Mittlerweile hört man die Geschichten unserer (Ur)-Großeltern, die nach 1945 Schmuck gegen Eier und Pelze gegen Butter eintauschten, immer weniger, denn die Zeitzeugen der großen Not nach dem Zweiten Weltkrieg sterben langsam aus. Heute, wo die Hinterhof-Müllcontainer der Supermarktfilialen voll genießbarem Essen übergehen und chronische Fettleibigkeit grassiert, kann man sich kaum mehr vorstellen, dass in Österreich Fleisch einmal rationiert und Zucker nicht vorhanden war oder der „Kaffee“ aus gesammelten Eicheln bestand hat. Die Lebensmittelknappheit nach der Kapitulation des Deutschen Reiches hielt die fußballbegeisterten Österreicher jedoch nicht davon ab, schon wenige Wochen nach dem 8. Mai 1945 wieder eine Meisterschaft zu starten: Adieu Gauliga!
Der damalige Rapid-Verteidiger Max Merkel, der seine Kriegsjahre beim LSV Markersdorf an der Pielach verbracht hatte, kehrte nach einem Intermezzo beim Wiener Sportklub 1946 zu seinem Stammverein zurück, um wieder regelmäßig Siege zu feiern: Hunger nach Erfolg! In Hütteldorf hatte Kapitän Binder seine Rapid nämlich schon in der Saison 1945/46 zum Double geführt. Bald wurden auch die ausgedehnten Auswärtstourneen der Wiener wiederbelebt: Die erste Fahrt in die Fremde sollte Rapid in die Schweiz, die die Kriegsgräuel als neutraler Staat unbeschadet überstanden hatte, führen. Für Merkel und seine Kollegen lebten die Eidgenossen daher in einem Land, in dem „Milch und Honig fließen“: Bei ihren Streifzügen entdeckten sie nicht nur die legendäre Schweizer Schokolade, würzigen Almkäse oder das Malzgetränk Ovomaltine, sondern auch reichlich Saccharin, den ältesten synthetischen Süßstoff der Welt, der in Wien und Umgebung zu dieser Zeit kaum aufzutreiben war. Die Grün-Weißen tauschten und kauften daher fleißig Lebensmittel für zuhause ein, sodass ihre Koffer bei der Rückreise beinahe zu platzen drohten. Glücklicherweise verliefen die Kontrollen der Vorarlberger Zöllner oberflächlich und die Rapid-Kicker atmeten in ihren zu Lebensmittellagern umfunktionierten Schlafwagenabteilen auf.
In Dornbirn hatte der Zug, der die Hütteldorfer in die Hauptstadt brachte, Aufenthalt und die Spieler vertraten sich ihre Beine in der Stadt. Ein Fleischhauer – seines Zeichens Rapid-Anhänger – war ob der Tatsache, dass Happel, Zeman und Co. plötzlich vor seiner Tür standen, so begeistert, dass er den Kickern seines Lieblingsklubs ein Stück rund 50 Kilogramm schweres G’selchtes spendierte. Vielleicht inspirierte ihn Stürmer Robert Körner dazu, der wegen seiner schlanken Figur den Spitznamen „G’selchter“ trug. Das kostbare, frisch geräucherte Fleisch trugen die Rapidler wie einen Schatz zurück in den Zug. Als die Fahrt fortgesetzt wurde, roch der gesamte Schlafwagen im Handumdrehen wie eine Selchkammer: Ein Odeur, das die Männer nach vielen Jahren des Erdäpfelessens schmerzlich vermisst hatten. Die Freude der Beschenkten sollte jedoch nicht lange währen: Denn beim nächsten Halt in Bludenz gesellte sich die österreichische Wirtschaftspolizei zu den Reisenden.
Fredi Körner warf Merkel daraufhin einen sorgenvollen Blick zu. Der Stürmer hatte es längst überrissen: „Wenn die das Fleisch riechen, filzen sie unsre Koffer und knöpfen uns die Schokolade, das Saccharin und den Rest ab.“ Merkel nickte. Die Kicker steckten die Köpfe zusammen und kamen zu dem Schluss, dass ihnen nach Eintreten des „wurst-käs-szenarios“ nun keine andere Wahl blieb, als das gute Fleisch schweren Herzens zu entsorgen. Körner II und Merkel schritten zur Tat: Als es während der Fahrt durch den Arlbergtunnel kurzfristig finster wurde – Verdunkelungsgefahr – rissen sie das Fenster ihres Abteils auf und warfen das Stück Schwein mit vereinten Kräften auf den Bahndamm. Erleichtert sanken die Beiden wieder auf die Sitzbank zurück. Plötzlich erhob sich jedoch Flügelstürmer Willi Fitz, grapschte nach einem mitgebrachten Brotlaib aus der Schweiz, schob erneut das Zugfenster hinunter und schleuderte das Brot der „Schweinerei“ hinterher. Entgeistert starrten ihn seine Mitreisenden an. Fitz jedoch zuckte nur mit den Schultern und meinte grinsend: „Ja, stellt euch vor: Da findet jemand so ein ‚Trum G’söchts‘ und hat kein Brot dazu.“ Jetzt mussten auch Merkel, Körner und Co. schmunzeln. Der Offensivspieler hatte sie mit seinem Schmäh über den Verlust des g‘schmackigen Fleisches hinweggetröstet.
Jener Fitz ist heute leider kaum mehr bekannt, dabei hatte der Stürmer am deutschen Meistertitel Rapids einen entscheidenden Anteil: War er doch der Gefoulte, der für jenen Elfmeter sorgte, den Franz Binder schließlich zum 4:3 über Schalke verwandelt hatte. Der pfeilschnelle Fitz gewann mit Rapid außerdem drei österreichische Meisterschaften sowie einmal den Cup, absolvierte 1942 ein Länderspiel für die DFB-Elf, kickte bei der Vienna, dem Floridsdorfer AC und zum Schluss bei Panathinaikos Athen. Willi Fitz starb 1993 in seiner Geburtsstadt Wien.
Marie Samstag, abseits.at
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