Kommenden Sonntag kommt es im Wiener Ernst-Happel-Stadion zum insgesamt zweihundertachtundneunzigsten Mal zum Spiel aller Spiele. Zumindest sehen das die Anhänger der Wiener Großklubs so,... Kein Spielabbruch, der einer war: Ein kurioses Wiener Derby aus der Saison 1922/23

Kommenden Sonntag kommt es im Wiener Ernst-Happel-Stadion zum insgesamt zweihundertachtundneunzigsten Mal zum Spiel aller Spiele. Zumindest sehen das die Anhänger der Wiener Großklubs so, für einen Linzer oder Grazer Fan gibt es wohl wichtigere Spiele. Wenn aber das eine Wien aufs andere Wien trifft, dann liegt Elektrisches in der Luft, dann atmet der Himmel über Riesenrad und Stephansdom eine ganz besondere Spannung. Dann wird allen klar: Es ist Derbytime!!! In der nahezu unüberschaubar weiten Geschichte dieses ewigjungen Duells hat es immer schon ganz besondere Spiele gegeben. Spiele, die Gesprächsstoff für Wochen, Monate, ja, Jahrzehnte lieferten. Spiele für die Ewigkeit – und das im Guten wie im Schlechten.

Von 2011 nach 1923

Eines aus der Kategorie der Schlechten war das letzte Aufeinandertreffen des SK Rapid und des FK Austria, das bekanntermaßen ein unrühmliches Ende gefunden hat. Der Platzsturm vom 22. Mai 2011 geistert seither durch die hiesigen Sportgazetten und Internetforen. Dabei fällt oftmals der Hinweis, dass es nicht der erste Platzsturm gewesen sei und dass es schon eine gewisse, wenn auch fragwürdige Tradition gibt. Es stimmt, dass es nicht der erste Platzsturm in Österreich war und schon gar nicht der erste Spielabbruch. Da muss man schon weiter zurückschauen. Nämlich in eine Zeit, als man den Ausdruck ‚Ein Spieler zum Angreifen‘ noch wortwörtlich nehmen konnte. Denn so nahe war man, wenn man denn wollte, dem Spielgeschehen. Will man etwas über den ersten Abbruch eines Wiener Derbys erfahren, so muss man zwischen die beiden Weltkriege springen. Genauer gesagt ins Jahr 1923. Und wenn man es ganz genau nimmt, so war das damals in der Zwischenkriegszeit nicht einmal ein echter Abbruch.

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„Ein Meisterstück zu vollbringen ..“

„.. hat heute der prädestinierte Titelanwärter RAPID, der auf seinen unmittelbaren Tabellennachfolger, auf den AMATEUR-SPORTVEREIN stoßt. Ein Meister, der nicht alle Konkurrenten mindestens einmal zu meistern vermochte, ist klein ganz richtiggehender Meister.“, dies war am 2.Juni 1923 im Sport-Tagblatt zu lesen. Und weiter: „Nun haben die Amateure unserem angehenden Ligachampion im ersten Zusammentreffen der laufenden Meisterschaft eine geradezu vernichtende Niederlage zugefügt, so daß dem Triumphe der Hütteldorfer in dem Dauerbewerb doch ein Schönheitsfehler anhaften würde, wenn auch der zweite Gang verloren ginge.“ Die Ausgangslage vor diesem hochbrisanten Spiel war eindeutig, sollte Rapid auf der Hohen Warte gewinnen, wäre ihnen die Meisterschaft nur noch schwer zu nehmen gewesen (wie ein Blick auf die Tabelle zeigt). Bei einer Niederlage, wie sie schon im ersten Aufeinandertreffen (3:7) passiert war, würde die Austria noch einmal herankommen.

Guter Besuch auf der Hohen Warte

Damals war es üblich, für besonders gut besuchte Spiele die Hohe Warte zu nützen, die nicht selten 40.000 Zuschauer zu Gesicht bekam, zwei Monate zuvor fand hier das torlose Spiel Österreich gegen Italien vor einer Rekordkulisse (85.000) statt. An diesem späten Sonntagnachmittag fanden sich etwas weniger, aber immer noch stolze 30.000 Zuschauer in Döbling ein, wo sie vor dem Hauptspiel noch ein Aufeinandertreffen der beiden Reserven erleben durften. Dass dabei sogar Spieler der Kampfmannschaft, die nachher noch einmal ran mussten, aufliefen, ist ein Umstand der Zeit, in der wir uns gerade bewegen. Die Stimmung war angeblich schon bei diesem Vorspiel aufgeheizt und das Publikum, das um den bespielten Platz herum bis knapp hinter der Spielfeldbegrenzung, nur getrennt durch eine niedrige Barriere, Aufstellung genommen hatte, erwartete „mit vollster Spannung“ den Auftritt der Kampfmannschaften. Dieser Auftritt kam dann auch, jedoch war dem Publikum nicht mehr als eine halbe Stunde dieses Derbys vergönnt. Schuld waren 1923 aber nicht die Leute auf den Rängen, sondern die in Sportkleidung am Rasen. Waren es im Jahr 2011 die Fans, die, getrieben von Frust, ihrem Ärger freien Lauf ließen und damit dem Spiel ein Ende bereiteten, waren es hier die elf Grünweißen am Platz, die mehrere empfundene Ungerechtigkeiten nicht einfach so geschehen lassen wollten.

