Dass Ivica Osim Sturm Graz Jahrhunderttrainer wurde, könnte auf mysteriöse Weise schon vorgegeben gewesen sein, schließlich erblickte Osims Großvater in Ruše (Slowenien), damals: Untersteiermark,... Anekdote zum Sonntag (258) –  Kleine Zeitung, großer Trainer

Dass Ivica Osim Sturm Graz Jahrhunderttrainer wurde, könnte auf mysteriöse Weise schon vorgegeben gewesen sein, schließlich erblickte Osims Großvater in Ruše (Slowenien), damals: Untersteiermark, das Licht der Welt. Osim selbst dagegen wurde mitten im Zweiten Weltkrieg in Sarajevo geboren und fühlte sich Zeit seines Lebens als Jugoslawe, der das Auseinanderfallen seiner Heimat nicht verkraftete. Obwohl er als Trainer ein Weltreisender war, fand er in Graz so etwas wie eine zweite Heimat, in der er am 1. Mai 2022 auch starb.

Nachdem sein Vater als Schlosser bei der Eisenbahn arbeitete, startete der junge Ivan, genannt Ivica, seine Fußballkarriere in den 1950er-Jahren beim FK Željezničar, dem Klub der Bahnarbeiter Sarajevos. Als offensiver Mittelfeldspieler machte er sich rasch einen Namen und wurde auch Teamspieler. Seinen größten Erfolg feierte er bei der EM-Endrunde 1968 in Italien, bei der er mit Jugoslawien Vize-Europameister wurde und auch ins All-Star-Team gewählt wurde. In seiner Vereinskarriere spielte er für einige französische Klubs ehe er 1978 bei Željezničar ins Trainergeschäft einstieg und dort auch schnell erfolgreich war.

Ab 1986 coachte Osim das jugoslawische Nationalteam, trat aber wegen des Balkankrieges unter Tränen von seiner Position zurück. Der Ex-Mittelfeldspieler ging ins Exil und trainierte Panathinaikos Athen. In dieser Zeit bangte er tagtäglich um das Leben seiner Familie, die noch in Sarajevo war: „Ich wünsche das niemandem. Nach jedem Telefonanruf wusste ich nicht weiter.“, erinnerte er sich später. Sein Ex-Mitspieler Heinz Schilcher, mit dem er in Strasbourg zusammengespielt hatte, holte ihn schließlich 1994 an die Mur. Sturm war ein Projekt nach Osims Geschmack: Finanziell krachten die Steirer zwar, hatten aber junge, hungrige Talente. Osim ließ Mählich, Prilasnig und Co. jeden Tag schuften und seinen schnellen Ballbesitzfußball üben. Akribisch bereitete er sich auf die Gegner vor und das zeigte bald Früchte: „Ich habe einen Wundertrainer.“, verkündet Präsident Kartnig Mitte der 90er stolz. Zwei Meisterschaften, drei Pokale, drei Supercups, CL-Erfolge, gigantische Fanzuwächse standen nach acht Jahren Osim in Graz zu Buche. Osim blieb Sturm zeitlebens verbunden; der Kreis schloss sich als er am 113-jährigen Geburtstag seiner Schwarz-Weißen verstarb.

„Erfolgreich ist eine Mannschaft, wenn sie etwas bewegt, nicht aufgrund ihrer Pokale.“, philosophierte der Jugoslawe. Er war ein sensibler, sachlicher Trainer; kein Zornbinkerl oder herumhüpfender Motivator und hatte mit seiner Art überall Erfolg. Dabei blieb er bescheiden, spielte seine Rolle stets herunter, obwohl er seine Spieler hinter den Kulissen auch härter anfasste. Markus Schopp erinnerte sich: „Ihm war klar, dass ich öfters einen Tritt in den Arsch brauchte und den habe ich bekommen.“ Nach abnehmenden Leistungen der Mannschaft und Streitigkeiten mit dem Präsidium musste Hannes Kartnig 2002 den Rücktritt Osims weinend akzeptieren. Sturms Jahrhunderttrainer zog weiter nach Japan, wo er sowohl im Vereinsfußball als auch in der Nationalmannschaft weitere Erfolge feierte, ehe er sich 2007 aus dem Fußballgeschäft zurückzog.

Drei Jahre später besuchten ihn die österreichischen Journalisten Zottler und Ticar für ein Interview in Sarajevo. Osim hatte damals gerade zwei Schlaganfälle hinter und seinen 70. Geburtstag vor sich. Der Ex-Trainer überraschte aber nicht nur mit geistiger Fitness, sondern auch mit einer Portion Frechheit, die er in seiner aktiven Zeit bei Interviews kaum gezeigt hatte. Damals war „Švabo“, wie man ihn seit Jugendtagen wegen seiner blauen Augen und blonden Haare rief, eher wortkarg gewesen. Als die beiden Reporter ihre Notizblöcke auf den Tisch legten und Osim das Logo der „Kleinen Zeitung“ erkannte, schmunzelte er und meinte: „Kleine Zeitung, große Scheiße!“. Zottler und Ticar waren perplex. Wortlos starrten sie Osim an. Doch der grinste nur und mutierte trotz seiner imposanten Statur von 1,89 Meter und dem schlohweißen Haar zum Schulbuben: „Scherz! Liebe Grüße an August Kuhn!“, beschwichtigte der 16‑fache jugoslawische Teamspieler und gedachte dem seinerzeitigen Haus- und Hof-Berichterstatter von Sturm. Zottler und Ticar führten in der Folge das erste große Gespräch mit dem Fußballgelehrten seit einigen Jahren: „Seine Antworten waren extrem lang, mit Fragen konnte man ihn kaum unterbrechen. Er hat das Tempo vorgegeben, seine Anekdoten erzählt und beeindruckt waren wir vor allem von seinem außergewöhnlichen Erinnerungsvermögen an vergangene Spiele.“ Nicht nur davon, sondern auch von der – wortwörtlich – kleinen Spitze gegen Kuhn zeigten sich Zottler und Ticar begeistert. Osim blieb bis zu seinem Tod mehr als ein Trainer, er war ein vielfältiger Fußballgelehrter, der über den Rand des Spielfeldes hinausblickte. So sagte er einmal: „Kampf der Kulturen? Normalerweise kämpfen Kulturen nicht. Deshalb sind sie ja Kulturen. Weil sie keine Kriege führen.“ Wahre Worte.

Marie Samstag, abseits.at

Marie Samstag