Angriff ist die beste Verteidigung: Wie ein durchschnittlicher FC Barcelona den AC Milan mit offensivem Pressing einschnürte
Champions League 5.April.2012 Rene Maric 0
Das absolute Topspiel dieser Champions-League-Runde war sicherlich das Aufeinandertreffen zwischen dem FC Barcelona und dem AC Mailand. Bereits im Hinspiel war die Partie zu einem vorgezogenen Finale hochstilisiert worden, das Spiel an sich war kein absoluter Knaller geworden. Ein torloses Unentschieden sorgte allerdings dafür, dass das Rückspiel mit viel Spannung erwartet wurde. Nicht wenige Experten trauten es lediglich den Mailändern in dieser CL-Saison zu, den großen Favoriten aus Katalonien rauszuwerfen.
Doch besonders in diesem Rückspiel zeigte sich, wieso diese Meinung ein großer Irrtum ist. Die Italiener besitzen nur wenige Mittel, um gegen die Hausherren bestehen zu können und das nutzten die Mannen um Xavi und Messi trotz einer – für ihre Verhältnisse – eher durchschnittlichen Leistung gut aus. Man konnte sich enorm viele Chancen erspielen und war der verdiente Sieger, trotz zweier Elfmetertore und einem zwischenzeitlichen Ausgleich. Die Formation der Mailänder war schlichtweg dermaßen unvorteilhaft, dass sich bereits in den Anfangsminuten zeigte, man würde hier wohl ausscheiden. Zu wenig Flügelspiel, kaum Kompaktheit beim Pressen und Unsicherheiten bei einer zurückgezogenen tiefen Formation.
Milans Aufstellung
Wie bereits erwähnt: auf den Seiten agieren die Mailänder zu eng, die Außenverteidiger sind individuell zu schwach, um Gefahr nach vorne zu entfachen sowie hinten dicht zu machen. Sowohl Abate als auch Antonini haben ihre Stärken eher in der Offensive, dazu kam man allerdings gegen die Katalanen nur zu selten. Vielmehr musste man sich auf die Aufgaben in der Defensive konzentrieren, denn diese Aufgaben hatten gegen die vier Stürmer Barcelonas Priorität.
Hinzu kommt die zu zentrale Ausrichtung im Sturm, wo sich zwar Robinho oftmals auf die Flügel fallen lässt, aber mit Boateng und Ibrahimovic lediglich zwei Spieler zur Unterstützung erhält. Nocerino erzielte zwar einen schönen Treffer, aber sein Aufrücken war zu selten und nicht dynamisch genug, um dadurch öfter für Gefahr zu sorgen. Noch schlimmer war dies bei Clarence Seedorf. Der Altstar mag durch seine Übersicht und Technik bestechen, allerdings ist er zu langsam, um in einem solchen Rautensystem Gefahr nach vorne entfachen zu können.
Komplettiert wurde die Raute durch den tiefspielenden Ambrosini vor der Abwehr, der insbesondere die Wege Lionel Messis unterbrechen sollte. Einerseits hatte er die Aufgabe Pässe zum Argentinier zu verhindern, andererseits sollte er ihn bei seinen Dribblings zusammen mit Nesta stören. Es war kein Zufall, dass es ausgerechnet Nesta war, welcher auf der linken Innenverteidigerposition auflief. Der ehemalige Weltklasseverteidiger besticht auch im hohen Fußballeralter mit sehr guten Tacklings und Körpereinsatz, wenngleich seine Konstanz und Geschmeidigkeit in den Jahren etwas gelitten hat. Sein Pendant Mexes mag zwar jünger sein, ist aber keineswegs schneller – und ohne die zahlreichen positiven Attribute Nestas hätte er gegen den extrem dynamischen Messi sehr schweres Spiel gehabt. Deswegen entschied sich Massimiliano Allegri für eine Art Doppeldeckung von Ambrosini und Nesta, welche die Nummer 10 Barcelonas bei dessen Sololäufen von beiden Seiten unter Druck setzen sollten, während Mexes im Notfall den Raum auf die rechte Außenbahn oder zu Fabregas absperren sollte.
Die Halbspieler in der Raute, Seedorf und Nocerino, hatten in der Defensive die Aufgabe, Iniesta und Xavi in ihrem Aktionsradius einzuengen. Auch hier ging man dem Prinzip der gegnerischen Dynamik nach. Der wendige Nocerino übernahm Iniesta, Seedorf orientierte sich im Raum zwischen Xavi und Alves, wo er hauptsächlich diese Passwege zusperrte – allerdings hätte er sich viel näher an Xavi orientieren und diesen bedrängen sollen, eine Aufgabe, die letztlich großteils Boateng übernahm. Robinho und Ibrahimovic kümmerten sich um ein leichtes Pressing gegen die gegnerische Innenverteidigung, sie positionierten sich höher als man es sich von einer tiefstehenden Mannschaft wohl erwartet hätte. Die Idee dahinter war sicherlich, Barcelona im Aufbauspiel unter Druck zu setzen, dies kostete allerdings einiges an Kompaktheit. Die Katalanen konnten mit ihrer Dreierkette die beiden gegnerischen Stürmer relativ einfach umspielen und hatten danach im Mittelfeld mehr Raum.