Frühe Führung und ein Ausschluss mit Folgen

Früh war die Austria in diesem Spiel in Führung gegangen, obwohl bis dahin anscheinend nur Rapid am Drücken war. Mehrere eindeutige „Schießgelegenheiten“ ließ man auf grünweißer Seite ungenutzt, während aus dem ersten echten Gegenzug die Führung für das Team der St.Veiter fiel. Die früher als Wanderverein bekannten Amateure – die Austria hat seit ihrem Bestehen in 19 verschiedenen Spielstätten Heimspiele ausgetragen – waren damals noch in St. Veit zu Hause. Schnell folgte diesem ersten auch noch das zweite Tor. Schaffer, der schon zum 1:0 getroffen hatte, verwandelte einen Strafstoß. Einen höchst zweifelhaften noch dazu, wenn man den Journalisten der damaligen Zeit Glauben schenken will. Dem nicht genug, folgte drei Minuten später, in der 30. Minute die nächste umstrittene Entscheidung. Das gefährliche Spiel Wesselys, der seinem Gegner „ein Buckerl gestellt“ hatte, wäre angeblich „in 90 von 100 Fällen“ mit einer Verwarnung davongekommen.

Rapid tritt ab

Die klar spielbestimmende Mannschaft war also nicht nur plötzlich mit zwei Toren im Rückstand, sondern schlagartig auch in Unterzahl. Das war dem Kapitän Rapids zu viel, der sowohl den Strafstoß als auch den Platzverweis als bewusste Benachteiligung einstufte, und er entschied sich dazu, seine Mannschaft vom Spielfeld zu führen: „Rapid mag sich vielleicht dadurch benachteiligt gefühlt haben, und da die Mannschaft auch sonst recht unglücklich focht, wogegen den Kampfpartnern die Erfolge geradezu zuflogen, war man recht mißmutig geworden.“ Kurz nach Wessely und Mitspielern verließen auch die Amateure das Feld. In fast allen Artikeln wird das Abtreten Rapids verurteilt und als Unsportlichkeit gewertet. Aber nicht nur die Elf am Platz wird in die Verantwortung genommen.

Die fanatischen Anhänger Rapids

So meinte ein Schreiber des Sport-Tagblatts, dass ein nicht geringer Teil der Schuld auch den „fanatischen Anhängern Rapids“ anzulasten sei, die ihre Mannschaft zum Abtreten ermutigt hätten. Tosender Applaus des in Überzahl befindlichen Rapidanhangs sowie ein Pfeifkonzert für den Schiedsrichter dürften den Entschluss zum Abbruch bestärkt haben. Auch andere Schreiber finden alles andere als schmeichelhafte Worte: „Ihnen“, gemeint sind die grünweißen Fans, „war eine Niederlage „ihrer“ Elf unter normalen Umständen unerträglich, deshalb suchten sie, eine anormale Lage heraufzubeschwören. Wie es um den Sportgeist dieses Anhangs bestellt ist, war schon im vorangegangenen Spiele der Reserven zu fühlen, es wurde da mit einer Gehässigkeit gegen die Gegner Stellung genommen, die nichts Gutes für den Hauptkampf verhieß.“

The show must go on

Nachdem man längere Zeit in der Kabine beraten hatte, entschieden sich alle Beteiligten, also die beiden Mannschaften sowie der Spielleiter, dafür, das Spiel fortzusetzen. Einzige Bedingung war, dass der zuvor ausgeschlossene Wessely nicht wieder am Spiel teilnehmen durfte. Was aber die Zuschauer nicht wussten, war, dass das Spiel ab diesem Zeitpunkt nur noch als Freundschaftsspiel geführt wurde! Auf den Rängen war man nämlich nach wie vor der Meinung, es würde sich um ein meisterschaftsentscheidendes Spiel handeln, am Grün dagegen war man sich der Wertlosigkeit bewusst. Diese seltsame Entscheidung, die aus heutiger Sicht höchst grotesk anmutet, hatte zwei Gründe. Einerseits wollte man den Zuschauern „für ihr geleistetes materielles Opfer etwas bieten“ und andererseits hatte man große Angst vor Ausschreitungen, zu denen es „sicher gekommen wäre“. Daher entschied man sich, die 30.000 Besucher hinters Licht zu führen und das Spiel fortzusetzen.

Dieses „Freundschaftsspiel“ endete torlos. Das dritte Tor fiel dann erst am grünen Tisch, das Spiel wurde mit 3:0 für die Amateure gewertet. Zum Titel reichte dieser kuriose Sieg dennoch nicht. Rapid holte in den ausstehenden vier Partien, mit einem Unentschieden und drei Siegen, also sieben Punkten, die achte Meisterschaft nach Hütteldorf. Aber ist ein Meister, der nicht jeden Konkurrenten zumindest einmal meistern konnte, denn überhaupt ein würdiger Meister?

Arnold Pühringer, abseits.at

Quellen (allesamt aus den Katalogen der Nationalbibliothek, http://www.onb.ac.at/):
•	Sport-Tagblatt, Sport-Ausgabe des Neuen Wiener Tagblattes, 2.-5. Juni 1923
•	Neue Freie Presse, 4. u. 5. Juni 1923
•	Offizielles Vereinsarchiv des SK Rapid Wien, http://www.rapidarchiv.at/

Daniel Mandl Chefredakteur

Gründer von abseits.at und austriansoccerboard.at | Geboren 1984 in Wien | Liebt Fußball seit dem Kindesalter, lernte schon als "Gschropp" sämtliche Kicker und ihre Statistiken auswendig | Steht auf ausgefallene Reisen und lernt in seiner Freizeit neue Sprachen

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