Am Sonntag kann Sturm Meister werden. Die steirische Landeshauptstadt hat eine ganz spezielle Stimmung erfasst. Versuch einer Bestandsaufnahme.
„Beflaggt eure Häuser!“ Der Aufruf von Sturmtifo.com, der Foto- und Videoplattform der organisierten Sturm-Fans, schlägt voll ein. Unzählige Foto-Einsendungen erreichen die Website. Schwarzweiße Fahnen hängen auf Fahnenstangen im Garten, aus Fenstern, von Balkonen. Und auch wer dieser Tage aufmerksam durch die steirische Landeshauptstadt flaniert, sieht tatsächlich immer wieder beflaggte Häuserzeilen. Es ist eine ganz besondere Stimmung, die Graz erfasst hat. Generell scheint jeder über Fußball zu sprechen. Der Aufstieg des GAK in die Bundesliga wird auch seinen Teil dazu beigetragen haben. Das, und dazu muss man keine schwarzweiße Brille aufhaben, grassierende Fußballfieber ist aber dem SK Sturm zuzuschreiben. Gewinnen die Schwarzen am Sonntag in Liebenau gegen Austria Klagenfurt, steht der vierte Meistertitel der Vereinsgeschichte fest. Ein Remis reicht nur, wenn auch Salzburg gegen den LASK remisiert. Oder beide Titelaspiranten verlieren. Dann ist auch Sturm Meister. Die Entscheidung fällt also wie bei den Titeln 1999 und 2011 in der letzten Runde, da die Grazer den ersten Matchball in Linz per 2:2 vergeben haben und beschert Fußball-Österreich das spannendste Titelrennen seit Jahrzehnten. Und Graz die angesprochene, ganz spezielle Stimmung.
Sturm ist immer Thema in der Stadt. In den Lokalen. In den Büros. „Hast Karten für Sonntag?“, „Hast den Latten-Köpfler vom Jatta in Linz gesehen? Zwei Zentimeter weiter unten und wir hätten gefeiert.“, „Glaubst, es geht sich aus am Sonntag?“ Immer wieder wird man mit solchen Fragen konfrontiert oder kriegt Gesprächsfetzen im Gastgarten oder der Straßenbahn mit. Trägt man Sturm-Leiberl, -Weste oder -Kapperl wird man noch schneller in Konversationen verwickelt. Und es sind nicht wenige, die die schwarzweißen Farben am Outfit durch die Grazer Straßen tragen dieser Tage. Am Bezirksportplatz sieht man nicht mehr so viele Kinder mit Messi-, Ronaldo- oder Mbappe-Dressen wie früher. Auf den Rücken der Buben und Mädels prangen Namen wie Hierländer, Wüthrich, Prass oder Biereth. Kritiker mögen jetzt einwerfen, dass Sturm scheinbar aufgrund des sportlichen Erfolges eben modern ist und dass sich das beim ersten Einbruch wieder legen wird. Wer aber die Jahre des Vereinskonkurses, des Punkteabzuges in den Nullerjahren erlebt hat, weiß, dass das auch damals, in den dunklen Tagen des Vereins, nicht viel anders war. Man mag es nicht Hype nennen, was momentan in Fußball-Graz passiert. Zu viel wird auch gejammert, als dass man es als Positiv-Modeerscheinung titulieren könnte. Denn „Der Titel könnt schon lang fix sein!“ oder „Der Biereth muss in Salzburg das 3:0 machen, dann samma längst durch“ oder „Wennst gegen Hartberg daheim nicht gewinnst, wirst nicht Meister“. Es wird auch viel kritisiert, bei Gott ist nicht alles super wenn man mit Sturm-Fans über ihre Mannschaft spricht. Das war schon immer so. Doch diesmal ist sogar das Jammern anders. Denn egal was war, jeder Kritiker trägt doch auch das in sich, was dieser Tage um sich greift und Skeptiker sowie Euphorisierte eint: Diese enorme Hoffnung, dieses Sich-Sehnen nach dem ersten Titel seit 13 Jahren.
Da erwischt man sich selbst dabei, wie man ins Nachdenken, ja vielleicht ins Träumen kommt, wenn man in den Tagen vor dem finalen Spiel, dem „Finale daham“ wie es eine steirische Tageszeitung nannte, über den Grazer Hauptplatz schlendert. Was wird am kommenden Montag hier los sein? Wird überhaupt etwas los sein? Wird der Pfingstmontag einfach so vorüber gehen oder wird hier ein emotionaler Siedepunkt seiner Explosion entgegenstreben, weil es was zu feiern gibt? Was wird sein? Was passiert in diesen, jetzt schon so aufgeladenen, 90 Minuten am kommenden Sonntag im Liebenauer Stadion? Vor dem geistigen Auge tauchen Bierduschen auf sowie hemmungsloser Jubel, jedoch auch am Rasen kauernde Spieler voller Enttäuschung. Und diese eine große Furcht: Vor der Leere. Dem Wir-haben-es-nicht-geschafft. Vor dem persönlichen „Leverkusen-2001-Gefühl“, dem „Dortmund-2023-Horror“. Dagegen wird angesungen, auch innerlich und leise, nur für sich: „Wir werden Meister“. Kurz: Kopfkino zwischen Märchen und Drama, in Dauerschleife. Die Gefühlslage ist wie das aktuelle Wetter: Wechselhaft. Das wird die Fans bis zum großen Tag begleiten und sie die Stunden zählen lassen bis es los geht. Rainhard Fendrich ist zwar kein Sturm-Fan, doch eine Textpassage von ihm drückt viel aus, was viele solcher gerade empfinden: „…und dann mei Gfüh‘, so zwischen Angst und Euphorie…“
Graz atmet dieser Tage Fußball. Die Häuser, sie sind beflaggt. Die Uhr tickt. Noch vier Tage.
Philipp Braunegger für abseits.at
Philipp Braunegger
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