Barcelonas Aufstellung
Die Gastgeber begannen praktisch mit einem 3-3-4-System, welches aufgrund mehrerer Ursachen gewählt wurde. Da die Mailänder mit einem Zweiersturm agieren, hat man mit einer Dreierkette gewisse Vorteile. Der zentrale Innenverteidiger kann als absichernder freier Spieler spielen und deshalb nimmt man dem Gegner viel Wind aus den Segeln. Weite Bälle in den freien Raum werden abgefangen und die Innenverteidiger in den Halbpositionen können aggressiver pressen. Vor der Dreierkette spielte Sergio Busquets, ein eklatant wichtiger Spieler. Mit seiner enormen Spielintelligenz und seinem Antizipationsvermögen bietet er defensiv ungeheure Möglichkeiten. Er ermöglicht den beiden Innenverteidigern neben Pique beispielsweise ihre Gegenspieler verfolgen zu können oder sogar ins Mittelfeld aufzurücken. Besonders zeigte sich dies bei Javier Mascherano, welcher Robinho einige Male auf den Flügel verfolgte oder sich am Pressing beteiligte, indem er nach vorne schob. Sergio Busquets nahm dann die Position des Innenverteidigers ein, teilweise bildete man sogar so eine verkappte Viererkette.
Davor spielten Xavi und Andrés Iniesta im offensiven Mittelfeld. Damit war die klassische Aufteilung des Barcelona-Mittelfelds gegeben. Xavi hatte als organisierender und spielmachender Achter die Aufgabe, das Spiel an sich zu reißen. Er bot sich vor der Abwehr an und der Sechser Busquets unterstützte ihn dabei. Letzterer gilt für viele, unter anderem Pep Guardiola, als bester One-Touch-Passspieler der Welt und damit riss er Löcher in das gegnerische Pressing. Nahezu jeder Pass wird sehr schnell und genau weitergeleitet, was Xavi die Möglichkeit gibt sich durch viel Bewegung überall im Mittelfeld anspielbereit zu machen.
Dieses Mittelfeldtrio komplettierte letztlich Iniesta, der eine Art Zehner war, jedoch ganz anders als es vor vielen Jahren noch üblich war. Iniesta hatte zwar die Aufgabe, dass er im letzten Spielfelddrittel die Schlussangriffe einleitete oder gar selbst vollendete, trotzdem beteiligte er sich extrem aufopfernd am Kollektivspiel. In der Offensive wich er Kombinationen oft aus, da er mit Läufen ohne Ball Löcher ins gegnerische Defensivspiel riss. Er positionierte sich oftmals zwischen zwei Gegenspielern oder rannte hinter Gegenspieler in Ballnähe, um sie dadurch vom Spielgeschehen und ihrer Zuordnung abzulenken. Defensiv beteiligte er sich extrem gut am Pressing, schloss Räume und sicherte im Verbund mit Cuenca und Puyol die linke Seite.
Auf der halbrechten Seite hatte Barcelona mit Xavi einen langsameren Spieler als Iniesta – deswegen ist Alves als Rechtsfuß und Dauerläufer enorm wichtig. Mit Mascherano gibt es einen gelernten defensiven Mittelfeldspieler auf der Position des halbrechten Innenverteidigers und im Verbund mit Dani Alves als Flügelstürmer bietet sich eine defensiv absolut sattelfeste Seite. Xavi schiebt nur leicht auf die Außenbahn heraus, Busquets sichert für Mascherano ab, wenn es nötig wird und die Athletik Alves‘ tut ihr restliches. Der Brasilianer spielt normalerweise als rechter Außenverteidiger dermaßen offensiv, dass er bereits in der gegnerischen Hälfte mit der Defensivarbeit anfängt. Er setzt nach einem Ballverlust den Ballführenden sofort unter Druck, außer der Ball ging im Zentrum oder auf der gegenüberliegenden Seite verloren. Dann sieht das Ganze etwas anders aus, denn im Sprint eilt Alves zurück und bildet hinten eine Viererkette. Diese enorm komplexe und laufintensive Spielweise steht nur Dani Alves offen, aber wenn er als Flügelstürmer aufgestellt wird, so kann man das gleiche Schema nutzen. Der Unterschied ist, dass Alves bei einer Dreierkette besser abgesichert wird und dank seiner schematischen Höhe sogar ins Zentrum hinein pressen kann. Das Pressing wird nun eine weitere Ebene nach vorne verlagert und die gegnerische Verteidigung früher unter Druck gesetzt.
Milan in der Defensive
Die Mailänder wollten sich den Sieg über schnelle Konter und eine sichere Defensive holen. Wie genau das aussah, kann man gut erkennen. So wollte Milan in der defensiven Grundformation stehen, zumindest war dies die Idealschablone im Vorfeld des Spiels. Mexes und Nesta spielten gemeinsam in der Innenverteidigung eng beieinander, die Außenverteidiger rückten etwas ein und überließen die Außenbahnen den Gegnern. Die große Enge in der Mailänder Formation war offensiv wie erwähnt eine sehr große Schwäche, defensiv half es ihnen jedoch. Da Barcelona im Normalfall hauptsächlich über das Zentrum kommt, mit vereinzelten Bällen auf Alves rechts, wollte man den Raum sehr eng machen. Aufgrund der gegnerischen 3-3-4-Formation gelang dies zwar nur teilweise, die Idee dahinter ist aber sehr interessant.
