Polen bleibt bei der Heim-Europameisterschaft weiter ohne Sieg. Im zweiten Spiel gegen die hochgehandelten Russen erreichte das Team von Franciszek Smuda ein 1:1. Damit... Noch ist Polen nicht verloren – müde Russen und Kubas Hammer lässt Gastgeber weiter hoffen

Polen bleibt bei der Heim-Europameisterschaft weiter ohne Sieg. Im zweiten Spiel gegen die hochgehandelten Russen erreichte das Team von Franciszek Smuda ein 1:1. Damit hat der Gastgeber das Weiterkommen noch immer selbst in der Hand, hätte sich aber eine günstigere Ausgangsposition für das letzte Gruppenspiel gegen Tschechien schaffen können. Neben dem Treffer von Blaszczykowski hatte man nämlich noch weitere Chancen.

Bereits in der siebenten Minute musste Russlands Keeper Malafeev nach einem Freistoß in höchster Not mit dem Fuß retten, fünf Minuten später jagte Lewandowski das Leder aus 20 Metern knapp drüber. Die Drangphase schlossen Polanski, der nur aus Abseitsposition traf, und eine Dortmund-Kombination über Blaszczykowski und Lewandowski ab. Danach wurden die Polen aber kalt erwischt, als Dzagoev nach einem Arshavin-Freistoß einköpfte. Dass sich Polen noch weiter gute Chancen aufs Viertelfinale ausrechnen darf ist Blaszczykowskis sehenswertem Kontertor in der zweiten Hälfte zuzuschreiben.

Dudka als zusätzlicher Stabilisator

Polens Kapitän musste im Vergleich zum Eröffnungsspiel auf einen offensiven Mittelfeldspieler verzichten, denn Smuda opferte Rybus um mit Dudka einen kampfstarken Sechser zu bringen. Der 28-jährige Routinier beschränkte sich auf Abräumaufgaben und diente als sichere Anspielstation im Zentrum. Obraniak rückte zwar auf dem Papier auf Rybus‘ linke Seite hinaus, zog aber sehr oft in die Mitte oder im Extremfall bis ganz auf die andere Seite hinüber. Das 4-3-2-1-System hatte somit, vor allem in der ersten Halbzeit, starken Rechtsdrall.

Denisov wieder arbeitsamer Antreiber

 

Ballsicher, schnörkellos und stark im Umschaltspiel präsentierte sich Russland gegen Tschechien. Diese Philosophie hatte Dick Advocaat auch in diesem Spiel ins Auge gefasst. Anyukov und Zhirkov spielten sehr hoch, während sich Denisov zurückzog, entweder zwischen die Innenverteidiger oder hinter einen der beiden Außenverteidiger. Der 28-Jährige war einmal mehr der Taktgeber im russischen Mittelfeld. Sagenhafte 118 Ballkontakte hatte der Zenit-Akteur, spielte 107 Pässe mit einer Genauigkeit von 92%. Ob da der Großteil Rück- und Seitpässe waren? Mitnichten. Zwei von drei Zuspielen erfolgten in Richtung gegnerisches Tor.

Russland sucht Lücken in Polens unsicherer Abwehr

Im Gegensatz zum 4:1 gegen die Tschechen wartete die russische Mannschaft am Anfang nicht ab, sondern übte Druck auf die nicht immer sattelfeste Verteidigung aus. Von der linken Seite startete Arshavin oft Alleingänge Richtung Tormitte, auf der rechten Seite rückte Dzagoev hinter Kerzhakov ein. Indes drängten die Außenverteidiger die beiden polnischen Flügelspieler weit zurück, womit sich die Formation der Smuda-Elf in Ballverlust zu einem breiten 4-5-1 ergab. Weiters wurde das Zentrum durch die beiden Achter, Shirokov und Zyryanov, überladen um das Leder nach Ballverlusten mit starkem Gegenpressing zurückzuerobern. Diese hohe Dichte im Zentrum löste bei der polnischen Hintermannschaft sichtlich Unbehagen aus, das durch viele Vertikalpässe in den Rücken der Viererkette verstärkt wurde. Die quirligen Angreifer Russlands wurden immer wieder mit Zuspielen in den Lauf auf die Reise geschickt und konnten nur mit viel Mühe von den Defensivspielern gebändigt werden. Die aufopferungsvolle Rettungstat des hölzernen Perquis im Strafraum, bei der er sich eine tiefe Wunde unter dem Knie zuzog, ist ein Sinnbild für diese Phase. Taktisch war die Defensivleistung der Polen einmal mehr nicht das Gelbe vom Ei, die hohe Zahl an Interceptions und Clearences sind aber ein Indikator dafür, dass das Engagement außergewöhnlich hoch war.

