Deutschland scheitert erneut an Italien – Balotelli nützt Flüchtigkeitsfehler eiskalt aus
Finalspiele 29.Juni.2012 Alexander Semeliker 2
Einmal mehr bleibt der deutschen Nationalmannschaft ein internationaler Titel verwehrt. Im zweiten Halbfinale der Europameisterschaft 2012 unterlag das Team von Joachim Löw in einer hochklassigen Partie Italien mit 1:2. Matchwinner für die Squadra Azzurra war Stürmer Mario Balotelli. Das Enfant terrible des italienischen Fußballs erzielte beide Treffer und führte seine Mannschaft damit ins Finale, wo am Sonntag Titelverteidiger Spanien wartet.
Diese Halbfinalniederlage ist gleichbedeutend mit dem achten sieglosen Spiel einer deutschen Nationalmannschaft bei einem großen Turnier gegen eine Auswahl aus Italien. „Wir hatten jetzt zwei hervorragende Jahre, die Mannschaft hat sich klasse entwickelt. Wir haben 15 Spiele in Folge gewonnen und heute haben wir gegen unglaublich gute Italiener verloren. Es gibt keinen Grund, etwas anzuzweifeln. Wir haben die jüngste Mannschaft, die ein sehr gutes Turnier gespielt hat. Wir haben in einer starken Gruppe alle Spiele gewonnen und diese Mannschaft wird auch diese Niederlage verkraften“, ist Bundestrainer Jogi Löw auch in der bitteren Stunde des EM-Aus‘ stolz auf sein Team.
Kroos überraschend in der Startelf
Im Vergleich zum Viertelfinaltriumph gegen Griechenland stellte der 52-Jährige für das Halbfinale in der Offensive erneut ordentlich um. Für Andre Schürrle rückte Lukas Podolski in die Startelf. Dieser konnte jedoch kaum überzeugen und musste zur Pause in der Kabine bleiben. Ähnlich erging es Mario Gomez. Der Bayern-Torjäger bekam zwar zunächst den Vorzug gegenüber Miroslav, wurde allerdings auch in der Halbzeitpause ausgewechselt. Desweiteren musste Marco Reus, der gegen die Hellenen überzeugend agierte und das zwischenzeitliche 4:1 erzielte, ebenfalls zu Beginn auf der Ersatzbank platznehmen. Statt ihm feierte Toni Kroos sein EM-Startelfdebüt. Der 22-Jährige spielte zentral hinter der Solospitze und übernahm im Spiel gegen den Ball die Aufgabe Italiens Spielmacher zu decken. Mesut Özil begann im rechten Mittelfeld, zog aber oft in die Mitte.
Italien mit neuen Außenverteidigern
Cesare Prandelli beantwortete die taktische Frage der Formation mit einem 4-3-1-2. Die Mittelfeldraute wurde von denselben Spielern besetzt wie im Viertelfinale gegen England, das heißt Montolivo agierte wieder als falscher Zehner. Seine Aufgabe war das Raumschaffen für seine Mitspieler sowie situativ Pirlo im Spielaufbau zu entlasten. Dies gelang ihm zwar nicht ganz so gut wie im letzten Spiel, was aber auch an der zunehmend defensiven Haltung seiner Mannschaft lag. Dennoch zeigte er eine solide Leistung, suchte immer wieder die Räume zwischen den Linien und war ein wichtiger Spieler beim Pressing. Umstellen musste Prandelli auf den Außenverteidigerpositionen, wo der angeschlagene Abate fehlte. Da auch Maggio aufgrund einer Gelbsperre fehlte, musste der etatmäßige Linksverteidiger Balzaretti aushelfen, während Chiellini nach überstandener Verletzung auf die linke defensive Außenbahn zurückkehrte.
Isolation von Pirlo gelingt nur phasenweise
Wie in der Vorschau berichtet, ist es für die Einschränkung der Offensivstärke der Italiener essentiell, dass man spielentscheidende Pässe von deren Taktgeber Pirlo unterbindet. England machte dies kaum, wodurch Pirlo zur Entfaltung kam und aus der Tiefe heraus immer wieder gefährliche Situationen einleiten konnte. Löw schloss zwar eine Manndeckung des Altmeisters aus, hatte aber sichtlich an einer Lösung getrüffelt um den Routinier nicht ins Spiel kommen zu lassen. Mit der Hereinnahme von Kroos bot der deutsche Teamchef einen Spieler auf der Zehnerposition auf, der auch oft tiefer spielt und entsprechende Erfahrung im defensiven Stellungsspiel hat. Zwar blieb der Bayern-Akteur offensiv blass, spielte nur 48 Pässe, lief aber Pirlo meist gut an und drosselte die Gefahr aus dem defensiven Zentrum der Italiener. Der 33-Jährige hatte zwar erneut die meisten Ballkontakte seines Teams und liegt mit 65 gespielten Pässen auch insgesamt im Spitzenfeld, allerdings spielte er im Viertelfinalspiel noch fünfmal so viele Pässe ins Angriffsdrittel. Dem deutschen Team gelang es jedoch nicht Pirlo dauerhaft auszuschalte, wodurch er mit einem sehenswerten Seitenwechsel auf Chiellini das 1:0 einleitete.
