Heute wäre er 130 Jahre alt: Jimmy Hogan – Fußball-Pionier und Gründer der „Wiener Schule“
Nationalteam 16.Oktober.2012 Florian Eliadakis 2
Das Wunderteam und Hugo Meisl sind wohl jedem hiesigen Fußballinteressierten ein Begriff. Doch genauer betrachtet erntete Meisl, was ein hierzulande weitgehend unbekannter englischer Trainer wenige Jahre zuvor gesät hatte. Am 16. Oktober jährt sich der 130. Geburtstag von Jimmy Hogan – eines Mannes, der den Fußball für immer prägte.
Sportgeschichtliches Umfeld
Im England der 1870er Jahre hatten sich u.a. mit der Gründung der FA (Football Association, der englische Fußballverband) und der Einführung verschiedener Spielregeln Strömungen durchgesetzt, die einen professionelleren Umgang mit dem Fußball anstrebten. Während auf kontinentaleuropäischen Spielfeldernbei einem Fußballspiel meist die Verwandtschaft zum Rugby unverkennbar war, Traubenbildungen wie im heutigen Kinderfußball das Bild prägten, und häufig nur noch tumultartiges Chaos herrschte, machten sich auf der Insel bereits C. W. Alcock und andere Männer Gedanken darüber, wie man mehr Struktur in die Spielabläufe bringen könnte. Ansätze von Kombinationsspiel – ja, es war tatsächlich lange Zeit verpönt, den Ball zum Mitspieler zu passen! – und strategischen Überlegungen finden sich laut Aufzeichnungen zeitgenössischer Journalisten schon in den ersten offiziellen Länderspielen der Geschichte zwischen England und Schottland (1870-1872). Gespielt wurde damals im Wesentlichen mit einem festen Abwehrspieler und sieben Stürmern, dazwischen zwei Läufern.Später wurde ein Stürmer für einen weiteren Verteidiger geopfert, sodass eine Art 2-2-6 entstand, das wiederum schließlich, gegen Ende der 1870er Jahre, in einem 2-3-5 aufging. Britische Trainer und die folgende Übernahme durch ihre kontinentaleuropäischen Kollegen sollten dieses System für mehrere Jahrzehnte zum vorherrschenden Spielsystem machen. Einer derjenigen, die auf dem Festland Pionierarbeit leisteten und die taktischen Maßnahmen schrittweise verfeinerten, war Jimmy Hogan.
Die erste Zusammenarbeit mit Hugo Meisl
Jimmy Hogan hatte sich bereits als Trainer in Holland beim FC Dordrecht einen Namen gemacht. Hugo Meisl engagierte ihn erstmals nach einem glücklichen 1:1 der ÖFB-Elf gegen – natürlich – Ungarn, wenige Wochen vor den Olympischen Sommerspielen 1912 in Stockholm. Die Olympischen Spiele hatten damals noch den Stellenwert, den Welt- und Europameisterschaften heute haben. Nach Streitigkeiten von mehreren Spielern mit dem Verband konnte man dort aber nicht in Bestbesetzung antreten und nach einem5:1-Einstandserfolg über Deutschland nicht mehr reüssieren. Doch obwohl der Auftritt der Nationalmannschaft als Misserfolg gesehen wurde, hatte Meisl schnell erkannt, dass Hogan ein Visionär war, dem die Zukunft des Fußballs gehören könnte. Seine englischen Kollegen und viele andere in Europa hielten Zweikampfstärke und Ausdauer für die grundlegendsten Faktoren, um ein Spiel zu gewinnen – er hingegen setzte auf Ballbesitz und Passspiel. Und er sollte damit auf lange Sicht Recht behalten.
