„Basti, wir müssen es nochmal singen!“, ruft die Frau mit schwarz-weißer Collegejacke einem Mann zu. „Das haben wir schon gesungen.“, entgegnet er. Trotzdem stimmen... Piraten, Radfahrer und Antifaschisten – Lokalaugenschein auf der Friedhofstribüne

„Basti, wir müssen es nochmal singen!“, ruft die Frau mit schwarz-weißer Collegejacke einem Mann zu. „Das haben wir schon gesungen.“, entgegnet er. Trotzdem stimmen sie wieder den Schlachtgesang an: „Er steht im Tor, im Tor, im Tor und wir dahinter. Frühling, Sommer, Herbst und Winter sind wir nah bei unserm Schatz, auf dem Fußballplatz.“ Der, dem mit diesem Lied Mut gemacht werden soll, ist Alex Kniezanrek. Für den Zwanzigjährigen ist es an diesem lauen Herbstabend der erste Einsatz für den Wiener Sport-Club. Er hält seinen Kasten in der ersten Halbzeit sauber, dann – ausgerechnet als er vor der legendären Stehtribüne das Netz bewacht – bekommt er ein Tor, für das man ihn in anderen österreichischen Stadien verbal zum Eiergoalie degradiert hätte. In anderen Stadien, aber nicht hier.

Wer zur Hölle ist Annemarie?

Für Oktober ist es viel zu warm und die Hernalser Hauptstraße ist durchschnittlich stark befahren. Parallel zur Alszeile ist es stockdunkel, an der Präsenz von Blumengeschäften und Steinmetzbetrieben merkt man, dass der Friedhof nahe ist. Nur alle zwei Wochen – immer dann, wenn der Sport-Club zum Heimspiel lädt – wird die Grabesstille gebrochen. Heute ist es wieder so weit: Die Sport-Club-Fans stehen vor den Ticketschaltern und dem Grillstand Schlange. Die Stimmung ist entspannt. Polizisten, wie man sie von anderen Ligaspielen kennt, sind nicht zu sehen. 1.800 Zuschauer sind zur elften Runde der Regionalliga Ost gekommen. Man begrüßt den SC Neusiedl/See, der in dieser Saison sein Hundert-Jahr-Jubiläum feiert. Zwei Auswärtsfans haben sich auf die Gästetribüne verirrt und sitzen stoisch der vollbesetzten Stehtribüne gegenüber. Die Heimfans stehen eng beisammen, die Hierarchie auf der Friedhofstribüne ist flach. „Bruder.“, sagt ein Mann dessen Antifa-T-Shirt sich über den Bauch wölbt: „Darf ich da mal durch?“ Er legt seinem Vordermann die Hand auf die Rippenbögen und schiebt sich vorbei, um die Gittertür zum Spielfeld zu öffnen. Der Ordner nickt ihm zu. Der Mann verschwindet in die Katakomben Richtung Kabinen. So etwas passiert öfters: Regionalligafeeling. Die Friedhofstribüne hat keinen Vorsänger: Irgendjemand beginnt zu klatschen, die anderen fallen ein. Sie geben adaptierte, englische Popklassiker zum Besten. Mit dieser Methodik ist keine Dauerbeschallung möglich, auch Choreografien oder Bengalen – die manchmal als unabdingbares Extra der Fankultur suggeriert werden – finden sich in Dornbach nicht. Gegner-Bashing und gossenhaftes Gegröle sind zudem strikt verpönt.

Am Ende wird die Autorin gerade einmal zwei Rufe an den Schiedsrichter in ihrem Gedächtnis notieren. Diese fallen mit „Schiri, was is mit dir?!“ und „Was machst du Wachler, Oida?“ dann doch recht harmlos aus. Auf der Friedhofstribüne stehen wenig Jugendliche, sondern vermehrt Männer mit gepflegten Bärten und Jack-Wolfskin-Jacken. Gut ein Drittel der Anwesenden sind Frauen. „Asoziale Dornbacher“, wie sie sich in jenem Lied selbst bezeichnen, in dem sie vom „Saufen bei der Annemarie“ – einem längst geschlossenen Gasthaus – erzählen, sind sie wirklich nicht. Sie sind politisch auf einer Wellenlänge: Der heutige harte Fankern entwickelte sich Ende der 80er aus der alternativen Jugendkultur Wiens. Man spricht sich offen gegen Homophobie und Rassismus aus und beteiligt sich an sozialen Projekten. Während die Autorin dem bemühten Rackern auf dem Spielfeld zuschaut, sticht ihr ein Sticker ins Auge: Dynama Donau. Ein paar bekannte Gesichter konnte sie auf der Stehtribüne ebenfalls schon orten.

