Anekdote zum Sonntag (21) – Ich weiß, was du im Sommer ’78 getan hast!
Nationalteam 15.Februar.2015 Marie Samstag 1
Jeder österreichische Fußballfan sollte wissen, worum sich die heutige Geschichte dreht. Für diejenigen, bei denen der Groschen bis jetzt nicht gefallen ist, hier einige Stichworte: Krankl, 3:2, Córdoba, Edi Finger Seniors Jubelschrei.
Den Sieg Österreichs über Deutschland bei der Endrunde der Fußballweltmeisterschaft als Anekdotenmittelpunkt heranzuziehen strotzt nicht gerade voll Kreativität. Trotzdem: Würde ich es nicht als interessant erachten, nochmal im Geschichtenbuch des ÖFB auf Juni 1978 zurückzublättern, hätte ich diese Anekdote nicht geschrieben. Die „I wear narrisch!“-Story aus dem Blickwinkel des „I wear narrisch!“-Schöpfers zu erzählen, macht für mich heute den gewissen Reiz aus. Schließlich ist Sportreporter Finger seit jenen Stunden einer der bekanntesten Äther-Schreier im deutschsprachigen Raum. Sein Sager vom Verrückt-Werden wurde zu seinem Markenzeichen, zwar nicht so wie Karl Farkas‘ „Schauen sie sich das an!“ oder Kaiser Franz Josephs „Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut!“ – Nein, die Einmaligkeit des Freudenschreis steht über allem. Jede Wiederholung des Fingerschen „Tooooor, Tooooor,….“- Gebrülls wäre fehl am Platz. Jener Moment am 21. Juni 1978 ist nicht reproduzierbar und für immer von den Wolken ewiger Verehrung umschlungen.
Der Geburtsstunde des geflügelten Wortes kamen einige andere verbale Liebkosungen des Kommentators zuvor: „Bravo, Sara, Bussi, Sara!“ wurde Verteidiger Robert Sara nach erfolgreichen Rettungsversuchen im Gruppenspiel gegen Spanien zugedacht. Im Schweden-Match bat Finger die österreichischen Autofahrer, sie mögen doch den Motor abstellen und beide Daumen halten. Das Daumenhalten funktionierte da noch ganz gut: Österreich wurde Gruppensieger, konnte Fußballriesen wie Spanien, Schweden und Brasilien hinter sich lassen. Die Erwartungen jenseits des Ozeans stiegen. Dann ging es aber Schlag auf Schlag: Einem 0:1 gegen die Azzurri folgte ein peinlicher Untergang gegen Holland. Die Niederländer unter Führung des Wieners Ernst Happel drehten den Rot-Weiß-Roten eine 1:5-Schraub‘n ein. Das war bitter. So bitter, dass Edi Finger drauf und dran war das Spiel gegen Deutschland zu schwänzen und seinen jungen Kollegen Manfred Payrhuber zum Match der bereits ausgeschiedenen Nationalmannschaft zu schicken. Doch Fingers Rundfunkmitarbeiter sträubten sich gegen diesen Plan. Sie wollten mit dem Chef arbeiten: Seufzend reiste Finger von Buenos Aires nach Córdoba. Der Flug war bereits ein kleiner Vorgeschmack auf den Nervenkrimi am nächsten Tag. O-Ton Edi Sen.: „Die kleine argentinische Maschine war überfüllt wie der J-Wagen nach Arbeitsschluss und ganz so reisten wir auch. Wer keinen Sitzplatz fand, klammerte sich stehend ans Gepäcksnetz und das altersschwache Gefährt schlingerte zum Gotterbarmen.“ Nach etlichen Stoßgebeten landete Finger jedoch heil im frostigen Córdoba, wo der Rasen nach einer kalten argentinischen Nacht mit Raureif bedeckt war. Doch Südamerikaner wissen die Lebenskräfte wieder zu erwecken: Finger und sein Team wurden abends zum Asado, einer festlichen „Grillparty“, eingeladen. „Zwanzig halbierte Stiere auf einem endlosen Rost, ausgeweidet und seit 24 Stunden in der Haut schmorend. Das Leibgericht in dieser gebirgigen, ländlichen Gegend, die mich ein wenig ans Tirolerische erinnert. Mit Skepsis zupfte ich die Haut von dem gewaltigen Fleischbrocken, den man mir zuschob. Das Mahl war herrlich! Ich erinnere mich nicht, je in meinem Leben derart wunderbares Rindfleisch verzehrt zu haben.“, schwärmte der gebürtige Klagenfurter von den leiblichen Genüssen in jenem kleinen Ort, in dem er übernachten durfte.
