Was Lucien Favre in den letzten viereinhalb Jahren bei der Borussia aus Mönchengladbach errichtet hat, sucht seinesgleichen. Selbst der BVB war vor der Meisterschaft... Der Rücktritt unter der Lupe: Gladbachs Aufstieg und Fall unter Favre im Jahr 2015

Lucien Favre - Borussia Mönchengladbach_abseits.atWas Lucien Favre in den letzten viereinhalb Jahren bei der Borussia aus Mönchengladbach errichtet hat, sucht seinesgleichen. Selbst der BVB war vor der Meisterschaft 2011 ein konstanter Anwärter auf die Europa-League-Plätze, doch der Schweizer hat es tatsächlich fertiggebracht aus einem akut abstiegsgefährdeten Verein eine Champions-League-Mannschaft zu formen. Am 20.09.2015 wurde Favres Rücktritt bekanntgegeben, womit die erfolgreichste Ära der „Elf vom Niederrhein“ seit den 70er-Jahren vorzeitig beendet wird. Zu schwer wog die Hypothek der sechs chancenlosen Niederlagen der letzten Wochen.

abseits.at blickt auf die erfolgreiche Zeit der Borussen aber auch auf die großen Veränderungen der letzten Monate zurück, die diese verhängnisvollen letzten Spiele zur Folge hatten.

Borussia Mönchengladbach in der Rückrunde 2015

Die vergangene Rückrunde schloss Borussia Mönchengladbach mit 39 Punkten aus 17 Spielen (ca. 2,29 Pkt./Spiel) als beste Mannschaft ab, fertigte dabei den Rekordmeister Bayern auswärts mit 2:0 ab und verzauberte die Fans zu Hause mit Kantersiegen gegen vermeintlich individuell besser besetzte Mannschaften aus Leverkusen (3:0) oder Dortmund (3:1). Auch die Wolfsburger mussten sich mit 0:1 geschlagen geben.

Dabei lautete die Marschroute der Borussia Vollgasfußball. Mit Xhaka und Kramer hatte sich ein starkes Mittelfeldduo gefunden, im Sturm wirbelten Raffael und Max Kruse die gegnerischen Abwehrreihen auseinander. Garniert wurde dies mit raketenschnellen Außenstürmern wie Traoré oder Herrmann. Seine Strategie hatte Lucien Favre in diesem Frühjahr 2015 perfektioniert, sie waren sogar erfolgreicher als die Mannschaft um Neustädter, Dante und Reus drei Jahre zuvor. Es gelang ihm geduldiges Spiel auf Ballbesitz mit pfeilschnellen Kontern zu kombinieren.

Er blieb immer noch seinem 4-4-2 mit klaren Rollenverteilungen treu. So agierte Raffael beispielsweise als hängende Spitze, Xhaka als dominanter Ballverteiler, Kramer als Balancespieler und die schnellen Außen sollten Angriffe nach vorne tragen, was gerade bei Kontern entscheidend wurde. Dabei spielten die Gladbacher kein hochaggressives Angriffspressing, die Stürmer verhielten sich zurückhaltend und versuchten den Sechserraum abzudecken, lediglich in bestimmten Situationen (bei Triggern) wurde gepresst (z.B. Stoppfehler des Gegenspielers).

Auch gab es kein konzeptionell einstudiertes Gegenpressing, die Spieler pressten nur schnell rückwärts und nahmen sofort wieder ihre Positionen ein. Die Idee dahinter war, den Gegner zu locken, um in dessen Rücken mehr Platz für schnelle Gegenangriffe zu schaffen. Dabei lag der Fokus bei Ballgewinn im ersten Drittel auf schnellem Umschalten, statt dem Bieten von Anspielstationen, häufig wurde dies über Flügeldurchbrüche erreicht. Gelegentlich ließen sich Raffael und Kruse aber auch ins Mittelfeld fallen, um den Ball von dort aus direkt auf die durchstartenden Flügel zu passen.

Gegen den Ball sollte in der Regel der Gegner nach außen geleitet und dort isoliert werden, da durch die Raumverknappung kein Kombinationsraum mehr übrig blieb. Hohe Flanken aus dem Halbfeld fing Sommer souverän ab. So oder so verstand es die Borussia für Ballgewinne und Umschaltaktionen zu sorgen. Defensiv stach die hervorragende horizontale wie vertikale Staffelung gegen den Ball heraus. Die Abstände und das Verschiebeverhalten ließen dem Gegner keinen Platz im Zentrum.

