Fußballer sind Wanderarbeiter, doch nur im obersten Segment wird den Kickern das Leben in der Fremde so angenehm wie möglich gemacht. Andrea Pirlo erzählte... Anekdote zum Sonntag (254) – Lost im Innviertel

Fußballer sind Wanderarbeiter, doch nur im obersten Segment wird den Kickern das Leben in der Fremde so angenehm wie möglich gemacht. Andrea Pirlo erzählte einmal, wie ihn die katarische Liga unter anderem damit umwarb, dass seine Kinder selbstverständlich auch im Wüstenstaat ihre Schullaufbahn auf Italienisch absolvieren könnten. Pirlo wechselte trotzdem lieber nach New York. Viele Spieler, die dem Ruf des Geldes folgen und so irgendwann in der sandigen Einöde oder in einer „Volksrepublik“ kicken, leben dort zwar in goldenen Käfigen und bekommen jeden Wunsch von den Augen abgelesen, vegetieren aber trotzdem dahin: Schließlich sind Familie und Freunde weit weg und außerhalb ihrer geschlossenen Wohnkomplexe gibt es für die „Gastarbeiter“ nichts zu entdecken. Fußballer, die zu Durchschnittsklubs wechseln, sind im Alltag oft auf sich alleingestellt und müssen sich ihr Privatleben selber organisieren. Viele erleben einen echten Kulturschock. So ging es auch einem US‑amerikanischen Profi, der vor fast einem Viertel Jahrhundert in der österreichischen Provinz seine Zelte aufschlug:

Rashid Utush war Anfang 20, als er von den Seattle Sounders ins beschauliche Ried im Innkreis wechselte. Im Jahr 2000 hatte der US-Amerikaner mit arabischen Wurzeln schon bei Nijmegen in der zweiten niederländischen Liga gekickt, später transferierte er in die österreichische Bundesliga. Am Flughafen Wien-Schwechat holte ihn sein zukünftiger Trainer Helmut Kronjäger und dessen Frau persönlich ab. Müde vom Flug über den Atlantik setzte sich der Stürmer nach sportlich-herzlicher Begrüßung ins Auto seines Chefs. Er war das erste Mal in Österreich und sah sich neugierig um. Sie fuhren auf die Tangente und die Lichter der Stadt Wien glitzerten im unersättlichen Schwarz des Nachthimmels. Rashid sah zunächst fasziniert aus dem Fenster, doch schon bald übermannte ihn die Müdigkeit und er döste ein. Die rot-weiß-rote Hauptstadt verschwand langsam im Rückspiegel während die Kronjägers ihren Neuzugang ruhig und zügig nach Oberösterreich kutschierten. Im Innviertel angekommen wurde Utush bei Anni und Franz Zauner in Neuhofen abgesetzt. Der 2022 geschlossene Gasthof Zauner gehörte zum Teamquartier der SV Ried und beherbergte alle neuen Spieler der „Wikinger“, die noch wohnungslos waren. Helmut Kronjäger begleitete Rashid aufs Zimmer und richtete ihm aus, dass er ihn um 10:30 Uhr zu seinem ersten Training abholen werde.

Am nächsten Tag gabelte er den – noch immer – schlaftrunkenen Angreifer auf und fuhr mit ihm zum Trainingsplatz in der Rieder Kaserne. Irgendwas schien Utush jedoch an diesem Tag zu bedrücken. Schon auf dem Weg zum Auto sah er sich immer wieder verwundert um. Es wirkte, als würde der Spieler etwas suchen. Auch auf der Fahrt zum Training sah Rashid besorgt aus dem Fenster. Als Kronjäger seinen PKW schließlich vor der Kabine parkte, platzte es aus dem Angreifer heraus: „Sorry coach, but where is the city from yesterday?!“ – Der Profi erkundigte sich, wo die Stadt, deren Lichter er gestern aus dem Autofenster gesehen hatte, abgeblieben war. Nachdem er bereits auf der Tangente eingeschlafen war, wähnte er sich noch in der unmittelbaren Nähe Wiens und hatte seit Tagesanbruch verzweifelt versucht zwischen den Hügeln, Maisfeldern und Einfamilienhäusern des Innviertels Hinweise auf eine Großstadt zu finden. Kronjäger musste lachen. Er erklärte Utush, dass er rund zwei Stunden von der „City“ entfernt sei. Daraufhin machte der Neuzugang ein Gesicht, das wiederum Kronjäger ein Schaudern über den Rücken laufen ließ. Der aus Seattle stammende Utush war das Leben in einer Großstadt mit Hochhäusern, Einkaufszentren und Co. gewöhnt, bei seinem Wechsel hatte keine Ahnung davon gehabt, dass im beschaulichen Innviertel nicht einmal ein Viertel der Einwohnerstärke seiner Heimatstadt zu Hause war.

Es überrascht nicht, dass dieser Kulturschock verheerende Auswirkungen auf Rashids sportliche Entwicklung hatte. Und dass, obwohl Utushs älterer Bruder Ali-John damals für die zweite Mannschaft der Rieder kickte. Rashid und Ali-John konnten sich nicht integrieren. Der Stürmer spielte gerade 155 Bundesliga-Minuten für die „Wikinger“ – also etwas mehr als die Fahrzeit von Ried nach Wien. Danach wechselte er zum Dresdner SC, wo er auf ungewöhnliche Art auf sich aufmerksam machte: Rashid wurde eingewechselt und flog zehn Minuten später wieder vom Platz. Danach fehlte er unentschuldigt beim Training, sodass ihn sein Arbeitgeber vor die Türe setzte. Letztendlich gingen beide Brüder wieder zurück nach Seattle, wo sie heute als Akademie-Trainer arbeiten. Heutzutage würde man den zukünftigen Arbeitsort wohl googlen.

Marie Samstag, abseits.at

Marie Samstag