Pünktlich und durch den fleischlichen Genuss am Abend zuvor milde gestimmt fanden sich der Sportreporter und seine Mitarbeiter am nächsten Tag im Stadion ein. „Die deutschen Urlauber in Österreich mögen mir verzeihen – wir wünschen der deutschen Mannschaft alles Gute, nur kan Sieg!“, begann er seine Übertragung. Ein postkartenschöner Tag mit 35.000 Zuschauern im Stadion ließ auf ein spannendes Spiel hoffen. Die Deutschen machten sich sogar noch Hoffnung auf eine Finalteilnahme oder zu mindestens auf das Spiel um Platz Drei. Für Ersteres waren fünf Tore von Nöten, für das kleine Endspiel reichte ein Sieg gegen die „Ösis“. Ganz Deutschland glaubte an das Erreichen des Endspieles: Die Bild-Zeitung „errechnete“ (oder erblickte in der Kristallkugel) gar einen 11:0-Triumph. Berti Vogts ließ da ein nur vergleichbar harmloses „Wir müssen gewinnen, daher werden wir gewinnen.“ vom Stapel. Die tonangebende Mannschaft war jedoch von Beginn an Österreich: Krankl, Prohaska, Kreuz und Co. zauberten, Zählbares gelang aber nicht: „Ein Eigentor werden sich die Deutschen nicht schießen […] Das deutsche Tor ist wie mit Brettern vernagelt. Bitte schön, Leutln, reißts euch zsamm! Wunderbare Kombination, herrlicher Schuss, so geht das ununterbrochen.“, transportierte Edi Finger über den Äther. Das vom Radioreporter gewünschte Tor machte zunächst der Gegner: Rummenigge erzielte das 0:1. Fünf Minuten nach der Pause durfte Edi jedoch erstmals jubeln: „Da kommt die Flanke herein – drei Mann – Tor! Tor! Tor! 1:1 ! Jetzt nehm‘ ich alles zurück. Wir wurden erhört, wir wurden erhört.“ Finger – der Mann mit dem siebentem Sinn: Ausgerechnet der bärenstarke Berti Vogts hatte sein zuvor herbeigewünschtes Eigentor erzielt. „Ich weiß gar net, was heut‘ mit mir los ist!“ erklärte er seinen Zuhörern. So ein schlimmer Finger!
Die Stimmung schlug um: Die DFB-Elf spielte fahrig, gehetzt. Die Zuschauer, von denen etliche deutsche Vorfahren hatten, wechselten langsam aber sicher ins österreichische Lager über: „Krieger zu Krankl und der Krankl hat den Ball volley g’nommen, übern Kopf- und genau in die Kreuzecke!“ Der schon über die Betriebstemperatur erhitzte Edi Finger fesselte daheimsitzende Österreicher mit seinen lebhaften Beschreibungen zum rot-weiß-roten 2:1 geradezu an die Radioapparate. „Also, schöner kann man’s net machen, da fehlen mir die Worte! Da müßt‘ ich ein Dichter sein, wenn ich das alles bringen wollte.“, parlierte Edi beglückt. Kaum eineinhalb Minuten später war er aber wieder unsanft in der Realität gelandet: Hölzebein glich nach Koncilia-Prohaska-Missverständnis aus: „Da wird einem das Gruseln gelehrt!“ Die beiden Teamspieler lieferten sich ein Wortgefecht. Finger, der bereits bei der WM 1954 dabei gewesen war, fühlte sich an das demütigende 1:6 von Basel zurückerinnert. In der Not versuchte er sich erneut als Fußballgott-Beschwörer: „Wir wollen auf alle Fälle Gerechtigkeit“, sprach Edi und sollte wieder erhört werden.