Mit Ambrosini spielt ein robuster Sechser, der Lücken stopfen und Fehler seiner Vordermänner kompensieren kann. Wichtig ist die Rolle der Spieler in den Halbpositionen. Neben der Unterstützung im Pressing auf das zentrale Mittelfeld, musste man die Außenspieler gegen Cuenca und Alves unterstützen sowie im Vorwärtsgang helfen. Oben schilderte ich, wie Seedorf hierbei große Probleme hatte – es war kein Zufall, dass sich Robinho nach links orientierte. Ibrahimovic bildete teilweise eine Solospitze und Robinho suchte nach Lücken auf der rechten Seite, wo man ein Loch zwischen Alves und der Abwehr finden wollte.
Beim Umschalten war auch die Rolle des athletischen Boateng essentiell. Der Ghanaer musste hinten helfen, vorne pressen und nach Ballgewinn als sichere Anspielstation das Spiel auf die Seiten verlagern oder den Ball nach hinten prallen lassen können. Im weiteren Verlauf des Angriffs rückte er nach vorne, zumeist durch das Zentrum, wo er Robinho die linke Außenbahn überließ und sich mit Ibrahimovic im Zentrum oder rechts abwechselte. Hin und wieder rückte Ibrahimovic nach rechts und bot sich breit für weite Bälle an, manchmal kam er durchs Zentrum, dann musste Boateng sich anpassen. Dort orientierte er sich dann in einer Halbposition oder bot sich in der Tiefe an, während Nocerino nachschob.
Barcelonas Pressing
Als letzter Punkt das auffallend hohe und aggressive Forechecking der Katalanen. In obiger Grafik wird das Attackieren ganz vorne auf der rechten Seite dargestellt. Der linke Außenverteidiger Milans hat hier den Ball, Messi und Co. schieben drauf.
Wie bereits erwähnt ist Alves sehr hoch positioniert. Er stresst den Gegner frontal und wird dabei vom halbrechten Stürmer, Lionel Messi, unterstützt. Cesc Fabregas lässt sich etwas fallen und rückt nach, er sperrt die Passwege zum Innenverteidiger. Auf die halbrechte Innenverteidigerposition schiebt dann Cuenca, er sorgt also dafür, dass das Pressing der Katalanen nicht durch eine einfache Aneinanderreihung von Querpässen ausgehoben werden kann. Diese Aufgabe ist eminent wichtig, da sonst die gesamte gegenüberliegende Seite, insbesondere aufgrund der Dreierkette, offen wäre.
Apropos Absicherung: Auf der ballnahen Seite übernimmt das in diesem Fall Mascherano. Der Argentinier rückt auf die Außenbahn und schiebt nach vorne, allerdings nur bis zu einer gewissen Höhe. Der Abstand zu Alves mag groß erscheinen, doch er ist genau richtig gewählt. Der Grund dahinter ist das bereits vorhandene Absperren der Passwege durch Alves. Somit kann kein gerader Pass nach vorne gespielt werden, man muss über das Zentrum gehen. Hier hat man mit Xavi und Busquets zwei Spieler, die einen vertikalen Durchgang nach vorne absperren und dann den Passempfänger unter Druck setzen. Dieser Passempfänger kann den Ball zwar einfacher behaupten, als es der Passgeber konnte, hat aber einen großen Nachteil: keine freie Passwahl. Sein Vorgänger konnte einen riskanten weiten Ball auf die andere Seite, einen Kurzpass ins Zentrum und zum Innenverteidiger spielen sowie einen Sicherheitspass zum Torhüter.
Der Spieler im Mittelfeld hingegen kann sich nicht drehen und auch der Rückpass ist durch Messi und Alves versperrt. Ein Pass wird also nur zum (nach dem gespielten Pass aufrückenden) Außenverteidiger möglich, hier kann dann aber Mascherano relativ risikolos aufrücken und den Ball ins Aus klären. Normalerweise wird der Ball also in dieser Phase durch eine unnötige Drehung verloren gegeben, Barcelona hat den Ball nun im Mittelfeld und kann das Spiel neu aufbauen. Ein gerader Pass nach vorne ist aufgrund von Busquets nicht möglich, er sperrt hier den Weg ab und nach Mascheranos Aufrücken im folgenden Spielzug geht er in die Dreierkette hinein, um dort für Stabilität zu sorgen. Pique agiert als absichernder Spieler im Zentrum, Puyol auf der ballfernen Seite rückt nach und spielt ähnlich wie bei einer Viererkette als zweiter Innenverteidiger.
Ein Abwehrbollwerk in der gegnerischen Hälfte, Barcelonas Markenzeichen.
Rene Maric, abseits.at
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