Im tiefen Spielaufbau ließ sich Xhaka oft zwischen die beiden Innenverteidiger fallen, dabei stießen die Außenverteidiger weit nach vorn und „drückten“ dabei oft die Außenstürmer nach innen zwischen die Linien. Der junge Schweizer erinnert nicht zuletzt aufgrund seiner langen Diagonalbälle und seines Positionierungsverhaltens an Bayerns Xabi Alonso. Sein Assistent Kramer (dem ein eigener Abschnitt in diesem Artikel gewidmet ist) positionierte sich dabei immer im Mittelfeld. Im weiteren Angriffsverlauf und auch oft bei Kontern konnte man beobachten, dass die Borussia mit Überladungen agierte, um Gegnerdruck mit schnellen Kurzpasskombinationen aufzulösen und schnell in offene Räume zu verlagern. Dieses Phänomen brachte den Gladbachern aufgrund der katalanisch anmutenden Präzision der Passfolgen im Jahre 2012 sogar den Spitznamen „Borussia Barcelona“ ein.

Faktor Kramer

Christoph Kramer avancierte unter Lucien Favre 2014 zum Nationalspieler und errang im selben Jahr tatsächlich sogar den Weltmeistertitel. Nicht zu Unrecht wurde ihm unter anderem diese Ehre zu Teil. Wie bereits angesprochen, spielte er in der Regel mit Granit Xhaka im Mittelfeld. Oft wurde in der medialen Berichterstattung jedoch Kramers Anteil an Gladbachs Spiel vernachlässigt, denn dieser war in Wirklichkeit enorm. In erster Linie glich er Xhakas ausschweifende und teils überstürzt wirkende Bewegungen aus. Nicht selten verfolgt Xhaka seine Gegner ohne realistische Chance auf Ballgewinn mannorientiert bis in hohe Zonen und verlässt dabei kurzzeitig, aber doch merkbar seine Position. Kramers Stellungsspiel ermöglichte überhaupt Xhakas hoch angesehene Diagonalpässe, da er Gegner auf sich zog und damit dem Schweizer Zeit und den Außenstürmern Raum verschaffte. Auch seinem eigenen Spiel kommt sein Positionierungsverhalten entgegen, da er offene Räume besetzt und so oft mit einem Pass das gegnerische Pressing zerschnitten werden kann

Desweiteren ist Kramer ein herausragender Box-to-box-Sechser mit einem enorm großen Aktions- sowie Zugriffsradius. So schaltete er sich auch oft ins Angriffsspiel seiner Mannschaft ein und verteilte selber Bälle. Nicht ohne Grund wurde der jetzige Leverkusener bei der WM als „Kilometerfresser“ bezeichnet. Daher fehlt er der umgekrempelten Gladbacher Mannschaft zurzeit sehr.

Personelle Veränderungen zur neuen Saison

Es war von Anfang an abzusehen, dass Leverkusen kein Interesse daran hat, seinen ausgeliehenen Mittelfeldstar zur neuen Spielzeit abzugeben. Ohnehin lag eine potenzielle Ablösesumme Kramers außerhalb des Gladbacher Saldos. Doch nicht nur er, sondern auch der kombinationsstarke Angreifer Max Kruse strich die Segel in Richtung VfL Wolfsburg. Zwei Abgänge, die sich in der Größenordnung mindestens neben die Verluste von Dante, Neustädter und Reus im Jahre 2012 reihen. Dementsprechend musste Ersatz gefunden werden.

Mangels Einsatzzeiten wollte Josip Drmić Leverkusen wieder verlassen und fand mit der Borussia einen prestigeträchtigen Abnehmer. In der Saison 2013/14 erzielte er für Nürnberg ganze 17 Treffer. Der neue Nebenmann für Xhaka sollte der frühere Hannover-Kapitän Lars Stindl werden. Für die zweite Reihe wurden zudem Nico Schulz, Nico Elvedi sowie Andreas Christensen verpflichtet. Das große Mittelfeldtalent Brandenburger ließ man leihweise in Richtung Luzern ziehen. Individuell kann man bei den Neuzugängen keineswegs von schwachen Spielern sprechen. Die Einbindung jedoch war von Beginn an problembehaftet.