Zwei Minuten vor Schluss: „Jetzt kann sich Sara noch einen aussichtslosen scheinenden Ball hereinholen, Pass nach links herüber, es gibt Beifall für ihn. Da kommt Krankl, vorbei diesmal an seinem Bewacher, ist im Strafraum – Schuss – ….“ Der Rest ist Radiogeschichte! Der Vollständigkeit halber sei der Wortlaut hier trotzdem weiter ausgeführt: „Tor! Toor!! Toor!!! Tooor!!!! Toor!!!!! I wear narrisch! Krankl schießt ein! 3:2 für Österreich! Wir fallen einander um den Hals, der Kollege Riepl, der Diplomingenieur Posch – wir busseln uns ab!“, schallte es durch viele österreichische Wohnzimmer. Noch war das Drama im Chateau Carreras aber nicht vorbei. Finger und seine beiden Geküssten hielten es nicht mehr auf den Plätzen aus. Ein deutscher hätte sie wie ein Schlag getroffen. „Jetzt hamma auch die südamerikanischen Reporter geschlagen mit ihren endlosen Gooooool-, Gooooool- Rufen, gut 40 Sekunden lang halten die das durch.“, erzählte der Kommentator um sich zu beruhigen. Da – noch eine Chance für die Deutschen: „Schuss – daneeeeben! Also, der Abramczik, abbusseln möchte ich den Abramczik dafür!“ Endlich erlöste Finger die daheimgebliebenen Fans und nahm die heiligen Worte „Deutschland geschlagen!“ in den Mund. Wie befreiend!
Die Übertragung war beendet, die Arbeit aber noch nicht: Finger und sein Team stattete den Katakomben des Stadions einen Besuch ab und erlebten zwei Welten: Glückseligkeit und befriedigte Rachegelüste in der rot-weiß-roten Kabine. „Nur a Geld, nur a Geld is das Schönste auf der Welt.“, sangen die triumphierenden ÖFB-Kicker anlässlich der versprochenen Prämienzahlungen, die in der Blauäugigkeit einer sicheren Niederlage von den Funktionären gemacht worden waren. Siegtorschütze Krankl war im Himmel. Kollege Prohaska noch böse mit Friedl Koncilia – beide hatten das Missverständnis vom Hölzebein-Tor noch nicht verdaut. Edi Finger wollte mit DFB-Teamchef Helmut Schön in der totenstillen Kabine nebenan sprechen. Dieser bat ihn jedoch geknickt um Ruhe: Schöns Rückzug als Bundestrainer stand zwar schon vor der Weltmeisterschaft fest, seinen Abschied hätte sich der erfolgreichste deutsche Teamtrainer aber wahrscheinlich anders vorgestellt.
Schwer getroffen war auch „Terrier“ Vogts, der mit seinem Eigentor die Niederlage quasi eingeleitet hatte. Er ertränkte seinen Frust am Heimflug in reichlich Tequila. Das Schicksal wollte es, dass beide Teams im selben Flugzeug nach Buenos Aires flogen. Welch‘ ein Bild: Hieronymus Bosch hätte es nicht schöner hinpinseln können. Auch Edi Finger war mit an Bord und wollte in der argentinischen Hauptstadt nur mehr eines: Schlafen. Übermüdet am Hotelzimmer angekommen war jedoch an Bettruhe nicht zu denken. Das Telefon stand nicht mehr still: Zuerst gratulierte die Gattin. Bei diesem Gespräch erfuhr der Sportjournalist erst, dass seine Übertragung auch weite Teile Fußball-Germaniens, insbesondere Süddeutschlands, erreicht hatte. Edis weichgefärbtes „Toooahr!“- Röhren wurde bei unseren nördlichen Nachbaren zum Symbol für die „Schande von Córdoba“. Später meldete sich Udo Jürgens Plattenproduzent, der eine LP mit Finger aufnehmen wollte. Tatsächlich verkauften sich Edis Argentinien-Reportagen auf Vinyl ganze 30.000 Mal.
Zurück in Wien wurde die ÖFB-Mannschaft ebenso wie der Sportjournalist der Nation herzlich empfangen. Sein emotionaler Kommentarstil in volksnahem Jargon machte Finger zum „local hero“: Er wurde in zahlreiche Radio- und Fernsehsendungen eingeladen, gab Interviews und schrieb Autogramme bis die Hand wehtat. Seine Berichte und Reportagen waren nun heißbegehrt und der gebürtige Klagenfurter immer im Arbeitsstress. Die Schattenseite des Erfolges erreichte den Familienvater ein gutes Jahr später überfallsartig. Plötzlich wurde ihm schlecht: Schweißausbrüche, Herzrasen. Die berufliche Anspannung und das ungesunde Leben hatten zu einem bösen Hinterwandinfarkt geführt. Das Schnellsprechwunder war eben immer mit ganzem Herzen dabei.
Sämtliche Zitate aus: Edi Finger – I wear narrisch!. Jugend und Volk, Wien-München. S. 164-184
Marie Samstag, abseits.at
Marie Samstag
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