Jeden Sonntag wollen wir in dieser neuen Serie einen Blick in die Vergangenheit werfen: Wir spielen sozusagen einen Zuckerpass in den Rückraum und widmen uns kurz und bündig legendären Toren, Spielen, Fußballpersönlichkeiten, Ereignissen auf oder neben dem Platz und vielem mehr. Wir wollen Momente, Begebenheiten, Biografien – im Stile von Zeitlupenwiederholungen aus dem TV nochmals Revue passieren lassen. Gedanken machen wir uns dabei über Vergangenes, das in der abgelaufenen Kalenderwoche stattgefunden hat. Heute gratulieren wir Radosław Gilewicz, der gestern ein halbes Jahrhundert alt wurde, zum Geburtstag.
Tivoli, Tore, Titel – Ein Pole in Innsbruck
Er sieht aus wie der ältere Halbbruder von Robert Lewandowski und hat auch schon vier Tore in einer Halbzeit (am 27. März 2004 gegen Sturm) erzielt. Der Vergleich hinkt nicht mit beiden Füßen: Radosław Gilewicz war ein Superstürmer, auch wenn ihm zur Weltklasse seines Landsmannes natürlich etwas fehlte. Trotzdem bleibt der Angreifer dem gemeinen österreichischen Fußballfan vor allem wegen seiner Zeit beim FC Tirol Innsbruck in Erinnerung: „Rado-Goal“ machte Anfang der 2000er-Jahre seinem Namen alle Ehre und traf aus sämtlichen Lagen. Der nur 1,74 Meter kleine Stürme war technisch beschlagen, schnell und hatte einen unvergleichlichen Torriecher.
Drei Spielzeiten lang verzauberte Gilewicz das Tiroler Publikum und schoss 59 Tore in 103 Pflichtspielen für den damals stärksten Klub der Bundesliga. Der gebürtige Pole fühlte sich am Fuße der Nordkette pudelwohl, dabei war ihm zunächst mulmig im Bauch, als er im Jänner 2000 Innsbruck ansteuerte: „Ich weiß noch genau, wie ich im Winter nach Tirol gekommen bin. Es lag viel Schnee, wirklich sehr viel. Und ich habe mich gefragt: Wie soll ich dort überhaupt ankommen?“ Umgekehrt fragte sich die Mannschaft auch bald, was der ehemalige Deutschlandlegionär hier mache. Kapitän Michael Baur erinnert sich, dass Gilewicz in keinem der Vorbereitungsspiele getroffen habe. Von wegen Knipser.
Der damals 28-jährige war ein Wandervogel, der zuvor bei keiner Klubstation richtig angedockt hatte: Geboren in der schlesischen Provinz schnürte er ein Jahr lang die Schuhe bei Ruch Chorzów, ehe er erstmals ins Ausland wechselte. Beim FC St. Gallen rettete Radoslaw den Verein mit einem seiner legendären Tore vor dem Abstieg: Gegen den SC Kriens machte der Stürmer am vorletzten Spieltag 1995 erst in der Nachspielzeit das erlösende 2:2. Die Fans stürmten unmittelbar nach dem Treffer den Rasen. Der Goalgetter kletterte daraufhin die Karriereleiter wieder etwas hinauf und heuerte postwendend beim VfB Stuttgart an. Doch dort regierte das von Fredi Bobic, Giovane Elber und Krassimir Balakow gebildete „magische Dreieck“ und Gilewicz musste sich – im wahrsten Sinne des Wortes – hinten anstellen. Er kickte fortan im Mittelfeld, wo er seine Stärken aber nicht voll ausspielen konnte.
Der Karlsruher SC bezahlte schließlich die stolze Ablösesumme von 1,9 Millionen D-Mark für den Polen, doch auch dort konnte „Rado“ seine Karriere nicht wieder in Schwung bringen. Kurt Jara, der den Stürmer bereits seit seiner Zeit als Trainer in Zürich auf dem Zettel hatte, und sein FC Tirol machten ein Schnäppchen: 700.000 Mark flossen nach Baden-Württemberg, ein Torjäger mit Ladehemmung kam in die Berge. Gleich bei seinem Einstand erzielte Gilewicz das Goldtor zum 1:0-Sieg gegen Vorwärts Steyr und der Bann war gebrochen. Das alte Tivoli-Stadion war ab diesem Zeitpunkt Schauplatz großer Fußballfeste: Im schwarz-grünen Trikot mit dem Markennamen eines österreichischen Fruchtmolkegetränks auf der Brust und der Nummer 9 auf dem Rücken erzielte Gilewicz Tor um Tor und die Tiroler wurden drei Mal in Folge Meister. Sein Markenzeichen: Der Trikot-Striptease, den er nach der Einführung der Verwarnung, in ein Semi-Ausziehen verkürzte.
Als Gilewicz 2001 Torschützenkönig wurde und die letzte Meisterschaft im alten Tivoli-Stadion feiern durfte, ahnte noch niemand, dass das Innsbrucker Märchen langsam in die Zielgerade einlief. Zwar konnte mit Jogi Löw in der Saison 2001/02 der Titel verteidigt werden, hochfliegende Träume von internationalen Bewährungsproben mussten jedoch – trotz zweier Treffer des Stürmers – nach einem 2:2 daheim gegen ACF Fiorentina begraben werden. Am Ende der Spielzeit erfolgte dann das böse Erwachen: Der Verein schlitterte mit einem Schuldenberg von 27,5 Millionen Euro in den Konkurs. „Rado“ packte die Koffer und verabschiedete sich zur Wiener Austria, wo er dort weitermachte, wo er in Innsbruck aufgehört hatte: Er holte das Double mit den Veilchen.
2005 wechselte Gilewicz zu Pasching, ehe er 2009 bei Polonia Warschau seine Karriere beendete. Seit Sommer 2018 arbeitet der ehemalige Profi als Assistent von Polens Teamchef Jerzy Brzeczek. In Österreich fühlt er sich immer noch wohl, hat Kontakte zu ehemaligen Innsbruck- und Austria-Kickern. Sein 1992 geborener Sohn Konrad spielte in den Jugendteams der Mannschaften, bei denen sein Vater jeweils engagiert war. Gilewicz junior schaffte den großen Durchbruch jedoch nicht und beendete 2016 seine Karriere bei der zweiten Mannschaft von Ruch Chorzow. Kopf hoch, Konrad, dein Vater hat so viele Tore geschossen, dass es für euer beider Karrieren reicht.
Marie Samstag, abseits.at
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