Deutschlands rechte Seite zu passiv
Ebenso wie das erste Tor wurde auch das 2:0 über Italiens linke Seite eingeleitet, als Montolivo Balotelli mit einem langen Pass, der von Lahm falsch eingeschätzt wurde, einsetzte. Durch Özils zentrale Stellung ergab sich vor Boateng ein Loch, in das vor allem Chiellini vorstieß, was insofern überraschte als der Juve-Abräumer gelernter Innenverteidiger ist. In der Rückwärtsbewegung zog es den 27-Jährigen auch in diese Richtung, jedoch versäumte es Deutschland den sich dadurch öffnenden Raum entscheidend zu nutzen. Boateng agierte sehr verhalten und wurde bei seinen Vorstößen nicht oft genug als erfolgversprechende Anspielstation wahrgenommen. Mehr als ungefährliche Halbfeldflanken sprangen daher nicht heraus, vor allem nachdem sich Italien nach der 2:0-Führung zurückzog.
Agiles Sturmduo beschäftigt deutsche Abwehr
Nachdem Pirlo lange Zeit von Deutschlands zentralen Spielern an konstruktiven Vorwärtspässen gehindert wurde, reduzierten sich die Offensivbemühungen in erster Linie auf das Sturmduo. Während Balotelli meist mit langen Pässen eingesetzt wurde, zeigte Cassano einmal mehr eine beachtliche läuferische Leistung. Der 29-Jährige lief entweder die Zwischenräume der Viererkette an oder war zwischen den Linien zu finden. Beim 1:0 verschaffte er sich zunächst mit einem schnellen Antritt gegenüber Hummels einen Vorteil und düpierte diesen mit einer technisch anspruchsvollen Drehung. Ebenso hatte die deutsche Hintermannschaft mit der Schnelligkeit und Athletik Balotellis zu kämpfen. Außerdem überzeugte er mit einer fast hundertprozentigen Chancenauswertung, zwei von drei Schüssen landeten im Tor von Neuer, der dritte nur knapp daneben.
Löw reagiert in der Pause
Jögi Löw erkannte, dass er bei seiner Startaufstellung Fehler gemacht hatte. Podolski spielte enttäuschend, war trotz 24 Ballkontakten zu wenig präsent – vor allem im letzten Spielfelddrittel ging von ihm keine Gefahr aus, obwohl er sich der vermeintlichen Schwachstelle der Italiener gegenüberstand. Ersetzt wurde er von Reus, der gleich zu Beginn ordentlich Wirbel machte und mit einem Freistoßschlenzer noch am ehesten einem Torerfolg nahekam. Außerdem kam für die zweiten 45 Minuten Klose um den italienischen Abwehrriegel mit Kombinationen zu knacken. Ebenso wie die Dreierkette hinter ihm war der Lazio-Stürmer viel unterwegs, was der Defensive der Azzurri zunächst gar nicht bekam. Reus und Lahm hatten innerhalb kürzester Zeit zwei gute Einschussmöglichkeiten. Prandelli reagierte darauf, brachte mit Motta für Montolivo eine defensivere Variante, wodurch sich ein sehr enges 4-4-2 mit flachem Mittelfeld ergab, das sich mit den Einwechslungen von Diamanti und Di Natale als stark im Konter bewährte. Beide vergaben im Finish aber große Chancen. Diese kamen dadurch zustande, weil Löw mit der Hereinnahme von Müller für Boateng die Viererkette auflöste.
Warum Löw erneut scheiterte
Nimmt man das Halbfinalaus bei der Heim-WM 2006 dazu scheiterte das DFB-Team unter Joachim Löw schon zum vierten Mal in Serie kurz vor dem anvisierten Titel. Die Frage nach einem Teamchef für das deutsche Team scheint realistisch, doch woran lag es, dass der ehemalige Austria-Coach schon wieder kurz vor der Ziellinie in die Knie gezwungen wurde? Nachdem sein Team bei der WM 2010 Offensivfeuerwerke abbrannte wurde schon nach den ersten EM-Vorrundenspielen erste Kritiken laut, dass die DFB-Elf unattraktiv und ohne großes Engagement spielte. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass sich das deutsche Team mittlerweile einen Namen gemacht hat, vermeintliche Favoriten nicht wie England oder Argentinien in Südafrika ins offene Messer laufen. Dennoch hat man das Gefühl, dass man nicht ganz auf diese Spielweise der Gegner eingestellt war. Portugals Mittelfeldtrio spielte eine hervorragende Endrunde, entnervte sogar Spanien und gegen tiefstehende Däne musste für den Sieg ein Konter herhalten. Auch gegen Italien hatte man nach dem 0:2 nicht unbedingt das Gefühl die deutschen Spieler würden in Kürze einen Treffer erzielen. Spielmacher Özil war zwar bemüht, hatte aber das ganze Turnier über mit aggressiven Gegenspielern zu kämpfen. Schweinsteiger wirkt ausgepowert, zudem spielt er etwas tiefer als beim FC Bayern, wodurch seine Vorstöße mit dem Ball meist ausbleiben. Die deutsche Auswahl blickt wieder einmal auf ein großartiges Turnier zurück, stand nach vier Siegen in ebenso vielen Spielen, erneut in der Runde der letzten Vier, dennoch ist man im Nachbarland enttäuscht. Erneut waren es nur Nuancen, die einen möglichen Erfolg verhinderten. Rettet Pirlo in den Anfangsminuten gegen Hummels‘ Schuss nach einer Ecke nicht auf der Linie oder geht selbiger gegen Cassano nicht so übermotiviert in den Zweikampf, das Spiel wäre wohl ganz anderes verlaufen. Dennoch darf sich dieses Team Hoffnung auf eine große Zukunft machen. Junge Talente rücken nach, mit der Erfahrung wird die Abgebrühtheit kommen und man solche Schnittpartien gewinnen. Das kennt man von wo, nicht?
axl, abseits.at
Alexander Semeliker
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