Hernals ist anders

Sie stimmen es erneut an: „Er steht im Tor, im Tor, im Tor und wir dahinter. Mag es regnen, mag es schneien, er ist nie im Tor allein.“ Nicht nur ein Verteidiger nimmt Kniezanrek nach seinem Patzer in den Arm, die Friedhofstribüne unterstützt ihn verbal. Nach dem Schlusspfiff wird ein beträchtlicher Teil des Publikums „Danke, dass wir zum Fußball gehen und nicht zu Rapid Wien.“ singen. Für Neuzugänge ist das faszinierend: Ein Kultklub mit modernen Fans, die sich für eine offene Gesellschaft einsetzen. Das entspricht nicht dem üblichen Fußballklischee und ist wahrscheinlich nur bei einem kleineren Verein zu verwirklichen.

Der Sport-Club entstand einst am 25. Februar 1907 aus dem Zusammenschluss des Wiener Cylistenclubs und der Wiener Sportvereinigung. Die Fußballsektion des Vereins, in dem auch Eishockey gespielt, geschwommen oder gefochten wird, erlangte rasch Berühmtheit. In den 50ern feierten die Schwarz-Weißen ihre Hochzeit, als sie einige Nationalspieler stellten. Später blamierte man sogar Juventus Turin im Europacup und wurde zweimal österreichischer Meister. Dann folgten Geldprobleme, Konkurse und der Absturz in die sportliche Bedeutungslosigkeit. Auch die ökonomische Situation der Hernalser sah jahrelang alles andere als rosig aus. „Dornbach-Road“ ist ein rumpliger Weg, der erst letztes Jahr mit dem Abschluss der Saison auf dem vierten Tabellenplatz, in ruhigere Bahnen mündete. Für die selbsternannten Partisanen der dritten Liga geht es aktuell in die Konsolidierungsphase, dabei hat man sich auf seine Art und Weise schon etabliert: Seit 17 Jahren feiern die Hernalser den status quo in der Regionalliga Ost und pochen auf ihr Erbe, Establishment-Kritik und linken Lokalpatriotismus.

„Pirati, Cyclisti, Antifascisti!“, schallt es mittlerweile durch den Nachthimmel der Vorstadt. Der britische Flair des WSC-Platzes kommt von den nahe am Feld liegenden Rängen und der Einbettung des Stadions mitten in die Hernalser Vorstadt. Einmal kracht ein Pressball fast in ein Wohnungsfenster. Verständlich, dass die Vereinsführung diese Atmosphäre unbedingt erhalten will, dennoch muss die Spielstätte dringend renoviert werden. Die Friedhofstribüne ist undicht, bei Regen dringt Wasser in die Kabinenräume. Erst in einem Jahr sollen die Sanierungsarbeiten beginnen — bei vollem Spielbetrieb, denn anders geht es nicht. Kürzlich musste WSC‑Geschäftsführer Heinz Palme im Interview mit 90minuten.at zugeben: „Rapid und Austria saugen alles ab, die haben Sales-Teams. Beide Marken haben eine starke Kraft, das ist gewachsen.“ Der Sport-Club muss die finanziellen Bröseln, die noch übrig sind, aufpicken. Die Energie, die von den Fans kommt, ist jedoch Ansporn genug.

Tormann Kniezanrek spielt ab seinem Fehler in der 54. Minute verunsichert weiter: Hektische Abschläge, Sicherheitspässe. Basti meint, es rieche nach einem Unentschieden. Doch mit der letzten Aktion gelingt der Lucky-Punch. Während Fans auf das Gitter springen und die gesamte WSC-Ersatzbank aufs Feld läuft, kann die Autorin ihr Glück im ganzen Trubel kaum fassen. Was für einen Spieltag hat sie sich ausgesucht, um diese Reportage zu schreiben! Anstoß und im gleichen Atemzug der Abpfiff. Die „Liabschoft aus Hernois“ dreht eine Abschiedsrunde und tanzt vor der Friedhofstribüne Samba. „Six in a row!“, ruft Basti entzückt: Der Wiener Sport-Club ist seit sechs Spieltagen ungeschlagen und steht auf dem zweiten Tabellenplatz. Beim Feiern ziert sich Kniezanrek kurz, wird aber von den Torschützen in die Mitte genommen und dicht an die Friedhofstribüne geführt. Die Fans jubeln. This is Sport-Club – made in Hernois.

Marie Samstag, abseits.at

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Marie Samstag