Auf der Dreieckwiese im Wiener Gemeindebezirk Meidling herrschte einst jeden Nachmittag rege Betriebsamkeit. In den 40ern tobten viele Kinder auf der riesigen Grünfläche zwischen Altmannsdorfer und Schönbrunner Allee. Die meisten der anwesenden Buben trafen sich zum Kicken. Irgendeiner hatte immer einen Ball dabei und nachdem die Mannschaften ausgelost waren, lief man sich die Füße wund bis die Sonne unterging und man nichts mehr erkennen konnte. Dann und wann tauchten neue Gesichter auf. Einem der Anführer auf dem Platz machte eines Tages ein kleiner Blondschopf seine Aufwartung: „Derf i mitspün?!“, fragte der 1929 Geborene. Toni, der „Alteingesessene“, nickte und nahm den zierlichen Buben in seinem Team auf. Nach wenigen Minuten bereute er diese Entscheidung allerdings: Aufgrund seiner Körpergröße war der Kleine den meisten Kindern unterlegen, da half auch sein beherzter Einsatz wenig. Die nächsten Tage tauchte er wieder auf. Doch bald ging es vielen gegen den Strich, dass ihnen dieser Gschropp ständig zwischen den Füßen herumlief. Der zarte Meidlinger brachte kaum brauchbare Schüsse zusammen und auch seine Dribbelfähigkeiten lagen weit unter dem Durchschnitt. Am Allermeisten machte ihm sein zierlicher Körperbau einen Strich durch die Rechnung: Klein und dünn war er gegen so manchen Pubertierenden mit Vorstadtmentalität im Eins-zu-Eins chancenlos. Beim Auslosen der Mannschaften atmete man jedes Mal auf, wenn man den Klotz am Bein beim Gegner unterbrachte. Aber so plötzlich er gekommen war, verschwand er auch wieder. Er ließ sich ohne Vorwarnung nachmittags nicht mehr auf der Dreieckwiese blicken. Es dauerte nicht lange bis ihn die anderen Kinder vergessen hatten.
Talentsucher der umliegenden Wiener Vereine schauten immer wieder auf der Dreieckwiese vorbei. Besonders häufig schickte Wacker Wien, der Klub, der 1906 in dieser Gegend gegründet worden war, einen Jugendtrainer zum Spähen aus, der dann die Besten zum Training auf den alten Wackerplatz in der Edelsinnstraße lotste. Toni und ein weiterer Dreiecks-Kicker wurden eines Nachmittags gefragt, ob sie nicht auch Lust hätten in der schwarz-weißen Knabenmannschaft zu spielen. Stolz stapften sie wenige Tage später zum Training, dort angekommen trauten sie ihren Augen nicht: Beim etablierten Ligaklub spielte jetzt jener Bub, den sie einst für zu schlecht befunden hatten. Er spielte nicht nur, er gab den Ton an. Plötzlich war er den anderen weit überlegen und besonders seine Spielintelligenz schoss jedem Zuseher sofort ins Auge. Toni und sein Freund mussten einsehen, dass sie sich in dem kleinen Wiener getäuscht hatten. Toni, damals selbst ein Volksschüler, widmete sich von nun an mehr seiner Geige, Fußball spielte für ihn nur mehr eine untergeordnete Rolle. Er absolvierte später das Musikkonservatorium, jazzte als Erwachsener mit Hans Salomon und Joe Zawinul, komponierte Filmmusik und nahm unzählige Platten und CDs auf. Der Mann von dem hier die Rede ist, heißt Toni Stricker. Stricker feierte im April seinen 86. Geburtstag. Der (un)begabte Bub, der bei Wacker groß wurde, war Gerhard Hanappi und ist eine der größten österreichischen Spielerlegenden. Der Mittelfeldspieler stand bis zu seinem 35. Lebensjahr für den SK Rapid Wien am Platz und entwarf später dessen Heimstätte. Vor den Augen seiner ehemaligen Spielkameraden avancierte er zunächst zu Wackers Lebensversicherung und zum begehrtesten Fußballer Wiens. Mit den Hütteldorfern einigte sich Hanappi auf einen Wechsel, sein Stammverein verweigerte allerdings die Zustimmung. Sektionsleiter Binder versteckte das fußballerische Allround-Genie bis die Sache abgekühlt war. Als der Transfer schließlich klappte, schworen Wacker und seine Fans den Grün-Weißen ewige Rache. Die Ewigkeit dauert schon seit geraumer Zeit nicht mehr an. Heute ist längst Gras über die Sache gewachsen: Auf dem Wackerplatz sporteln die Buben und Mädls der Wiener Schulen. Nur mehr ein Bestandteil im Namen der Mödlinger Admira erinnert an den legendären Kultklub aus dem 12. Bezirk. Rapid Wien spielt seit Sommer in einem neuen Stadion auf dem Gerhard-Hanappi-Platz 1. Der „Gschropp“ selbst ist im Alter von nur 51 Jahren viel zu früh verstorben.
Marie Samstag, abseits.at
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