Kommentar: Bärenstarker Geheimfavorit Österreich? Momentan ziemlich wurscht!
Nationalteam 9.September.2015 Daniel Mandl 0
Nun ist es also fix. Österreich wird an der Europameisterschaft 2016 in Frankreich teilnehmen – dort, wo man auch das letzte Mal an einem Großereignis teilnahm, für das man sich qualifizieren musste. Die Art und Weise, wie die ÖFB-Elf das Ticket nach Frankreich löste, war beeindruckend. Das Team benötigte nur einen Punkt, legte aber die beste Leistung in der Ära Koller, womöglich sogar eine der besten Leistungen der letzten Jahrzehnte aufs Parkett.
In einer hart geführten Partie mit vielen Schnittzweikämpfen nahm Kollers Elf den Kampf gerne an. Dabei hatte man aber nicht nur keine Probleme mit dem hohen Tempo bei ebenso hoher Intensität, sondern schaffte es, das Spiel dauerhaft zu kontrollieren. Mit Junuzovic, Alaba und vor allem Arnautovic verfügte das Nationalteam gleich über mehrere Mittelfeldakteure, die das Spieltempo in Ballbesitz perfekt steuerten. Immer wenn die Schweden aufs Gaspedal zu drücken drohten, brachte man mit einfachen Mitteln und enorm hoher technischer Sicherheit Ruhe ins Spiel.
Bissig, kampfstark, torgefährlich, technisch besser
Diese technische Sicherheit war eine der verblüffendsten Facetten des gestrigen Abends. Österreich war den Schweden fußballerisch deutlich überlegen. Das Kombinationsspiel und die Präzision in den vorgetragenen Konterangriffen zeigte, dass dieses Team weit ist – sehr weit. Dass die Innenverteidigung und Keeper Almer sich immer mehr als Bollwerk erweisen und in der Offensive gleich fünf Spieler extrem torgefährlich sind, macht diese Mannschaft noch stärker. Zudem passt der Spirit: Die Art, wie die Österreicher weiterhin pressten und immer wieder Abschlüsse suchten, obwohl man das bereits entschiedene Spiel auch einfach locker ausklingen hätte können, war Balsam auf die Seelen der in den letzten Jahren nicht gerade verwöhnten, heimischen Fußballfans.
Geheimfavorit Österreich
Internationale Fanmeinungen attestieren Österreich bereits die Rolle des Geheimfavoriten in Frankreich. Und tatsächlich hätte man den Gegner gestern beliebig austauschen können – mit einer solchen Leistung muss sich die wohl beste Nationalmannschaft seit über drei Jahrzehnten vor niemandem verstecken. Trotzdem ist hier eine rationale Euphoriebremse angebracht, denn bis zur Europameisterschaft vergehen noch neun Monate respektive fast eine ganze Saison.
Finde deine Mitte
Gar keine Frage: Die Leistungen dieses Teams soll man nicht herunterspielen. Auch wenn der eine oder andere Spieler, oder gar mal die ganze Mannschaft, eines Tages wieder unplanmäßig auslässt, sollen wir jetzt nicht in die alten Muster des Suderantentums verfallen. Auf diese Truppe muss man stolz sein, diese Truppe macht Spaß, diese Truppe verdient Rückendeckung. Auch wenn es in der österreichischen Seele liegt dies nicht zu tun, sollten wir als Beobachter unsere Mitte finden. Zwischen „alles ist schlecht“ und „wir sind die Könige der Welt“ gibt es nun mal eine ganze Menge Schattierungen.
Erwartungshaltung
Obwohl Österreich derzeit eines von erst fünf Teams ist, das seine Hotels bereits buchen darf, liegen die Wettquoten für einen Europameister Österreich im Schnitt zwischen 50 und 100. Die Tageseuphorie gelobt es, sich mit der Möglichkeit auseinanderzusetzen, diesen unverschämt großen Schritt zu packen. Tatsächlich wäre aber schon das Überstehen der Gruppenphase ein riesiger Erfolg für unser Land. Ein Blick ins Heimatland unseres Teamchefs sollte die Vernunft wiederbringen: Auch die Schweizer hatten starke Spielergenerationen, kamen bei Europameisterschaften aber nie über die Vorrunde hinaus und qualifizierten sich in der Fußballneuzeit bei Weltmeisterschaften maximal fürs Achtelfinale. Zudem gewannen so genannte „Geheimfavoriten“ nie die EM. Die größten Überraschungen, die Erfolge von Dänemark 1992 und Griechenland 2004, gelangen klassischen Underdogs, denen vor den siegreichen Turnieren nichts zugetraut wurde.
Die vielen Unbekannten
Auch die weitere Saison 2015/16 spielt noch eine wichtige Rolle auf dem Weg zur EURO. Wie alle anderen Nationalteams sind auch die Österreicher nicht vor Verletzungen gefeit. Planen lässt sich das fünf Wochen dauernde Turnier ohnehin nicht und es wäre ein außergewöhnlicher Glücksfall, wenn der ÖFB-Kader im Juni und (hoffentlich) Juli 2016 in voller Blüte zur Verfügung stehen würde. Weiters steht Österreich erstmals vor einem möglichen Problem, das ebenfalls alle Nationalteams bei Großereignissen plagt: Die echten Top-Spieler sind nach einer langen Saison mit vielen Spielen womöglich bereits ausgelaugt. Dies könnte im Nationalteam am ehesten auf Spieler wie David Alaba, die England-Legionäre Christian Fuchs, Marko Arnautovic und Sebastian Prödl, womöglich auch auf Marc Janko oder Aleksandar Dragovic zutreffen. Und was tun, wenn der eine oder andere Leistungsträger gerade „rechtzeitig“ zum Turnier in der sprichwörtlichen „Kist’n“ ist und einfach nichts gelingen will?
Von Spiel zu Spiel
Die letzten beiden Absätze fallen jedoch unter den Leitsatz „kann sein, muss aber nicht“. Es gibt so viele Eventualitäten, so vieles was bis zum nächsten Sommer noch schiefgehen kann, so vieles, was noch verbessert werden kann. Frei nach Marcel Koller gilt somit vorerst: „Freut euch doch mal“. Wirklich fundiertes Fachsimpeln über die Chancen, die Österreich bei der EURO 2016 haben wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich, weil es noch zu viele Unbekannte gibt. Trotz der Qualifikation gilt: Denken wir von Spiel zu Spiel, versuchen wir in jedem Spiel etwas besser zu werden, halten wir uns in Topf 2, merzen wir die (wenigen) Schwächen aus, bis es dann wirklich ernst wird.
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Daniel Mandl Chefredakteur
Gründer von abseits.at und austriansoccerboard.at | Geboren 1984 in Wien | Liebt Fußball seit dem Kindesalter, lernte schon als "Gschropp" sämtliche Kicker und ihre Statistiken auswendig | Steht auf ausgefallene Reisen und lernt in seiner Freizeit neue Sprachen
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