Borussias Krise zu Beginn der neuen Saison

Stindl zeigte gegen den BVB, dass er ein anderer Spielertyp als sein Vorgänger Kramer ist: Er positionierte sich deutlich höher, wodurch die Verbindung zu Xhaka beinahe komplett abbrach. Der hatte somit keinen Assistenten mehr, der ihm den Rücken freihielt. Die Spieler, die sonst Kramer in Schach zu halten versuchten (in der Regel die Stürmer oder ein vorstoßender Sechser), können jetzt den wenig pressingresistenten Xhaka angreifen. Dass dieses Mittelfeldduo aus Xhaka und Stindl in Zukunft nicht mehr Bestand haben wird, war auch Favre schnell klar.

So probierte er den Ex-Hannoveraner über den Flügel kommen zu lassen, mangels Spritzigkeit und Orientierung auf Außen ging auch dieses Experiment nicht auf. Die vakante Mittelfeldposition füllte er abwechselnd mit Jantschke, Dahoud und Nordtveit. Der Co-Kapitän machte auf der Sechs gegen den HSV ein katastrophales Spiel mitsamt Torvorlage für Lasogga und halbem Eigentor. Nordtveit vermochte nicht in höheren Positionen den Ball nach vorne zu tragen und ist am Ball auch nicht so stark, wie erhofft. Dahoud konnte individuell überzeugen, jedoch ist er eher ein Kreativspieler und Spielgestalter und käme mehr als Xhaka-Alternative infrage.

Gladbach

Durch die Mitte wurde daher nur wenig Gefahr erzeugt, weil durch Kramers Abgang der Spielaufbau oftmals ins Stocken gerät und der Gegner schneller Zugriff bekommen kann. Insgesamt hält die Borussia merklich den Ball länger hinten in den eigenen Reihen und verliert ihn dann bei einem Vorstoß im zweiten Drittel. Die Gegner haben sich außerdem gut auf Gladbachs Strategie eingestellt und nutzen die Mängel der jüngeren Vergangenheit gut aus.

Offensiv wurde dementsprechend nicht mehr so viel Durchschlagskraft wie in der Vorsaison produziert. Dennoch fiel auf, dass mit Drmić ein linearer Spielertyp verpflichtet wurde, der auch aus der Tiefe kommen kann; von der Spielintelligenz und Umtriebigkeit kann er Kruse aber nicht das Wasser reichen und ergänzt sich daher auch nur bedingt mit Raffael. Dennoch sollte man ihn nicht abschreiben, da er eher in die Mannschaft passen könnte als Stindl.

Was nicht unterschätzt werden sollte, ist, dass viele Gegentore der Gladbacher nach Standardsituationen oder hohen Hereingaben von der Grundlinie fielen. Diese bergen auch bei der stärksten Verteidigung Risiken, da sie praktisch unberechenbar sind. Hinzu kommen grobe individuelle Aussetzer wie gegen Hamburg, wodurch man auf jeden Fall auch von einer miserablen Frühform inklusive einer Prise Pech sprechen kann. Selbstverständlich ist der größte Teil der Krise selbstverschuldet, allerdings sollte man eben angesprochene Aspekte bei der Bewertung der aktuellen Lage nicht komplett außer Acht lassen.

Fazit

Um den überraschenden Abgang Lucien Favres eindeutig zu bewerten, fehlen einfach zu viele interne Hintergrundinformationen und wichtige Details. Rein sportlich kann man festhalten, dass die Borussia aus Mönchengladbach unter dem Schweizer eigentlich immer relativ fragil war. Abgänge konnten, wenn überhaupt, immer nur schwer kompensiert werden. Doch die aktuelle Krise hatte Ausmaße, wie noch nie in der Favre-Ära. In der vergangenen Spielzeit haben sich die Grundpläne des Konterspiels und des Ballbesitzspiels vereint zu einem Gesamtkunstwerk. Dazu fehlte jedoch zuletzt die Alternative.

Kramers Abgang scheint nicht weniger als den Genickbruch für das altbewährte System darzustellen. Fakt ist, dass Favre relativ früh das Handtuch schmiss, ohne wie zum Beispiel Jürgen Klopp in der vergangenen Saison beim BVB alles versucht zu haben. Dieser schöpfte die vollen Kapazitäten seines Kaders aus und kombinierte ihn mit der Bandbreite an Formationen und Systemen, die ihm zur Verfügung standen, ehe er ein Problem bei sich selbst festmachen konnte. Es wäre äußerst interessant zu sehen gewesen, wie der Schweizer langfristig an solchen Problemen arbeiten würde. So bleibt Max Eberl nichts anderes übrig, als sich nach einem Nachfolger für den Erfolgstrainer umzusehen.

Shahin Bazani, abseits.at

Shahin Bazani

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