war der französische Stürmer einer der besten Fußballer seiner Zeit, er führte Man. United nach Jahren der Bedeutungslosigkeit zurück auf die große Fußballbühne. Der Heilsbringer – halb Genie, halb Wahnsinniger – musste jedoch auch immer wieder mit Aussetzern kämpfen, die letztlich in einer gewalttätigen Attacke gegen einen Fan gipfelten. 1997 hängte Cantona seine Fußballschuhe an den Nagel, versuchte sich als Schauspieler, triumphierte als Beachsoccerspielertrainer und scheiterte als Fußballfunktionär. Er ist ein schillernder Mensch, ein Charakter für den die Beschreibung „Ecken und Kanten zu haben“ nicht reicht und jemand, der Geschichte geschrieben hat.

„Ich bin kein Mann, ich bin Cantona.“

Das sagt Éric in einem semi-autobiografischen Film über sich selbst und das bleibt als Fazit von ihm übrig. Geboren wurde der spätere England-Legionär als Éric Daniel Pierre Cantona am 24. Mai 1966 in Marseille. Sein Großvater mütterlicherseits hatte gegen Franco im faschistischen Spanien gekämpft und war schwer verletzt im Süden Frankreichs gestrandet; die Familie seines Vaters kam aus dem armen Sardinien. Érics Kindheit brachte Bruder Joël mit folgenden Worten auf den Punkt: „Bei uns zählten nur zwei Dinge: Loyalität zur Mannschaft und Liebe zur Familie.“ Bereits als Sechsjähriger wusste Éric, dass er einmal ein Star werden würde. Bei seinem ersten Jugendverein spielte er mit dem heutigen PSG-Coach, dem gleichaltrigen Christophe Galtier, zusammen, war ihm aber um Längen voraus. Éric spielte simpel, aber höchsteffizient. Drill und Disziplin waren Fremdworte für ihn. Als Fußballer agierte er schon damals abgeklärt, als Mensch war er ein Heißsporn und anarchischer Freigeist. Darin wurzelten seine Probleme, die er schon früh mit Gegnern, Mitspielern und Trainern auszutragen hatte. 1981 setzte Éric seine Ausbildung bei AJ Auxerre fort, wo er sieben Jahre lang bleiben sollte.

Sein Start als Profifußballer gestaltete sich holprig: Schon bei Auxerre wurde er wegen eines Karate-Tacklings für Monate gesperrt, nach dem Wechsel zu seinem Herzensklub Marseille im Jahr 1988 warf er nach einer Auswechslung einfach sein Trikot weg. Später bezeichnete er in einem TV-Interview seinen damaligen Trainer als „inkompetentesten Coach der Fußballwelt.“ Während einer Leihe zu Montpellier schleuderte Cantona seine Fußballschuhe in das Gesicht eines Mitspielers, zurück in Marseille attackierte einen Schiedsrichter. In der professionellen Fußballwelt schlug Éric sinnbildlich wie ein entfesselter Dadaist, der seine Wut nicht kanalisieren konnte, um sich und galt bald als nicht mehr vermittelbar. Im Dezember 1991 verkündete er daher mit nur 25 Jahren sein Karriereende.

Kragen hoch

„Mein Berater hat mit Leeds schon verhandelt und es hat gut ausgesehen.“, erzählte Andi Ogris im Juli 2020 in einem TV-Interview. Ausgestochen wurde die Austria-Legende aber prompt von Cantona, der zunächst auf Leihbasis zum Kultverein aus West Yorkshire wechselte. Dieser Transfer war der Wendepunkt in der Karriere des Offensivspielers, er schien endlich angekommen und wurde sogleich englischer Meister in der Football League First Division, ehe diese durch die Premier League ersetzt wurde. Auch in der équipe tricolore lief es fortan für den exzentrischen Angreifer. Schließlich holte ihn Trainer Ferguson nach Manchester, weil er einen Sturmpartner für Mark Hughes suchte. Es sollte eine fruchtbare Ehe zwischen der französischen Diva und dem englischen Weltklub werden.

