Ein erster Blick auf die DFB-Elf: Die deutsche Nationalmannschaft auf dem Weg zur WM in Brasilien
Deutschland 22.Mai.2014 Leonard Dung 2
In den letzten Jahren brachte der deutsche Fußball zahlreiche vielversprechenden Talente hervor. Nach dem deutschen CL-Finale rechneten viele Fans daher mit nicht weniger als dem WM-Titel. Doch die vergangene Saison ließ wieder etwas Realismus einkehren.
Hohe Erwartungen vermischt mit angebrachter Skepsis
Die deutsche Auswahl, trainiert von Joachim Löw, hat es geschafft, seit 2006 in jedem Turnier mindestens das Halbfinale zu erreichen. Bei der WM im eigenen Land feierten die Fans das „Sommermärchen“, auch 2008 und 2010 zeigten sich die Fans zufrieden, da man sich jeweils in Spanien einem übermächtigen Kontrahenten geschlagen geben musste. Doch 2012 drehte sich der Wind. Nachdem Italien Deutschland aus dem Turnier warf, breiteten sich Frustration und Unzufriedenheit unter den Fans aus. Deutschlands Auswahl wurde im Vergleich zu 2010 weiter durch den Aufstieg von Talenten wie Hummels, Gündogan, Schürrle, Reus, Götze und vielen weiteren veredelt, umso enttäuschender war das Ausscheiden. Außerdem hatte Löw Italien im Halbfinale mit seiner fragwürdigen Aufstellung in die Karten gespielt. Pirlo dominierte das Mittelfeld, während ein gigantisches Loch auf dem rechten Flügel klaffte, das Italien zielstrebig ansteuerte.
Das Folgejahr war ein Triumphzug des deutschen Fußballs, schließlich trugen zwei heimische Teams das Champions-League-Finale aus. Doch diese Saison verlief nicht ideal. Die Mehrzahl der Akteure plagten entweder Verletzungen oder Formkrisen. Das gilt für so viele, dass es müßig ist, sie alle aufzuzählen. Die deutsche Nationalelf hat immer noch ein hervorragendes Spielerpotential, insbesondere im offensiven Mittelfeld. Man denke an Götze, Özil, Draxler, Reus, Müller, Schürrle, Kroos oder sogar den 18-Jährigen Max Meyer. Letzterer wurde von Löw jedoch mittlerweile aus dem Kader gestrichen, was nichts daran ändert, dass ihm eine ruhmreiche Zukunft bevorzustehen scheint. Es ist allerdings noch fraglich, wie genau Joachim Löw seine Vielzahl an Offensivkräften einsetzen will. Diese Frage ist besonders brisant, da mit Routinier Klose nur ein klassischer Mittelstürmer nominiert wurde. Jener befindet sich jedoch wegen vieler Blessuren aktuell in keiner gute Form. Folglich bahnt sich eine unkonventionelle Offensivordnung an.
Müller, die „Falsche Neun“ oder ein fluider Vierersturm?
Wenn Klose nicht die nötige Fitness erreicht, in Brasilien konstant mitzuhalten, heißt der naheliegende Ersatz Thomas Müller. Müller könnte man ob seiner Sprintgeschwindigkeit gut durch Schnittstellenpässe einsetzen. Außerdem könnte er auf Außen in Richtung seines etatmäßigen Raumes ausweichen oder mit horizontalen Läufen Verwirrung stiften. In der deutschen Mannschaft verfügt er über das beste Gespür für den Raum, er weiß, wie er sich bewegen muss, um Platz für die nachrückenden Kollegen zu schaffen.
Eine andere Option wäre eine „Falsche Neun“, wie Götze und Özil es bereits praktiziert haben. Dabei muss jedoch beachtet werden, dass beide die Rolle unterschiedlich interpretieren. Götze schwirrt im Zwischenlinienraum umher und bewegt sich viel horizontal, um die Innenverteidiger zu beschäftigen und an Kombinationen teilzunehmen. Özil nimmt eine exponiertere Rolle ein. Er lässt sich weiter zurückfallen, so dass er mehr Raum und Zugriff aufs Spiel erhält. Von dort kann er die Offensivbemühungen des Teams anführen und seine gefürchteten tödlichen Pässe abfeuern.
