Seit Mittwochmorgen und der offiziellen Bestätigung der einvernehmlichen Trennung von Urs Fischer als Cheftrainer Union Berlins ist die noch junge Bundesligasaison um eine weitere... Raus mit Applaus: Die Trennung von Urs Fischer bei Union Berlin

Seit Mittwochmorgen und der offiziellen Bestätigung der einvernehmlichen Trennung von Urs Fischer als Cheftrainer Union Berlins ist die noch junge Bundesligasaison um eine weitere emotionale Trainerentlassung reicher. Nachdem Bo Svensson in Mainz freiwillig den Hut gezogen hatte, einigte man sich nun in Köpenick auf das Ende einer fünfeinhalbjährigen Ära. Begonnen hatte sie mit dem Erstligaaufstieg und führte innerhalb von nur vier Saisonen in die Champions League. Doch nach einer rasanten sportlichen Talfahrt inklusive Pokalaus, Aus in der Königsklasse und Platz 18 in der Bundesliga stürzte Union innerhalb der letzten drei Monate heftig ab. Doch wie erklärt sich diese Kehrtwende? Liegt ihr eine „Systemabnutzung“ zugrunde, die Fischer nicht ausgleichen konnte oder war der Tiefflug nur eine Frage der Zeit? Wie schafft es Union nun aus der Krise und was sagt diese Entscheidung über den Verein aus?

Samstag, der 26. August am Böllenfalltor. Der Gast stiehlt die Show. Im ersten Bundesligaheimspiel seit Mai 2017 verlieren die Lilien trotz siebzigminütiger Überzahl und zwischenzeitlichem Ausgleichstreffer mit 1:4. Gegner Union Berlin katapultiert sich mit dem zweiten Dreier in Folge an die Tabellenspitze und legt von Beginn an die neue Hierarchie fest. Bereits letzte Saison hatten die Köpenicker sieben Spieltage lang den Platz an der Sonne genossen, vor den vermeintlichen Topfavoriten aus München, Dortmund, Leipzig und vor allem den völlig abgeschlagenen Leverkusenern. Am Ende reichte das für Platz vier, eine nicht für möglich gehaltene Steigerung nach den Rängen 11, 7 und 5 in den ersten drei Bundesligajahren. Wen wundert es also, dass die Eisernen schon wieder von Beginn an vorne mitspielen? Noch dazu mit Neueinkauf Robin Gosens, der beim Startdebüt doppelt trifft und der scheinbar angeborenen, nahezu grotesken Effizienz, die die Köpenicker nicht erst seit den Partien gegen Mainz und Darmstadt auszeichnet. Und damit ist noch nicht Schluss: Während der FC Bayern in den letzten Transfertagen panisch nach einer „Holding-Six“ sucht, holt sich Union mit Leonardo Bonucci internationale Klasse an Bord – ein Sechser im Lotto, wie auch der bundesligaerfahrene Kevin Volland, der von der AS Monaco kommt. Die erste Bewährungsprobe für das Starensemble? Union Berlin verliert nach engagierter Leistung erst in der Nachspielzeit durch einen unglücklichen Gegentreffer von Jude Bellingham im Estadio Santiago de Bernabéu das erste Champions-League-Spiel der Vereinsgeschichte mit 0:1. Der Hype erreicht neue Sphären: Kann Union gar in der Königsklasse mithalten und vor Real und/oder Neapel abschließen?

Zu diesem Zeitpunkt hat Union bereits die ersten zwei Bundesliganiederlagen gegen Leipzig und Wolfsburg eingefahren. Es ist der Anfang einer pechschwarzen Serie. Mitte November ist der letzte Sieg immer noch der in Darmstadt gewesen, dazwischen liegen nun 14 Pflichtspiele ohne Sieg, lediglich in Neapel gab es etwas Zählbares für die Eisernen. Robin Gosens konnte nach seinem glanzvollen Debüt nur noch zwei weitere Tore beisteuern, Kevin Volland wurde nach einer Rotsperre zweimal überhaupt nicht für den Kader nominiert und die Defensivabteilung rund um Bonucci und Lucas Tousart musste bereits 26 Gegentore schlucken – nur Darmstadt kassierte mehr.

Was sich wie ein Offenbarungsakt liest, ist auch einer. Gegen Bayer Leverkusen zeigte Union einen blutleeren Auftritt, der nicht erstligatauglich war und zu Recht mit einem 0:4 quittiert wurde. Die Mannschaft scheint gezeichnet von den vergangenen Wochen, in denen sie Spiele verloren, die sie nicht verlieren durften. Das Paradebeispiel ist mit Sicherheit das Spiel gegen Braga in der Champions League. Vor einem ausverkauften Olympiastadion führt Union mit 2:0 und hat zahlreiche Chancen, das dritte Tor zu erzielen. Stattdessen sind es drei Distanzschüsse, die den Unionern im zweiten Durchgang um die Ohren fliegen und eine völlig unnötige Niederlage besiegeln. Ein mentaler Knacks, der sich durch Spiele wie gegen den BVB oder im Pokal gegen Stuttgart weiterzieht. Wann immer Union in Rückstand gerät, scheint die Mannschaft bis auf die Knochen verunsichert. Gewann man in der Vorsaison noch vier Spiele aus zwölf Rückständen (Platz sechs), konnte man in dieser Saison aus neun Rückständen bisher kein einziges Mal punkten.