Schicksalsjahre in Wien – Die Wurzeln der „Wiener Schule“
Nach einer Saison bei den Bolton Wanderers wurde er 1913 von Hugo Meisl erneut verpflichtet. Ziel war ein Erfolg der Nationalmannschaft bei den Olympischen Spielen 1916. Wie zur damaligen Zeit üblich, trainierte er trotz seines Teamchef-Daseins auch öfters verschiedene Wiener Vereine, darunter die Wiener Austria und die Vienna. Seine Spielphilosophie hinterließ enormen Eindruck, und das sogenannte „Scheiberlspiel“ wurde bald vielerorts trainiert und gefördert. Jimmy Hogan kann also mit Fug und Recht als derjenige gesehen werden, der durch seinen Input Spielertypen wie Sindelar und Co. überhaupt erst ermöglichte. Doch mit dem Kriegsausbruch 1914 wurde er aufgrund seiner englischen Staatsangehörigkeit verhaftet und aus seiner Tätigkeit entlassen. 1916 konnte er nach langem Hin und Her nach Budapest ausreisen und verhalf dort sogleich MTK Budapest zu den Meistertiteln 1917 und 1918 – mit genau einer Niederlage in zwei Jahren. Auch hier legte seine Spielphilosophie von Technik und Ballbesitz erste Grundlagen für die „Goldene Elf“ der Ungarn, jener Mannschaft um Puskas und Hidegkuti, die in den 50er Jahren fast jeden Gegner vom Platz fegte und deren Siegeszug erst im legendären WM-Finale 1954 von den Deutschen gestoppt wurde.
Der „Verräter“ zurück in England
Nachdem der Erste Weltkrieg zu Ende war, verließ Hogan das von Hunger und Elend gebeutelte Land, und ging zurück in seine Heimat. Dort angekommen, erfuhr er, selbst bettelarm und verzweifelt, dass man von der FA rund 200 Pfund Entschädigung bekommen könnte, wenn man durch den Krieg finanzielle Einbußen hinnehmen hatte müssen. Es war ein Strohhalm für einen mittellosen Mann, der diesen demütigenden Gang gehen musste, um einen Neuanfang versuchen zu können. Er sprach bei Frederick Wall, dem Vorsitzenden der FA, vor, und bat um das Geld. Vom folgenden Gespräch gibt es mehrere Versionen.Im Wesentlichen heißt es, Wall habe sich das Ansuchen von Hogan schweigend angehört, danach einen Wandschrank geöffnet und ihm als Antwort ein Paar Socken hingeworfen, mit dem Zusatz, diese Socken habe man allen Kämpfern an der Front geschickt, und sie seien dankbar dafür gewesen. Geld bekam er keines. Ob das Wort „Verräter“tatsächlich gefallen ist, ist nicht eindeutig geklärt, aber nach dieser Zusammenkunft wurde Hogan klar, wie sehr sein Ansehen gelitten hatte. Noch viele Jahre sollte ihm in seiner Heimat das Stigma des vermeintlichen „Verräters“ anhaften, der im Land des Feindes geblieben war, während andere verrecken mussten. Kein Wunder, dass Hogan in den nächsten Jahren zutiefst gekränkt dem Fußball und der Öffentlichkeit fern blieb. Er ging nach Liverpool zu seiner Familie und war als Versandleiter tätig.
Wieder auf dem Kontinent
1922 packte ihn wieder das Fußballfieber. Er ging in die Schweiz und coachte die Young Boys Bern. Zwei Jahre später war er einer von drei Trainern, die in drei Regionalgruppen die Schweizer Nationalspieler für die Olympischen Spiele 1924 vorbereitete. Die „Nati“ erreichte das Finale und verlor erst dort gegen Uruguay, was bis heute der größte Erfolg der Schweizer Nationalelf ist. Nach Umwegen über Lausanne, MTK Budapest (Meister und Cupsieger), dem Dresdner SC (dreimal mitteldeutscher Meister), und RC Paris, kam Hogan dank Hugo Meisl erneut vorübergehend zur Österreichischen Nationalmannschaft.
Betreuung des „Wunderteams“
Meisl hatte ihn 1932 verpflichtet, um das Team für ein Auswärtsspiel gegen England vorzubereiten. Es war wohl nichtnur für die Österreicher ein besonderes Spiel gegen die zuhause ungeschlagenen Briten, sondern erst recht für Hogan. Der damalige Status des Österreichischen „Wunderteams“ und der Englischen Nationalelf in Europa ist wohl noch am ehesten mit dem heutigen von Real Madrid oder dem FC Barcelona zu vergleichen. Dank der Vorarbeit, die Hogan in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in Wien geleistet hatte, gab es mittlerweile zahlreiche technisch beschlagene Spieler in den Reihen der Österreicher.Die Philosophie der Wiener Schule, und damit die von Hogan, hatte sich durchgesetzt. Namen wie Sindelar, Schall, Zischek, Vogl ließen damals jedem Fußballinteressierten das Herz aufgehen, wie es heute bei Messi, Ronaldo, oder Neymar der Fallist.
Das legendäre Spiel gegen England
Hugo Meisl hatte als Betreuer des ÖFB-Teams tatsächlich die Qual der Wahl. Die Engländer hingegen waren von ihrer Überlegenheit völlig überzeugt, und das nicht ganz ohne Grund: es sollte noch bis Anfang der 50er Jahre dauern, eine englische Mannschaft auf der Insel zu bezwingen. Als schließlich die Österreicher 1932 in London antraten, als besseres Team unglücklich mit 3:4 verloren, und dabei noch zahlreiche Chancen vergaben, feierte das ganze Land, als habe man gesiegt. Nur wenige Monate später spielte man auswärts gegen Schottland 2:2 und war damit das erste Team vom Kontinent, das auf britischem Boden nicht verlor.
Endphase von Hogans Schaffen
Von 1934-1935war Hogan beim FC Fulham tätig, wo er jedoch unerwartet wegen eines längeren Krankenhausaufenthalts gefeuert wurde. Hugo Meisl nutzte sofort die Chance und verpflichtete Hogan als Betreuer der Nationalmannschaft und des Olympiateams. Durch die starken Auftritte des Wunderteams waren allerdings viele Spieler von ausländischen Klubs verpflichtet worden. Damals war es üblich, Legionäre nicht mehr ins Nationalteam einzuberufen, weshalb das ÖFB-Team nicht mehr ganz an frühere Erfolge anknüpfen konnte. Unter Hogans Führung erreichte Österreich dennoch die Revanche gegen England mit einem 2:1-Heimsieg, und holte bei den Olympischen Spielen 1936 die Silbermedaille, da das Finale gegen Italien nach einem Tor in der 92. Minute verloren ging. Wieder zuhause schaffte Hogan mit Aston Villa prompt den Wiederaufstieg und den Einzug ins Semifinale des FA-Cups. In der nächsten Saison wurde er mangels Erfolg entlassen, erhielt aber von Aston Villa eine Pension bis an sein Lebensende.
Der Kreis schließt sich
1953 wurde Hogan Zeuge des Länderspiels England gegen Ungarn in London. Die zeitweilig hilflos wirkenden Engländer gingen gegen die extrem dominante „Goldene Elf“ der Ungarn mit 3:6 unter und hatten Glück, nicht noch viel höher zu verlieren. Es war die erste Heimniederlage Englands überhaupt. Ein beeindruckter englischer Korrespondent schrieb: „Wir waren Zeugen der Götterdämmerung“. Der Präsident des Ungarischen Fußballverbandes, Sandor Barcs, meinte jedoch: „Wir haben so gespielt, wie Jimmy Hogan es uns beigebracht hat.“ Man kann sich vorstellen, was für eine späte Genugtuung es für Hogan gewesen sein muss, eine solche Würdigung seines Lebenswerks zu hören, die ihm in England immer verwehrt geblieben war.
Nach diesem Spiel gab es in England Katerstimmung wie selten zuvor. Es entstand öffentlicher Druck, Hogan eine prominente Stelle im Verband einnehmen zu lassen. Er wurde jedoch für zu alt befunden, und starb dann – man ist fast versucht zu sagen, ironischerweise –erst 21 Jahre später.Auf kaum einen anderen in der Geschichte des Fußballs trifft das Sprichwort, der Prophet gelte nichts in seinem eigenen Land, so sehr zu, wie auf Jimmy Hogan. Wieder und wieder warnte er schon Jahre vor dem Debakel gegen die Ungarn öffentlich, der kontinentale Fußball würde den englischen überholen, wofür er viele Schmähungen über sich ergehen lassen musste. Doch seine strategisch-taktischen Prinzipien von Ballbesitz, technischer Stärke, und Kombinationsspiel fanden ihre Fortführung im „Totalen Fußball“ der Holländer, und entwickelten sich im ballbesitzorientierten Fußball vieler großer Mannschaften bis heute weiter.
Florian Eliadakis, abseits.at
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