Theoretisch ermöglicht das Kaderpotential ebenfalls einen fluiden Sturm ohne feste Positionen. Özil und Götze könnten vom Zentrum aus frei übers Spielfeld driften. Kroos würde sie aus der Tiefe unterstützen, während Reus und Müller die nötigen Passwege in die Tiefe offerieren. Diese Spielweise wäre richtig ausgeführt nicht zu verteidigen, da die enorme Bewegung in der Offensive jedes mannorientiertes Deckungssystem zerbrechen würde. Der Kontrahent könnte sich nur ins Abwehrdrittel zurückziehen und hoffen, alle Aktionen irgendwie zu blocken. Doch das Spiel ohne feste Positionen in der Offensive erfordert überragende Abstimmung und Harmonie, die auf Nationalmannschafts-Ebene kaum zu erreichen ist. Vielleicht wählt Löw aber eine etwas klarere, aber dennoch variable Aufstellung mit Götze und Özil als „Doppelter Falscher Neun“.
Welche Mittelfeldpaarung verspricht Stabilität?
Auch im zentralen Mittelfeld hat Löw seine Karten noch nicht aufgedeckt. Seine favorisierte Kombination setzt sich zwar aus Khedira und Schweinsteiger zusammen, ersterer laborierte jedoch lange an einem Kreuzbandriss, was seine Fitness beeinträchtigt. Man weiß nicht, ob er rechtzeitig seine Form erlangt. Falls es ihm gelingt, stellt sich die Frage, wer vor ihnen auflaufen wird. Mesut Özil, dem bisher stets sein Platz reserviert war, ist nicht mehr unumstritten. Bei Arsenal absolvierte er eine relativ durchwachsene Saison, bevor er sich eine Verletzung zuzog. Kritiker monieren sein mangelndes defensives Engagement sowie seine fehlende Konstanz im Spiel. Er tauche immer wieder phasenweise ab, so der Vorwurf.
Daher könnte Kroos als „Zehner“ fungieren, damit das Mittelfeld kompakter wird. Somit könnte Löw vielleicht die latente Konteranfälligkeit abschaffen, die gelegentlich aufbricht. Auf diese Weise müsste Deutschland allerdings Özils Genialität entbehren, die in den vergangenen Turnieren so wichtig für den Offensivfluss war. Götze könnte einen Kompromiss zwischen Offensive und Defensive darstellen, womöglich rutscht Özil dann auf den Flügel. Zudem hat Löw das Personal, die Offensive weiter zu forcieren. Falls Khedira wegfällt, könnten Kroos und Schweinsteiger gemeinsam das zentrale Mittelfeld besetzen, wie es in seltenen Fällen beim FC Bayern geschah. Das würde das spielerische Element stärken, Übersicht und Passgenauigkeit wären im Übermaß vorhanden. Lars Bender wäre bezüglich des Spielertyps der natürliche Khedira-Ersatz, er spielte keine gute Saison, fand seine Form aber wieder. Er ist laufstark, technisch ordentlich und fängt viele Pässe ab.
Lahm – Rechtsverteidiger oder Mittelfeldspieler?
Am heftigsten wird diskutiert, ob Kapitän Philipp Lahm wie beim FC Bayern das Mittelfeldzentrum beleben soll. Wegen seiner Beweglichkeit, Pressingresistenz, Zweikampfstärke und Antizipation beherrscht er das ebenfalls auf höchstem Niveau. Aber auf der rechten Verteidigungsseite kann ihn niemand ebenbürtig vertreten. Vermutlich würde Löw den Allrounder Großkreutz mit dieser Aufgabe betrauen. Es ist schwierig zu sagen, ob der Qualitätsgewinn durch den „Achter“ Lahm den Abfall durch den Verlust des Rechtsverteidigers Lahm auffangen kann. Im Mittelfeld hat Löw bessere Alternativen, allerdings schätzt er diese Position wohl auch als wichtiger ein. Die nach Medienberichten wahrscheinlichste Variante lautet, dass Lahm mit Khedira als Rechtsverteidiger aufläuft und ihn andernfalls im Mittelfeld ersetzt.
Alle genannten Aspekte hängen davon ab, wie viel Offensive Löws Team wagt. In der WM-Qualifikation hat Deutschland bereits die gegnerischen Innenverteidiger angelaufen, um den Ball schnell zurückzuerobern. Möglicherweise plant er diese Spielweise auch für das Turnier, wobei Deutschland noch nicht endgültig bewiesen hat, dass sie so die Kompaktheit zwischen den Linien halten können. In Freundschaftsspielen zeigten sie sich dort anfällig. Löw wird in allen Fällen abwägen müssen, ob das Risiko der wagemutigen, innovativen Ansätze, sowohl auf das Positionsspiel als auch auf das Pressing bezogen, den großen Chancen, die sich eröffnen, unterliegt.
Leonard Dung, abseits.at
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