Die amerikanische Seele ist kein rätselhaftes Phänomen. Sie lässt sich mit folgender Anekdote leicht großzügig umreißen: Als US-Teamchef Jürgen Klinsmann aussprach, was alle Fußballexperten und jene, die es werden wollen, bereits wussten, erntete er im Land der unbegrenzten Möglichkeiten scharfe Kritik. Der gebürtige Schwabe meinte lapidar, dass seine Mannschaft eben noch nicht so weit sei, den WM-Titel nachhause zu holen. Damit verstieß er gegen das oberste amerikanische Prinzip, welches auch in Barack Obamas Wahlkampfmotto ‘08 eingearbeitet worden war: „Yes, we can!“ Deutsches Realitätsbewusstsein traf hier auf amerikanischen Siegeswillen. Der unerschütterliche Glaube an die eigenen Fähigkeiten ist Stärke und zugleich Schwäche der US-Boys’n’Girls.
Soccer Baby Boom
Ein Extrem-Beispiel hierfür ist der Skirennläufer Bode Miller. Mr. Miller erregte zu Beginn der 2000er-Jahre mit seinem rasanten Fahrstil die Aufmerksamkeit des FIS-Rennzirkus. Bode wollte lieber stürzen, als „mangels Mut und Fantasie Zehnter“ zu werden. Seine unorthodoxe Art Ski zu fahren gilt als äußert gefährlich, doch für Bode ist das egal, er glaubt an seine Fähigkeiten und ist überzeugt, dass diese ihn an sein Ziel bringen. Nicht immer hat es in der Vergangenheit geklappt, denn der US-Amerikaner war auch stets bestrebt genügend Spaß im Leben zu haben und ließ deshalb so manche Vorbereitung schleifen. Doch dafür, dass er an Rekorden und Medaillen nicht sonderlich interessiert ist, ist Miller der bisher einzige Rennläufer, der in jeder Disziplin mindestens fünf Siege eingefahren hat. Darüber hinaus ist er mehrfacher Weltmeister sowie fünffacher Olympiasieger.
Von diesen Erfolgen ist die amerikanische Fußballnationalmannschaft noch weit entfernt. Die Begeisterung innerhalb des Landes kannte zu Beginn der Weltmeisterschaftsendrunde aber keine Grenzen. Auch Präsident Obama mutierte zum Experten: „Wir sind noch nicht Deutschland oder Brasilien, aber wir sind jetzt mittendrin.“ Von Boston bis Sacramento fieberten die Amerikaner beim „public viewing“ mit. Vielen waren zwar die Spielregeln noch relativ unbekannt, das tat der Euphorie aber keinen Abbruch.
Die „Amis“ haben den Vorteil, dass ihr gesundes Heimatgefühl zur raschen Verbreitung der „Volkskrankheit“ Fußball führen kann: „Soccer“ ist zwar in Amerika schon einige Zeit bekannt, war aber lange „Frauensache“: Da Frauen in den traditionellen US-Sportarten (Football, Baseball, Eishockey etc.) aufgrund ihres Körperbaus ohnehin benachteiligt sind, betreiben viele einen Sport, in dem man nicht nur durch Schussstärke und Kampfkraft punktet, sondern auch mit Übersicht, Kreativität und Schnelligkeit erfolgreich spielen kann. Spätestens seit diesem Juni boomt das Kicken in den USA aber jedenfalls geschlechterübergreifend.
Allerdings tauchen vereinzelt auch Proteststimmen auf. Eine ultrakonservative Journalistin sieht im umsichgreifenden „Soccer-Boom“ den Untergang der stolzen Vereinigten Staaten: Einem Ball nachzujagen bedeutet in Ann Coulters Augen Überfremdung, Tod des Individualismus, Langeweile, Anspruchslosigkeit und weniger körperlicher Gewalt als in den „richtigen“ „Ami“-Sportarten. Jap, richtig gelesen! Miss Coulter wünscht sich „persönliche Demütigung oder schwere Verletzungen“, denn diese seien die „Voraussetzung, um als Sport zu zählen.“
Access All Areas
Coulter und ihre erzkonservativen Freunde erfreuten sich also nicht an einem spannenden Achtelfinale, bei dem sich der spätere Verlierer bis zum Ende des Spieles aufs Heftigste gewehrt hatte. Belgien konnte zwar ein deutliches Chancenplus herausspielen, musste allerdings bis zur 93. Minute auf das 1:0 durch Kevin de Bruyne warten. Die US-Boys kämpften auch nach dem zweiten Treffer der „roten Teufel“ weiter und erzielten schließlich den Ehrentreffer. Für einen kurzen Zeitraum war es wieder ganz knapp und Dempsey und Co. lebten den Traum vom Erreichen des Viertelfinales.
Diesen amerikanischen „Positivismus“ mag auch Andreas Dober. „Sie sind im Grunde positive Leute und gönnen sich etwas, bei uns hingegen gibt es viel zu viele Neider.“, kommentierte der Ex-Teamspieler einen möglichen Wechsel in die amerikanische Profiliga.
Die amerikanische Nationalmannschaft könnte sich dienstagabends aber nicht mehr fangen und war (in der Person von Tim Howard) nach dem Spiel „devasted“. Nun müssen die Jungs von Klinsmann und Herzog wieder aufstehen. Auch das gehört zu den amerikanischen Nationaltugenden, wenn man Julie Delpy fragt. Die französische Schauspielerin und Regisseurin schätzt vor allem die Tatkraft der US-Bürger: „Ich bin ziemlich positiv, wie Amerikaner es sein können. Ich kann im größten Drama meines Lebens stecken – wenn ich am nächsten Tag arbeiten muss, dann arbeite ich. Wenn ich eine verrückte Nacht lang am Telefon hänge, um die Finanzierung eines Films zu sichern, gehe ich am nächsten Morgen ans Set und niemand merkt, dass ich durch die Hölle gegangen bin.“
Bei aller Enttäuschung, dass der (unrealistische) große WM-Coup doch ausblieb, haben die „Stars and Stripes“-Kicker dennoch genügend „Geburtshilfe“ für den Fußball als Breitensport in ihrem Heimatland geleistet. Welcome, „Soccer Boys“!
Marie Samstag, abseits.at
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