Für David Beckham war es diese Symbiose, die für den ersten Meisterschaftsgewinn der Red Devils seit 26 Jahren sorgte: Der Gallier Cantona bestimmte wie ein römischer Feldherr die Laune im Theatre of Dreams. „Jedes Mal, wenn er den Ball berührte, drehten die Fans durch.“, weiß Sir Alec Ferguson. In den fünf Jahren, die der Offensivspieler in Manchester bleiben sollte, holte er vier Meistertitel. Bald rief man ihn „King Éric“ oder „Le roi“. Als großer und kräftiger Mittelstürmer kombinierte Cantona seine körperlichen Vorzüge mit einer exquisiten Technik und einem unstillbaren Torhunger. Schon bei Auxerre hatte er als Jungspund eine Talentprobe seines Könnens abgeliefert, indem er mit einem Weitschuss genau ins linke Kreuzeck getroffen hatte. Bei Man. United brachte er mit Volleyschüssen – wie beim Cupsieg 1996 über Liverpool – oder mit Hebern – so geschehen im August 1993 ins lange Eck gegen Southampton – die Fans zum Jubeln. Sein wohl schönstes Tor erzielte Cantona gegen Sunderland, als er nach Ballgewinn nahe der Mittelline, Sololauf und Doppelpass seine Individualleistung mit einem weiteren Lupfer erfolgreich krönte. Der König drehte sich um die eigene Achse, hob langsam die Arme, blickte majestätisch um sich: Glatze, Langarm-Trikot, aufgestellter Kragen. So behielt die Fußballwelt Éric Cantona fortwährend in Erinnerung. In der Saison 93/94 machte er 18 Tore und lieferte 12 Torvorlagen. Dass er das Um und Auf in Manchester war, belegt jene Statistik, die besagt, dass Cantona in dieser Saison in drei von (insgesamt) vier verlorenen Punktspielen nicht eingesetzt worden war. Éric war die Seele Man. Uniteds und ein absoluter Superstar, doch da gab es eben noch eine andere Seite seiner Persönlichkeit.

Schlechter Gewinner

Cantona lud die Atmosphäre nicht nur mit seinen Fallrückziehern und Hattricks auf, sondern auch mit einer Aggressivität, die öfters aus dem Ruder lief. Während seiner Zeit in Manchester sah er vier rote Karten und ließ sich im Jänner 1995 zu jener Attacke hinreißen, die bis heute untrennbar mit ihm verbunden ist: Nach einem Platzverweis trat und schlug er einen Crystal Palace-Anhänger, der ihn rassistisch beleidigt haben soll. Dafür fasste er zunächst nicht nur eine Suspendierung seines Arbeitgebers und eine achtmonatige Sperre aus, sondern sollte auch für zwei Wochen ins Gefängnis gehen. Nach einer Berufung wurde diese Freiheitsstrafe jedoch in Sozialstunden umgewandelt. Cantona bereut bis heute nichts: „Solche Leute sollten nicht im Stadion sein. Es war ein Traum für mich so jemanden zu schlagen.“ Trotzdem markierte dieser Zwischenfall den Anfang vom Ende seiner Zeit als Fußballprofi: Frankreichs Teamchef Jacquet verzichtete nach der unrühmlichen Prügel-Orgie auf weitere Einberufungen des „enfant terribles“. 1997 beendete Éric Cantona schließlich mit nur 31 Jahren seine Karriere, ein Jahr später wurde Frankreich mit Zinedine Zidane als Spielmacher Weltmeister bei der Endrunde im eigenen Land.

Éric schmollte. Bis heute hat er es nicht verwunden, dass nach seinem Kung Fu-Tritt die Tür zur Nationalmannschaft endgültig zu war. Er ist heute erklärter England-Fan und hat die Zeit bei den Red Devils als die schönsten Jahre seines Lebens bezeichnet. Zwar gilt Cantona wegen seiner cholerischen Anfälle, seiner Zwiste mit Kollegen, Trainern, Funktionären und Schiedsrichtern als Abziehbild des Fußballrebellen; er stach aber auch aufgrund seiner Interessen aus der Masse der PL-Profis, die sich mit Shoppen und Poolbillard ablenkten, heraus: Éric liebte Poesie, malte abstrakte Bilder und hörte gern „The Doors“. In der Sommerpause ging er in der Provence auf Vogeljagd, trank Rosé und fachsimpelte über Politik und Philosophie. Für manche war er trotzdem nur ein hedonistischer Exzentriker, der seine Aggressionen nicht im Griff hatte und als Marketinggag ein paar Shakespeare-Zitate auswendig konnte.

Nach seiner Fußballkarriere reüssierte Cantona auch im Beachsoccer und war bei den Filmfestspielen von Cannes zu Gast. Unter der Regie seiner zweiten Frau debütierte er als Bühnenschauspieler, designte ökologische Kleidung und rief zum Bankenboykott auf. „Zwischen Freiheit und Chaos liegt eine schmale Grenze.“, sagte er einmal. Er sieht sich selbst als Künstler, sein Charisma strahlt immer noch wie zu jenen Zeiten, als er einen Ball am Fuß führte. Cantonas Profilaufbahn war zwar kurz, aber intensiv. Vielleicht hätte er sie verlängern können, wenn er sich öfters mehr im Griff gehabt hätte. Aber Éric war eben kein normaler Mensch. Er war und ist Cantona.

Marie Samstag, abseits.at

Marie Samstag