Polen nach Gegentor noch nervöser

Dass das 1:0 nach einer Standardsituation fällt – noch dazu ein Kopfballtor des kleinen Dzagoev – passt zwar auf den ersten Blick nicht in obiges Bild, sieht man sich aber die Ursachen genau an wird auch in dieser Szene die große Unordnung in der polnischen Hintermannschaft sichtbar. Zunächst fällt auf, dass Dzagoev beim Kopfball viel Platz hat, sein Bewacher Piszczek relativ weit weg ist. Auch hinter ihm wäre ein Teamkollege, nämlich Ignashevich, frei gestanden, da er von Boenisch nur halbherzig verfolgt wurde. Doch warum konnte Dzagoev so unbedrängt einnicken? Der 21-Jährige startete seinen Sprint bereits kurz bevor Arshavin zum Freistoß anlief, konnte damit dem antrittsstarken Piszczek innerhalb kurzer Zeit wichtige Meter abnehmen. Es deutet also alles auf eine einstudierte Variante hin. Mehmet Scholl sprach später in der ARD davon, dass das Zeichen ein Griff auf die Nase gewesen sei. Wie auch immer, dieses Tor verunsicherte die ohnehin wankenden Polen noch mehr. Kaum ein Pass kam mehr an, die Abstimmung zwischen den Spielern wurde noch schlechter. Vereinzelte Pfiffe von den Tribünen taten ihr Übriges.

Murawski unterstützt Polanski in Halbzeit zwei

Die Angriffe fuhr Polen wie erwartet vorrangig über die rechte Seite. Allerdings stellte sich die Offensivstruktur anders als gegen Griechenland dar. Neben Obraniak zog es auch Lewandowski oft auf den rechten Flügel, der zusammen mit Kuba überladen wurden. Polanski stieß zudem als Verbindungsspieler aus dem rechten Halbraum als zusätzliche Anspielstation dazu. Dadurch war in diesem Gebiet selbstverständlich kaum mehr Platz für Rechtsverteidiger Piszczek, der folglich keine Steilpässe erhielt und zu nicht zu seinen gefürchteten Flankenläufen ansetzen konnte. Auf der ballfernen Seite hielten sich die betroffenen Spieler meist zurück, Murawski rückte ein und Boenisch agierte genauso konservativ wie im ersten Match. Die Ausrichtung änderte sich aber nach dem Wiederanpfiff. Murawski rückte als zusätzliche Option eine Ebene weiter vor, wodurch sich eine Dreierreihe hinter Lewandowksi aufbaute, die noch dazu viel rochierte. Damit brachte man auch sowas ähnliches wie Breite auf die linke Seite, wodurch das Spiel mehr gestreckt wurde und entsprechende Steilpässe entlang dem rechten Flügel gespielt werden konnten. Nicht nur der Ausgleich wurde über diese Seite eingeleitet auch die Anzahl der Hereingaben von rechts schnellte in der zweiten Halbzeit in die Höhe, von einer auf sieben.

Berezutskiy und Ignashevich legen Lewandowski an die Leine

Ein weiterer wichtiger Fixpunkt in Polens Offensivspiel ist Stürmerstar Lewandowski. Der technisch beschlagene und abschlussstarke Angreifer ist vor allem aufgrund seiner Vielseitigkeit und Laufbereitschaft schwer zu verteidigen. Das russische Innenverteidiger-Duo erfüllte diese Aufgabe am gestrigen Abend aber durchaus gut. Berezutskiy und Ignashevich (Laufleistung: 10,29km bzw. 9,62km) verfolgten den Bundesliga-Torjäger auf Schritt und Tritt, ließen ihn immer wieder ihre athletischen Körper spüren. Selbst wenn die Zweikämpfe nicht auf direktem Weg gewonnen wurden, konnte der Ball durch anschließendes, effizientes Gegenpressing meist zurückerobert werden – Denisov, der von der Gegenseite Druck ausübte, kam zum Beispiel auf sechs abgefangene Pässe.

Russlands Außen brechen in Schlussphase ein

Das russische Team ist mit einem Altersdurchschnitt von knapp 30 Jahren das älteste der Endrunde, dementsprechend kommt man meist nicht drum rum diesen Fakt als Nachteil auszulegen. Gegen die Polen begannen die beiden Außenverteidiger – anders als gegen Tschechien – äußerst offensiv, hatten große Anteile an den Offensivaktionen. Sie waren diejenigen, die Breite ins Spiel brachten und die gegnerischen Außenspieler defensiv banden. Mit Fortdauer des Spiels ging diese Wirkung aber verloren, der Einfluss auf das Spiel wurde geringer, wie in nebenstehender Grafik anhand der Schriftgröße zu entnehmen ist. Es ist daher durchaus möglich, dass sich dieser Effekt mit Fortdauer des Turniers als großer Nachteil herausstellt, will man dem Ruf des Geheimfavoriten gerecht werden.

axl, abseits.at

Alexander Semeliker

@axlsem

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert