Französische Kreativität trifft auf englischen Pragmatismus – kein Sieger im Spitzenspiel der Gruppe D
Gruppe D 12.Juni.2012 Stefan Karger 0
Frankreich und England trennten sich gestern Abend im Spitzenspiel der Gruppe D mit einem 1:1-Unentschieden. Während die Truppe von Trainer Roy Hodgson nach den 90 Minuten mit der Punkteteilung zufrieden sein wird, wird die Équipe Tricolore zwei verlorenen Punkten nachtrauern, da sie lange die spielbestimmende Mannschaft war und wesentlich mehr für die Partie tat. Nicht zu verlieren war jedoch offensichtlich für beide Mannschaften wichtiger als ein Sieg.
Aus taktischer Sicht hatte die mit Spannung erwartete Partie zwischen Frankreich und England durchaus einiges zu bieten, Zuschauer die sich jedoch einen offensiven Schlagabtausch mit zahlreichen Großchancen erwarteten, wurden vom Spiel sicherlich enttäuscht. Die Engländer legten von Beginn an ihr Spiel recht passiv an, verteidigten tief mit zwei Viererketten und ließen die spielstarken Franzosen oftmals bis 25 Meter vor dem eigenen Tor komplett in Ruhe gewähren. Besonders in der zweiten Hälfte, als sich die Franzosen besser auf die englische Taktik einstellten, agierten die beiden englischen Viererketten sehr tief und es war schon während der Partie absehbar, dass nach dem Spiel Vergleiche zum diesjährigen Champions-League-Sieger aufgestellt werden würden. Der linke Außenverteidiger Patrice Evra stellte nach dem Spiel fest, dass die Darbietung der Engländer ihn an die Spielweise von Chelsea FC gegen den FC Barcelona erinnerte.
Aufstellung der Franzosen ohne große Überraschungen
Trainer Laurent Blanc konnte auf alle wichtigen Spieler zurückgreifen und schickte eine 4-1-2-3-Formation gegen die Engländer aufs Feld. Alou Diarra zeigte eine souveräne Leistung im defensiven Mittelfeld, verteilte die Bälle äußerst sicher (hundertprozentige Passquote!) und nahm Englands hängende Spitze Ashley Young aus der Partie. Die offensiven Flügelspieler der Franzosen, Samir Nasri und Frank Ribery, zogen stark in die Mitte und wechselten zusammen mit Karim Benzema ständig ihre Positionen. Die beiden Außenverteidiger Patrice Evra und Mathieu Debuchy sorgten für Druck nach vorne und fanden oftmals viel Platz vor, da die offensiven Flügelspieler nach innen zogen und so ihre Gegenspieler an sich banden.
Roy Hodgson vertraut jungem Alex Oxlade-Chamberlain
Der Trainer der Engländer setzte auf eine 4-4-1-1-Fomation und stellte ein wenig überraschend den 18-jährigen Arsenal-Spieler Alex Oxlade-Chamberlain von Anfang an im linken Mittelfeld auf. Ansonsten begann jene Mannschaft, die man sich nach den zahlreichen Ausfällen erwarten durfte. Ganz vorne im Sturm agierte Danny Welbeck, ein wenig dahinter kam Ashley Young als hängende Spitze zum Einsatz. Steven Gerrard und Scott Parker sollten im zentralen Mittelfeld die Räume eng machen, während James Milner am rechten Flügel für Gefahr sorgen sollte. Im Abwehrzentrum agierten John Terry und der Schütze der Führungstreffers, Joleon Lescott, während Ashley Cole und Glen Johnson als Außenverteidiger zum Einsatz kamen. Im Tor begann natürlich Joe Hart, der sich einige Male auszeichnen konnte.
Viele Positionswechsel in der französischen Offensive….
Besonders in der ersten Halbzeit fanden die Franzosen nur selten ein Mittel gegen den englischen Abwehrverbund. Die beiden englischen Viererketten zogen sich bei gegnerischem Ballbesitz weit zurück und machten oftmals keine Anstalten den Ball zu erobern. Sie ließen die Franzosen bis zu einer gewissen Grenze gewähren, stellten die Räume zu und ließen sich nicht herauslocken. Bei Ballgewinn sollten schnelle Spieler wie Oxlade-Chamberlain, Young und Welbeck gefährliche Konter fahren, was allerdings nur selten wie gewünscht funktionierte. Die meiste Gefahr ging von den französischen Flügelspielern Samir Nasri und Frank Ribery aus. Die beiden zogen stark in die Mitte, tauschten oftmals ihre Positionen, was man gut an der Grafik rechts oben sehen kann, die die durchschnittlichen Positionen der französischen Spieler anzeigt. Samir Nasri präsentierte sich wieder einmal als extrem ballsicherer Spieler. Der Manchester-City-Legionär kam auf eine Passquote von 91%, wobei von den kurzen Zuspielen sogar 98% aller Bälle ankamen (91 von 93). Der Manchester-City-Legionär konnte zudem acht Schlüsselpässe spielen, also Zuspiele, die zu einem Tor führen hätten können. Auch Ribery zeigte sich in dieser Hinsicht gut gelaunt und kam auf sechs Schlüsselpässe und ebenfalls eine erfolgreiche Passquote von 91%.
