Unbekannter denn je, aber auch schwächer? – Das ist der EM-Kader von Kroatien
EM-Kader 27.Mai.2012 Alexander Semeliker 0
Mit 27 Spielern bereitet sich Kroatiens Teamchef Slaven Bilic auf sein vorerst letztes Großereignis als Nationaltrainer vor. Der 43-Jährige übernimmt nach der Endrunde in Polen und der Ukraine das Traineramt bei Lokomotiv Moskau. Auch deswegen ging er bei seiner Kadernominierung kaum Risiko ein, setzt bei der EM auf altbewährtes Personal, anstatt sich den einen oder anderen jungen Spieler genauer anzuschauen. In diesem Artikel seziert abseits.at das kroatische Aufgebot.
Die verpasste Qualifikation für die Weltmeisterschaft – Kroatien belegte hinter England und der Ukraine nur Rang drei – sorgte im Adria-Staat für Unzufriedenheit, dennoch hielt der Fußballverband HNS an Bilic fest und wurde nicht enttäuscht. Nachdem man in Qualifikationsgruppe F zunächst Griechenland den Vortritt lassen musste, setzte sich Bilics Team im Playoff gegen die Türkei mit einem Gesamtscore von 3:0 durch. Insgesamt 43 Spieler setzte der Coach in der abgelaufenen EM-Qualifikation ein, ein Endrunden-Ticket stellt er aber nur weniger als dreißig in Aussicht. Vier Akteure muss Bilic aus seinem vorläufigen Kader bis 29. Mai noch eliminieren – vermutlich einen je Mannschaftsteil.
Das Aufgebot im Überblick
Tor: Stipe Pletikosa (FC Rostov), Danijel Subasic (AS Monaco), Ivan Kelava (Dinamo Zagreb), Goran Blazevic (Hajduk Split)
Abwehr: Vedran Corluka (Tottenham Hotspur), Sime Vrsaljko (Dinamo Zagreb), Dejan Lovren (Olympique Lyon), Josip Simunic (Dinamo Zagreb), Ivan Strinic (Dnipro Dnipropetrowsk), Gordon Schildenfeld (Eintracht Frankfurt), Domagoj Vida (Dinamo Zagreb), Jurica Buljat (Maccabi Haifa), Danijel Pranjic (Bayern München)
Mittelfeld: Darijo Srna (Shakhtar Donetsk), Ognjen Vukojevic (Dynamo Kiew), Ivan Rakitic (FC Sevilla), Tomislav Dujmovic (Dynamo Moskau), Luka Modric (Tottenham Hotspur), Milan Badelj (Dinamo Zagreb), Niko Kranjcar (Tottenham Hotspur), Ivan Perisic (Borussia Dortmund), Ivo Ilicevic (Hamburger SV)
Angriff: Mario Mandzukic (VfL Wolfsburg), Eduardo da Silva (Shakhtar Donetsk), Nikica Jelavic (Everton), Nikola Kalinic (Dnipro Dnipropetrowsk), Ivica Olic (Bayern München)
Torhüter
Die Torwartposition ist wohl die größte Problemstelle im Team – seit Jahren wird rotiert. Während der Europameisterschaft wird voraussichtlich Stipe Pletikosa das Tor der Kroaten hüten. Für den 33-jährigen Schlussmann vom FK Rostov, der für seine Nation bereits bei der WM 2002 zwischen den Pfosten stand, wäre es das vierte Großereignis als Stammtorhüter. Dabei sah es zu Beginn der Qualifikation gar nicht danach aus, denn aufgrund mangelnder Spielpraxis und Verletzungen musste Pletikosa seinem Konkurrenten Vedran Runje das Einser-Leiberl überlassen. Da dieser aber mittlerweile vereinslos ist, steht er nicht im Aufgebot von Bilic. Erster Herausforderer von Pletikosa ist nämlich Danijel Subasic. Der 27-Jährige wechselte im Winter zum AS Monaco, wo er, gemeinsam mit dem Ex-Austrianer Nacer Barazite, Teil der monegassischen Großinvestition für den geplanten Ligue-1-Aufstieg war. In Frankreichs zweiter Liga eroberte Subasic einen Stammplatz, zeigt gute Leistungen und erzielte am letzten Spieltag gegen Boulogne sogar ein“ frameborder=“0″ allowfullscreen> sehenswertes Freistoßtor. Schon vor seinem Wechsel an die Côte d’Azur galt er als hoffnungsvolle Zukunftsoption und bester Tormann in der kroatischen Liga. Um den dritten Platz matchen sich Ivan Kelava und Goran Blazevic, die beide in der heimischen Prva HNL ihr Geld verdienen. Kelava wurde mit Dinamo Zagreb überlegen Meister und kassierte ligaweit auch mit Abstand die wenigsten Gegentore. Während Blazevic in 27 Spielen 28 Mal bezwungen wurde, musste Kelava in 27 Ligapartien nur elf Mal den Ball aus dem eigenen Netz holen; zudem spielte er 18 Mal zu Null – Vorteil Kelava.
