Land der begrenzten Möglichkeiten: Als Österreichs „zweites Wunderteam“ nicht zur WM fuhr
Nationalteam 30.Dezember.2022 Julian Berger
Wirklich große Erfolge bei Großereignissen sind für Österreichs Fußball eine Rarität, für deren Zählung man nur wenige Finger einer Hand bemühen müsste. In jüngster Vergangenheit kann, ja muss der Achtelfinal-Einzug 2021 als solcher erachtet werden. Anfang der 1950er-Jahre erreichte man im Schatten des Wunders von Bern WM-Platz drei. Acht Jahre nach 1954 wäre für den ÖFB scheinbar ein weiterer ganz großer Coup möglich gewesen.
Eine Vienna-Legende als Erfolgsgarant
Der 1921 in Wien geborene Karl Decker sollte in den frühen 60er-Jahren die Hoffnungen Österreichs auf eine erfolgreiche WM nähren. Grund genug, um einen kurzen Blick auf seinen Werdegang zu werfen. Decker begann seine Spielerkarriere beim Ottakringer SC. In weiterer Folge landete er auch bei Sturm Graz, in Frankreich sowie der Schweiz, wo er mit 36 Jahren seine Zeit als Aktiver beendete. Schon damals schwang er im Übrigen beim FC Grenchen als Spielertrainer das Zepter und legte damit den Grundstein für seine spätere Laufbahn. Die erfolgreichste Zeit als Spieler erlebte Decker jedoch in Wien-Döbling, genauer bei der Vienna. Bereits im zarten Alter von 16 Jahren feierte er sein Debüt auf der Hohen Warte und blieb dem Club insgesamt 14 Jahre treu.
Drei Mal gelang es dabei, den Meistertitel in den Norden Wiens zu holen, in den Jahren 1944 und 1950 wurde Decker mit 33 bzw. 23 Treffern Torschützenkönig. Insgesamt erzielte er in 609 Spielen für die Döblinger 605 Tore – eine absolute Top-Quote also. Beim historischen 3:2-Finalerfolg der Vienna über Hamburg im Rahmen des als „Vorgänger“ des DFB-Pokals ausgetragenen Tschammer-Pokals 1943 traf Decker doppelt. Während der Anschlussjahre war Decker bei ebenso vielen Toren acht Mal Teil der großdeutschen Auswahl, für Österreich spielte der Wiener nach Kriegsende 25 Mal und durfte dabei 19 Tore bejubeln. Seinen FC Grenchen führte Decker als Spielertrainer im Übrigen 1958 auf den sensationellen fünften Platz. Grund genug für den ÖFB, an ihn heranzutreten.
Eine Enttäuschung als Chance
Wie eingangs erwähnt belegte Österreich im Jahr 1954 im Rahmen der Weltmeisterschaft den hervorragenden dritten Platz. Dementsprechend hoch hingen die Trauben vier Jahre später in Schweden. Doch statt Feierlaune war Tristesse angesagt, scheiterte die ÖFB-Auswahl, damals im Übrigen großteils aus Spielern der Wiener Clubs bestehend, sang- und klanglos in der Gruppenphase. In einer – zugegeben sehr schweren – Vorrundengruppe mit dem späteren Weltmeister Brasilien, der Sowjetunion und England reichte es für Österreich gerade einmal zu zwei Treffern beim 2:2 gegen England. Gegen die Sowjetunion (0:2) und Brasilien (0:3) ging man als Verlierer vom Platz. Alfred Körner und Karl Koller hatten Österreich gegen das Mutterland des Fußballs zweimal in Führung gebracht, dennoch reichte es nicht für einen Erfolg. Infolgedessen musste Nationaltrainer Josef „Pepi“ Argauer Anfang August nach über zweijähriger Amtszeit seinen Hut nehmen. Sein Nachfolger: der 36-jährige Karl Decker. Kadertechnisch setzte dieser ab 1959 auf eine Mischung aus Routiniers und jüngeren Spielern. Angeführt wurde das Team von Akteuren wie Rapid-Legende Gerhard Hanappi oder Karl Koller. Speziell in der Offensive regierte mit Horst Nemec, Adolf Knoll oder Karl Skerlan aber das Motto „Jugend forscht“. Garniert wurde die Angriffsabteilung mit bereits gestandenen Spielern wie Helmut Senekowitsch.
Eine Mixtur, die sich nach einer kurzen Findungsphase ab Anfang der 60er-Jahre in den Ergebnissen niederschlagen sollte. Im Mai 1960 fertigte die österreichische Auswahl Schottland klar und deutlich mit 4:1 ab. Es folgten ein 2:1 auswärts gegen Norwegen, ein 3:1 gegen die UdSSR sowie ein 3:0 gegen Italien. Auch Italien musste im Dezember 1960 die Stärke Österreichs anerkennen, Erich Hof und Ernst Kaltenbrunner sorgten in Neapel für einen 2:1-Erfolg. Die einzige Pleite in diesem Kalenderjahr ereilte die ÖFB-Auswahl beim 0:2 gegen Ungarn knapp drei Wochen vor dem Italien-Match. Etwa ein Jahr später revanchierte man sich mit einem 2:1 vor 86.000 Zuschauern im Wiener Praterstadion. 1961 wurde auch England mit 3:1 besiegt, insgesamt brachten die Jahre 1960 und 1961 in elf Spielen neun Siege bei nur zwei Niederlagen. Ein erfolgreiches Abschneiden bei der WM 1962 in Chile schien die logische Folge, die Siegesserie brachte die Medienwelt sogar dazu, den Begriff des „zweiten Wunderteams“ zu etablieren.
Eine Frage des Geldes
Ausgerechnet dieser Auswahl an Spielern, welche man durchaus mit den geflügelten Worten der „goldenen Generation“ bezeichnen hätte können, war eine Teilnahme an der WM-Endrunde aber nicht vergönnt. Sportliche Gründe waren dafür natürlich nicht ins Treffen zu führen, stattdessen wurde offiziell von zu hohen Reisekosten sowie enorm hohen Subventionsforderungen der Vereine gesprochen und geschrieben. Inoffiziell sollen auch das schlechte Abschneiden in Schweden 1958 sowie die finanziellen Motive der Wiener Großvereine Rapid, Austria und Sportclub eine Rolle gespielt haben. Die drei genannten Klubs sollen sich von Auslandsreisen mit der gesamten Mannschaft höhere Einnahmen versprochen haben. Bei den Spielern stieß dieses Vorgehen naturgemäß auf wenig Gegenliebe. Gerhard Hanappi – damals mit 93 Einsätzen Rekordinternationaler – wurde so um seine dritte WM-Teilnahme gebracht und soll bitter enttäuscht gewesen sein.
Auch Trainer Decker schien frustriert, beendete sein Dienstverhältnis bereits sechs Monate vor Vertragsende. Zuvor hatte sein Team sechs Niederlagen in Serie einstecken müssen, möglicherweise auch eine Folge der Enttäuschung über das Vorgehen des Verbandes. So nahm Österreich einer seiner wohl talentiertesten Spielerriegen die große Chance auf ein fußballerisches und sich selbst jene auf ein sporthistorisches Highlight. Die Spieler der damaligen Generation verfolgten teilweise äußerst erfolgreiche Vereinskarrieren, Trainer Karl Decker fungierte später als Trainer beim Wiener Sportclub und interimistisch auch bei Rapid. In seine Amtszeit in Hütteldorf fiel unter anderem der legendäre Aufstieg gegen Real Madrid im Rahmen des Meistercups 1968.
Julian Berger, abseits.at
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