Nationales Zusammengehörigkeitsgefühl ist keine österreichische Selbstverständlichkeit. In einem post-faschistischen Land wird bei exzessiver rot-weiß-roter Lobhudelei immer noch die Nase gerümpft. Ab und an geschieht das auch zu Recht. Denn nicht jede simple Vaterlandsliebe ist so harmlos, wie sie sich zu verkaufen versucht. Das ist aber ein anderes Kapitel. Sportsgeist ist wahrscheinlich allerorts noch eine akzeptierte Form des Patriotismus. Im Land der 8,474 Millionen Teamchefs hat jeder eine Meinung und jeder natürlich die richtige. Dass das schon immer so war, karikierte Kabarettist Helmut Qualtinger bereits in den 50ern in einem Chanson-Klassiker von Gerhard Bronner: „Sport ist in mir wohl der edelste Trieb und dabei geht es mir um ein Prinzip: Wir mias‘n gwinna, sonst hob i gleich die ganze Freud‘ verlor’n. Wir mias‘n gwinna, weil i sonst von Sinnen bin vur Zurn!“
1954 gab es zwar noch kein freies Österreich, dafür aber eine einheitsbildende Nationalmannschaft. Nicht irgendeine. Nein, wahrscheinlich das beste Team, das Österreich je zu einer Endrunde entsandt hatte: Kurt Schmied im Tor. Abwehrchef Happel dirigierte Klubkollege Hanappi und „Poldl“ Barschandt vom Sportclub in der Abwehr. Davor bildeten der starke Karl Koller und Ernst Ocwirk das Mittelfeld. Prunkstück des rot-weiß-roten Teams war aber der Angriff, der mit Kalibern wie „Turl“ Wagner, Ernst Stojaspal, Erich Probst, den Körner-Brüdern oder Robert Dienst besetzt wurde. Dazu kamen noch verlässliche Ersatzleute, wie der spätere Veterinärmediziner Walter Schleger, der – in dieser Serie bereits behandelte – Hansi Riegler oder Walter Haummer von Wacker Wien. Teamchef Edi Frühwirth, der den erkrankten Walter Nausch ersetzte, hatte die als veraltet geltende „Wiener Schule“ optimiert: Der offensiven Drehscheibe Ocwirk wurde mit Karl Koller ein Kraftbündel zur Seite gestellt. Der Vienna-Star sollte Attacken auf den Ballverteiler abblocken. „Ossi“ beherrschte herrliche Langpässe in die Spitze und leitete so Angriffsläufe ein, die von flotten Stürmern, wie Probst oder den Körner-Buam vollendet wurden. Happel, das technische Genie, war hinten die Sicherheit in Person, die Gefährlichkeit der Mannschaft ergänzte sich durch Extra-„Gadgets“, wie Wagners Freistoßkunst.
In einem Land, das unter Fremdherrschaft stand und gerade im Begriff war sich aus dem kriegsbedingten Elend hinauszuwinden, galt diese Mannschaft als Favorit auf den WM-Titel. Diese Stimmung war zu spüren: So stark, dass der – noch im Aufbau befindliche – Österreichische Rundfunk einen modernen Übertragungswagen mit guter technischer Ausstattung und einem hungrigen Reporter-Trio zusammenstoppelte, um live aus der Schweiz zu berichten.
In den helvetischen Landen bekamen die Österreicher schon wenige Stunden nach der Ankunft den Kopf frei. Ein ruhiges Stück Erde ohne finanzielle Not und Sorgen, das hatten viele von ihnen noch nie erlebt. Sauber und idyllisch. Doch so manchem kann man es nie recht machen: Ernst Ocwirk, zweimaliger Kapitän der FIFA-Weltauswahl, wandte sich Hilfe suchend an die mitgereisten Journalisten aus Wien: „So schön kann’s da gar nicht sein, dass uns nicht etwas abgeht.“, seufzte er: „Wir brauchen Wiener Musik!“ Gesagt, getan. Die Rundfunkmitarbeiter telegrafierten postwendend nachhause und in der Bundeshauptstadt wurde das Unternehmen „Operetten-Doping“ gleich darauf eingeleitet. Schauspieler und Sänger aus den damals beliebten Heimatfilmen bat man ins Studio, wo es sofort hieß: „Bitte Ruhe, Aufnahme läuft!“ Schauspielerin Maria Andergast sang den bekannten Schlager „Mariandl“ aus dem Filmklassiker „Der Hofrat Geiger“ mit Waltraut Haas und Hans Moser. Pianist Karl Föderl musizierte zusammen mit dem letzten Herrn des Wienerliedes, Hansl Schmid. Altmeister Moser selbst nuschelte unverwechselbar seinen Wunsch nach Reinkarnation in Form einer Reblaus ins Mikrofon. Blitzartig war das Band fertiggestellt und wurde per Eilkurier zu den Eidgenossen übersandt. Dort hatte man im Mannschaftshotel der Österreicher bereits Lautsprecher organisiert und für das gesellige Zusammensein aufgestellt. Es ging locker zur Sache: Sperrstunde, Kasernierung, Alkoholverbot waren damals Fremdwörter. Bereitwillig zockten die Spieler mit Personal und Reportern abends einige Partien Bauernschnapsen oder Tarock. Die eintreffenden Wald-und-Wiesen-Schlager sowie die Heurigenmusik verstärkten diesen Gemütlichkeitsfaktor und hoben die Stimmung im Team. In Zeiten von MP3 und Internet erscheint dieses Unternehmen heute beinahe mittelalterlich. Doch es half. So sehr, dass sich Teamchef Frühwirth später für die gute Zusammenarbeit beim Rundfunk bedankte.
Die Schweizer fanden diesen Zwischenfall zunächst nur zum Kopfschütteln. Nach der „Hitzeschlacht von Lausanne“ waren sie aber nur mehr perplex: Nachdem Happel und Co. den Gastgeber heroisch mit 7:5 niedergerungen hatten, war das große Ziel zum Greifen nahe. Dass es schlussendlich nach einer Klatsche gegen den unterschätzten nördlichen Nachbarn nur zum dritten Platz reichte, ist so bittersüß wie die schönsten Wiener Walzerklänge, die im Sommer ‘54 im Park des Zürcher Hotels erklungen sind.
Marie Samstag, abseits.at
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