Innenverteidigung
Als fixe Größe in der Defensive der Kroaten gilt seit Jahren Josip Simunic. Der in Canberra geborene Verteidiger absolvierte für den Hamburger SV, Hertha BSC und Hoffenheim insgesamt über 270 Bundesligaspiele ehe er im vergangenen Sommer zu Dinamo Zagreb wechselte. Aufgrund kleinerer Verletzungen kam Simunic zwar nur auf elf Einsätze für den Meister, wird aber nicht um seinen Stammplatz zittern müssen – auch nicht wegen seiner fehlenden Dynamik. Neben der Erfahrung und Ruhe sprechen nämlich vor allem die technischen Fähigkeiten für einen Einsatz von Simunic. Seine potenziellen Nebenmänner sind Dejan Lovren und Gordon Schildenfeld, wobei man Ersterem mehr Potenzial zuspricht. Der hochveranlagte Lovren wechselte im Jänner 2010 für kolportierte acht Millionen Euro zu Olympique Lyon, bringt seine PS aber nicht immer optimal auf die Straße. Zudem bremste ihn im November eine Kreuzbandverletzung aus, was nicht unbedingt positiv zur Verbesserung seiner Inkonstanz beitrug. Ex-Sturm-Verteidiger Schildenfeld hingegen verkörpert das klassische Abwehrspiel, besticht aber durch seine sachliche Spielweise. Als vierten Innenverteidiger berief Bilic den köperlich starken Jurica Buljat ein, der ebenfalls am Turnier teilnehmen wird, da Vedran Corluka und Domagoj Vida – zwei moderne Varianten für die Innenverteidigung – auf den Außenpositionen in der Viererkette benötigt werden.
Außenverteidigung
Neben Corluka und Vida steht mit Sime Vrsaljko ein dritter Kandidat für die Rechtsverteidigerposition im erweiterten Kader, wobei davon auszugehen ist, dass einer der drei nach dem Vorbereitungscamp die Heimreise antreten muss. Corluka sitzt fest im Sattel und wird als Stammspieler in das Turnier gehen. Zwar zählt er nicht zu den schnellsten Spielern im Kader, dennoch kann er sich aufgrund seiner Technik aussichtsreiche Positionen für Flanken erspielen. Der körperlich starke 26-Jährige, der über große Spielintelligenz verfügt, war drei Premier-League-Saisonen lang – zuerst bei Manchester City, dann bei Tottenham – erste Wahl auf seiner Position, ehe ihn der Kameruner Assou-Ekotto 2010/2011 aus der Startelf spielte. Nach einer durchwachsenen Halbsaison bei Bayer Leverkusen kehrt Corluka nach der Europameisterschaft wieder nach London zurück. Vrsaljko und Vida sind in erster Linie als Kaderergänzungen anzusehen. Vrsaljko, der sämtliche Außenpositionen bekleiden kann, wird großes Potenzial bescheinigt, allerdings ist der 20-Jährige etwas in seiner Entwicklung stehengeblieben. Vida könnte hingegen eher auf den zentralen Positionen, also der Innenverteidigung und dem defensiven Mittelfeld, aushelfen. Der Blondschopf durchlief allerdings in den letzten Monaten ein Formtief und sorgte letztes Jahr in der Champions League mit einer fragwürdigen Geste ebenfalls für negative Schlagezeilen. Auf der linken Seite ist das Gedränge um einen Startplatz nicht so groß. Ivan Strinic ist gesetzt, während dahinter mit Bayerns Danijel Pranjic ebenfalls ein polyvalenter Spieler lauert. Der 30-Jährige ist beim deutschen Rekordmeister jedoch nur Reservist, wodurch er kaum Druck auf seinen Konkurrenten ausüben kann. Sehr wohl hätte das Manuel Pamic schaffen können, der Außenverteidiger von Sparta Prag wurde aber nicht von Bilic berücksichtigt. Die Pluspunkte des 25-Jährigen wären seine Schnelligkeit und hohe Frequenz beim Flanken. Strinic hingegen ist defensiv solider und hat aufgrund seiner Größe auch im Luftkampf Vorteile.