Dabei ist das Ausmaß der Krise statistisch nicht unbedingt belegbar. In den Laufdaten hat sich Union in den Kategorien Laufdistanz, Sprints und intensive Läufe im Vergleich zur Vorsaison pro Spiel überall leicht verbessert. Die Expected-Points-Tabelle sieht Union auf Platz 14, letztes Jahr vermutete die Statistik sie auf Platz 12. Zu diesem Zeitpunkt waren sie Tabellenführer. Dass Union letztes Jahr ein absoluter Ausreißer gelang, steht außer Frage. Ein Einbruch war aus statistischer Sicht also vorhersehbar, er ist nun drastischer als erwartet.

Das klingt zunächst so, als hätte man mit Fischer weitermachen können. Schließlich bleibt noch genug Zeit, um das Ruder herumzureißen, nur einen Punkt ist Union vom rettenden Ufer entfernt. Zudem ist man in Köpenick seit dem Bundesligaaufstieg bemüht, die Erwartungen niedrig zu halten. Der Klassenerhalt mit im besten Falle 40 Punkten ist zum vierten Mal in Folge die einzige Zielvorgabe. Handelt es sich bei der Entscheidung also um eine Panikreaktion, die Urs Fischer Unrecht tut? Hätte Union den „Freiburger Weg“ wählen sollen und notfalls mit Fischer absteigen sollen? Dass diese Frage nicht bejaht werden kann, zeigt die Entwicklung des Vereins. Denn zum ersten Mal (und das hatte sich bereits letzte Saison herauskristallisiert) hat Union Berlin einen Kader zusammen, für den eine Absenz der europäischen Wettbewerbe enttäuschend wäre. Das weiß auch die Chefetage, auch wenn sie es nicht laut aussprechen möchte. Daher ist Skepsis am ergebnisorientierten Defensivspiel der Unioner durchaus berechtigt, von dem sich Fischer auch in der Krise nicht lösen konnte. Eine Abkehr von ihm kann also auch eine Zuwendung zu einer ansehnlicheren, weniger vom Spielglück abhängigen Spielweise bedeuten, je nachdem, welcher Trainer nun folgt. Hier hat Union einen klugen Zeitpunkt gewählt. Die Länderspielpause gibt Luft zum Durchatmen und zur konzentrierten Entscheidungsfindung, bevor in der Bundesliga die Aufholjagd und in der Champions League der dritte Platz angegriffen werden sollen.

Dennoch überraschte Präsident Dirk Zingler auf der Pressekonferenz zur einvernehmlichen Trennung. Zwar beteuerte er einerseits, dass er Angst vor diesem Tag gehabt habe, jedoch sagte er auch, dass der Tag der Trennung früher kam als vereinbart. Dass die beiden getrennte Wege gehen, war also unabhängig vom Resultat bereits vor der Saison ausgemacht. Diese Perspektive hat die Entscheidung womöglich sogar noch bestärkt. Dabei verlief der gesamte Prozess überraschend ruhig. Bereits am vergangenen Montag hatten sich die Bosse mit Fischer auf die Trennung geeignet, erst am Mittwochmorgen kam es zur Bekanntgabe des Vereins, die durch keinerlei Leaks, die man von derartigen Entscheidungen ja bereits kennt, vorher angekündigt wurde. Des Weiteren kursieren noch keine Nachfolgernamen, laut Zingler, weil man sich voll auf die erhoffte Kehrtwende mit Fischer fokussierte. Tatsächlich gibt es aktuell nur wenige Namen, die zu Union passen würden. Typisch wäre es aber, wenn die Interimslösung um U-19-Trainer Marco Grote und Assistentin Marie-Louise Eta, erste Co-Trainerin der Bundesliga, sofort einschlagen würden.

Der Unioner Weg, er wird sich ändern müssen. Fest steht nur, die folgende Entscheidung muss sitzen. Denn einen Abstieg können sich die Köpenicker nicht leisten, auch wenn alle Spieler mit Zweitligaverträgen ausgestattet sind. Aus diesem Grund ist die Entlassung von Fischer nachvollziehbar. Zingler hatte ihn aufgefordert, sich bei ihm zu melden, sobald er der Mannschaft keinen neuen Impuls mehr geben kann. Dieser Fall ist eingetreten. Fischer hat die Kabine nicht verloren. Er hinterlässt einen kerngesunden, wirtschaftlich florierenden und attraktiven Fußballverein, ohne sich trotz seines unbeschreiblichen Anteils am Erfolg über ihn zu stellen. Dafür gebührt ihm größter Respekt. Fischers Trennung schmerzt auf sportlicher und vor allem menschlicher Ebene. Doch sie ist verständlich und leider branchenüblich. Der Unioner Weg geht ohne Fischer weiter, er geht raus mit Applaus. Unions Bosse müssen nun verhindern, dass dies auch bald für ihre Ligazugehörigkeit gilt, denn kein Kader ist „zu gut“, kein Club zu „kultig“ um abzusteigen. Man frage in Gelsenkirchen nach: Nach 14 sieglosen Spielen ist Schalke ein mahnendes Beispiel, wie schnell es ganz runter gehen kann. Es ist die vielleicht schwierigste Herausforderung der Eisernen seit dem Bundesligaaufstieg.

Clément Testa, abseits.at

Clément Testa

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