…allerdings ohne letztem Nachdruck
Die beiden Außenverteidiger Debuchy und Evra fanden auf ihren Seiten recht viel Platz vor und nutzten diesen einige Mal gut aus, sodass das Spiel der Franzosen an Breite gewann. Beide Abwehrspieler hätten jedoch ein wenig konsequenter nach vorne gehen können, denn man konnte gut feststellen, wie sie sich manchmal noch während der Offensivaktionen aus Angst vor gegnerischen Kontern wieder zurückfallen ließen. Hätten die beiden Außenverteidiger ihre Rolle noch offensiver angelegt, wie etwa Darijo Srna im Spiel der Kroaten gegen Irland, dann wären die Angriffe der Franzosen weit gefährlicher gewesen.
Schüsse aus der zweiten Reihe die Folge
Da der englische Defensivverbund tief und kompakt stand, konnten sich die Franzosen nur selten bis ganz vors Tor kombinieren. Die Engländer verzichteten meist auf den ballführenden Spieler Druck zu erzeugen, sodass Schüsse aus der zweiten Reihe die zwingende Folge waren. Während die Engländer nur fünfmal aufs Tor schossen, versuchten die Franzosen gleich 21 Mal Joe Hart mittels Distanzschüssen zu bezwingen. Die Engländer kamen einmal im Fünfmeterraum zum Abschluss, dreimal im Strafraum und nur einmal außerhalb des Strafraums. Die Franzosen hingegen konnten nach den 90 Minuten gleich 15 Schussversuche außerhalb des Strafraums vorweisen. Im Strafraum kamen sie hingegen “nur“ zu fünf Schussversuchen, einmal kamen sie im Fünfmeterraum zum Abschluss. Benzema war mit sechs Schüssen der fleißigste Schütze, gefolgt von Cabaye (4), Malouda (3), Nasri (3) und Diarra (2). Insgesamt schossen acht verschiedene Franzosen aufs englische Tor, während nur vier verschiedene Engländer einen Schuss aufs Tor von Lloris abfeuerten. Drei der vier englischen Schützen waren zudem Abwehrspieler, die nach Standardsituationen zum Abschluss kamen. James Milner war der einzige Spieler außerhalb der englischen Abwehrkette, der einmal zum Abschluss kam. Der Mittelfeldspieler verfehlte jedoch nach der einzigen wirklich schön herausgespielten englischen Chance aus etwas spitzem Winkel das leere Tor. Die meisten Angriffe der Engländer wurden über Milners Seite vorgetragen. Während nur 29% aller Angriffe über den linken Flügel und 21% über das Zentrum gespielt wurden, kam jeder zweite Angriff über die rechte Seite. Die Franzosen bevorzugten indes den linken Flügel (40%), während je 30% der Angriffe über rechts und zentral vorgetragen wurden.
Fazit
Die Franzosen waren die klar spielbestimmende Mannschaft und arbeiteten sich gegen tiefstehende Engländer weit mehr Chancen heraus. 31% der Spielzeit war der Ball im englischen Drittel, während er nur zu 22% der Spielzeit im Drittel der Franzosen war (siehe Grafik rechts). Man merkte allerdings beiden Mannschaften an, dass sie in erster Linie nicht verlieren wollten und damit spekulierten, dass sie gegen die beiden anderen Gruppengegner, Schweden und die Ukraine, die entscheidenden Punkte einfahren werden. Wäre es in dieser Partie direkt um den Aufstieg ins Viertelfinale gegangen, dann wäre das Spiel wahrscheinlich interessanter geworden, denn die Franzosen hätten mit mehr Spielern in der Offensive angreifen müssen und die Engländer hätten wohl größere Chancen bei ihren Kontern erhalten. So aber fehlte der hundertprozentige Siegeswille und man hatte den Eindruck, dass beide Mannschaften mit der Punkteteilung gut leben konnten. Von den Franzosen darf man sich im Laufe des Turniers noch einiges erwarten, insbesondere da die Offensivspieler sich gegen andere Mannschaften sicherlich ein wenig leichter tun werden, als gegen die extrem defensiven Engländer. Bei den Engländern darf man gespannt sein, wie sie die kommenden Gruppenspiele angehen werden. Gegen Schweden und die Ukraine werden sie weit mehr für das Spiel machen müssen, da eine reaktive Spielweise für den Aufstieg wohl nicht ausreichen wird. Einen großen Vorwurf kann man den pragmatisch spielenden Engländern nach der Partie gegen die Franzosen aber nicht machen. Aufgrund der personellen Situation darf ein Unentschieden gegen den wohl stärksten Gruppengegner als Erfolg gewertet werden.
Stefan Karger, www.abseits.at
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