Zentrales Mittelfeld
Der Motor des kroatischen Spiels befindet sich im Zentrum. Luka Modric ist im Kader der einzige unumstrittene Führungsspieler bei einem europäischen Topklub. Oft unauffällig, aber effektiv und intelligent ordnet er das Spiel seiner Mannschaft, gibt mit Kurzpässen das Tempo an, sortiert seine Nebenmänner, bestimmt das Pressing und verfügt über eine außergewöhnlich hohe Spielintelligenz. Erkennt er Lücken, stößt er mit schnellen Dribblings in diese vor und sucht gegebenenfalls auch den Abschluss. Abgesichert wird der Starspieler von einem klassischen, zweikampf- und laufstarken Sechser. Wer das letzten Endes sein wird steht noch nicht fest. Weder Tomislav Dujmovic noch Ognjen Vukojevic, konnten zu hundert Prozent überzeugen. Vukojevic, der mit Modric schon bei Dinamo Zagreb zusammenspielte, bringt zwar die besseren Anlagen mit, überschreitet mit seiner Aggressivität jedoch manchmal klar die Grenzen des Legalen. Im Falle eines Ausfalls von Modric könnten zum einen die für den Flügel eingeplanten Kranjcar und Rakitic in die Mitte rücken, die weiteren Optionen dafür sind der bereits erwähnte Pranjic und Modrics Nachfolger bei Dinamo, Milan Badelj. Der 23-Jährige vereint gutes Passspiel mit solider Defensivarbeit, galt einst als Wunderkind und sollte die Nachfolge des legendären Zvonimir Boban antreten. Im letzten Sommer noch am Sprung in die Serie A, zeigte die Formkurve von Badelj in der abgelaufenen Saison oft nach unten und er blieb unter den Erwartungen, die zugegebenermaßen recht hoch angesetzt waren.
Offensive Außenbahnen
Ein weiterer Schlüsselspieler findet sich auf dem rechten Flügel wieder, wo mit Darijo Srna der Kapitän des kroatischen Teams spielt. Der 30-Jährige kann sein Spiel bei Bedarf ebenfalls sehr variabel anlegen, da er bei Shakhtar Donetsk die Rolle des Außenverteidigers ausfüllt. Srna sorgt für viel Breite im Spiel, bestreitet Zweikämpfe sehr intelligent und schlägt präzise Flanken – sowohl aus dem Lauf, als auch aus Standards. Im Playoff-Hinspiel in der Türkei war maßgeblich am Erfolg seiner Mannschaft beteiligt. Mit direkten Läufen schaltete er schnell von Defensive auf Offensive um und bereitet zwei der drei Tore vor. Auf der gegenüberliegenden Seite setzt Bilic auf zwei inverse Flügelspieler, die ursprünglich aus dem Zentrum kommen: Niko Kranjcar und Ivan Rakitic. Von der Spielanlage sind sich beide Akteure sehr ähnlich, verfügen über hohe technische Fähigkeiten und sind dribbelstark, jedoch fehlt es beiden etwas an Dynamik. So wie es derzeit aussieht dürfte Rakitic aufgrund der überschaubaren Einsatzstatistik Kranjcars den Vorzug erhalten. Ivan Perisic wird wie bei seinem Verein, Borussia Dortmund, vorerst nur ein Platz auf der Ersatzbank bleiben – obwohl er in den bisherigen Spielen einen guten Eindruck hinterließ. Der 23-Jährige bietet Bilic viele neue Möglichkeiten an, ist beidfüßig, schnell und abschlussstark, könnte mit seiner Kopfballstärke eine weitere neue Dimension ins Spiel bringen. Desweiteren könnte er eine Option für den Sturm sein, wo er bereits für Brügge auflief. Der letzte Außenbahnspieler im Kader, Ivo Ilicevic, ist da weniger flexibel einsetzbar und ist ein Kandidat für die Streichliste. Zwar könnte auch er das Spiel breit machen, seine letzten Leistungen beim HSV waren aber wenig überzeugend.
Stürmer
Sind in allen anderen Mannschaftsteilen die Hierarchien klar verteilt und gibt es überall einen herausragenden Akteur, so fehlt dieser Typ im Sturm. Lange Zeit war das Eduardo da Silva, doch der gebürtige Brasilianer hat seit seiner schweren Verletzung – im Feber 2008, damals noch bei Arsenal, brach ihm Martin Taylor Schien- und Wadenbein – einiges an Spritzigkeit eingebüßt und wirkt mental teilweise noch immer gehemmt. In Topform wäre er gesetzt, so muss er um seinen Stammplatz zittern. Die ersten Herausforderer kommen aus der deutschen Bundesliga. Für Ivica Olic hat Bilic ein besonderes Faible, da der 32-Jährige extrem viel für die Mannschaft arbeitet. Jedoch nagt an ihm bereits der Zahn der Zeit, was seine intensive Spielweise erschwert. Olics Neo-Vereinskollege Mario Mandzukic könnte die Ära der laufstarken Mittelstürmer fortführen und um einige Komponenten erweitern, ist nämlich sowohl im Kopfballspiel als auch am Ball stärker als Olic. Einzig die Erfahrung fehlt ihm. Den Brecher-Typ im Angriff verkörpern Nikica Jelavic und Nikola Kalinic. Während der ehemalige Rapid-Stürmer auch außerhalb des Strafraums effektiv in Kombinationen eingebunden werden kann, ist letzterer ein klassischer Strafraumstürmer. Kalinics Trefferquote kann sich zwar sehen lassen – alle 139 Ligaminuten trifft er für Dnipro – aber auch Jelavic scort regelmäßig. Damit ist eine EM-Teilnahme des 24-Jährigen in Schwebe, denn Perisic könnte wie schon erwähnt im ebenfalls Sturm aushelfen.
Aufstellung und Taktik
An der 4-4-2-Formation, die Bilic mit Ausnahme der Auswärtsniederlage gegen Griechenland während der ganzen Qualifikation spielen ließ, gibt es nichts zu rütteln. Die Ausrichtung ändert sich allerdings abhängig vom eingesetzten Personal. In der Regel begegnet man einem asymmetrischen System, bei dem viel von der Rolleninterpretation Srnas abhängt. Da er gelernter Außenverteidiger ist, kann er sich mit seinem Hintermann, Corluka, abwechseln und gegebenenfalls schon aus dem Halbfeld flanken. Auch auf der linken Seite kann man mit fluiden Positionswechseln rechnen. Stößt Modric vor, sichert der Flügelspieler ab – ebenso wenn der Linksverteidiger aufrückt. Auch, dass man Modric teilweise auf der linken Außenbahn finden wird, ist nicht ausgeschlossen, denn dort spielte er schon bei Dinamo. Als Konsequenz würde Raktic beziehungsweise Kranjcar in die Mitte rotieren, wo spielgestalterische Fähigkeiten besser zur Geltung kommen. Für die Breite auf der linken Seite wird Strinic sorgen. Im Angriff hingegen ist es schwer eine Prognose abzugeben, ein laufstarker Stürmer wird aber zwecks Anbindung ans Mittelfeld jedenfalls benötigt. Hier wird vieles von der Form der jeweiligen Spieler abhängen.
Mit Einwechslungen von Perisic und Jelavic könnte Bilic die Grundausrichtung variieren und verstärkt auf Flanken und geradlinigere Angriffe setzen.
Gegen sehr defensive Gegner wäre die Einführung einer Doppelacht mit Modric und Raktic denkbar, dafür würde Kranjcar über die linke Außenbahn kommen. Grundsätzlich scheint diese Variante unwahrscheinlich, bei entsprechender Konstellation – z.B. numerischer Überzahl und der Dringlichkeit eines Tores– wäre es allerdings eine effektive Möglichkeit um mit schnellen Passkombinationen den Gegner müde zu spielen.
Von den Namen her mag diese kroatische Mannschaft zwar nicht furchteinflößend klingen, die taktische Flexibilität, die sich aufgrund des polyvalenten Kaders ergibt, macht sie aber schwer berechenbar – mehr als ein Außenseiter-Tipp für das Viertelfinale.
axl, abseits.at
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