Die zweite Liga Deutschlands gilt als eine der weltweit interessantesten. In dieser Saison lässt sich einmal mehr feststellen, dass der Kampf gegen den Ab- sowie das Rennen um den Aufstieg zu Massenveranstaltungen werden. Über ein Drittel der Mannschaften hegen Hoffnungen was eine nächstjährige Erstligazugehörigkeit angeht, noch mehr fürchten den Fall in die vergleichsweise bedeutungslose 3. Liga. Aktuell Sechster und vier Punkte vom Relegationsrang entfernt ist der so bekannte wie beliebte Kiez-Klub aus Hamburg. Wir werfen für euch einen Blick auf den ehemaligen Weltpokalsiegerbesieger.
Die Paulianer sind seit Jahren die Personifikation des Kults innerhalb des deutschen Profi-Fußballs und wurden dafür sehr lange belächelt. Mittlerweile stehen aber nicht mehr Pauli-Legenden der damaligen Zeit wie Thomas Meggle (man erinnere sich nur an ihren sensationellen Sieg gegen die Bayern) auf dem Platz, andere haben ihre Plätze eingenommen. Junge, deutsche Talente mischen im braunen Trikot die Liga auf und lassen spätestens seit dem Trainerwechsel zu Petr Vrabec den Anschein eines ernsthaften Aufstiegsaspiranten entstehen. Die Mannen vom Millerntor stehen dabei besonders formativ für etwas Bemerkenswertes und Besonderes.
Jungspunde in „Old-School-Raute“
Trainer Vrabec lässt in einem heutzutage eher unüblichen 4-4-2 mit Mittelfeldraute agieren. Diese Formation hat grundsätzlich, wie alle anderen auch, sowohl Vor- als auch Nachteile. Positiv anzumerken ist die Möglichkeit der außerordentlichen Dominanz im Mittelfeldzentrum; nämlich dann, wenn die Spieler auf den Halbpositionen in eben jenes einrücken. Die zugebenermaßen generell hohen technischen Anforderungen an die Spieler lässt eine Möglichkeit der Flexibilität zusätzlich positiv hervortreten. Auch lassen sich die gegnerischen Innenverteidiger durch die zwei nominellen Spitzen gut zustellen und pressen. Wenn man diese erste Linie umspielen kann treten allerdings erste Probleme auf. An die äußeren Mittelfeldspieler sind nun höchste taktische wie läuferische Anforderungen gestellt entstehende Löcher zu füllen. Denn im Vergleich zum gängigen Pressing im 4-4-2 müssen sie horizontal mehr Raum bearbeiten. Auch müssen die von ihnen bei Ballbesitz und Zentrumsfokus verwaisten Flügel allein von den Außenverteidigern bearbeitet werden. Dies führt in der Defensive zu zusätzlichen Lücken. Generell ist ein kollektives und pressingintensives Verschieben schwierig, da die Raute in derartigen Szenarien für Seitenwechsel anfällig macht. Generell gilt die Raute als weniger leicht eintrainierbare Grundordnung im Vergleich zum flachen 4-4-2 oder dem üblichen 4-2-3-1.
Bremer Restverwertung, Neuzugang Trybull
Auch deshalb verpflichtete Pauli möglicherweise in letzter Zeit obwohl die einzelnen Spieler schon gute situative, anpassende Bewegungen heraus aus der generellen Grundordnung zeig(t)en viele Talente des SV Werder Bremen. Dort war diese Grundordnung lange an der Tagesordnung und bis zum Beginn der Saison 2012/13 fest verwurzelt. Die vielen technisch und taktisch geschulten jungen Spieler suchen nun, nachdem sie sich in Bremen nicht durchsetzen konnten, neue Perspektiven und fanden diese bei St. Pauli. Sehr gute Beispiele sind Lennart Thy und seit neuestem auch Tom Trybull. Besonders bei Letzterem, seit dem neuen Jahr in Hamburg beheimatet, handelt es sich um eine interessante Personalie. Der 20-Jährige kam im Sommer 2011 aus Rostock nach Bremen und wusste bereits nach einem halben Jahr zu beeindrucken. In der Rückrunde derselben Saison avancierte er zum Stammspieler und wusste mit gutem strategischem Gefühl und feinem Passspiel zu beeindrucken. Damals spülten ihn vor allem Verletzungssorgen ins Team, in den Zweikämpfen zeigte er sich noch stark verbesserungswürdig. Trotzdem sollte er in den folgenden Jahren zum Stammspieler werden, hinderlich waren dabei zahlreiche Verletzungen. In der abgeschlossenen Transferperiode verließ der modeaffine Jung-Profi Werder, um einen Neuanfang zu wagen. Bei seinen ersten Auftritten präsentierte er sich gewohnt ballsicher und unverkennbar zweikampfstärker als zuvor von ihm gewohnt. Folge eines individuellen Athletiktrainings in letzter Zeit, wie er selbst sagt. In der Form passt er perfekt in das von Trainer Vrabec anvisierte System.
Die Elf der Kiez-Kicker
Das Spiel der Hamburger ist aufbauend auf den grundlegenden formativen Vorteilen der Raute eher passspiel- und ballbesitzorientiert. Der alleinige Sechser lässt sich zugunsten des Spielaufbaus leicht fallen, ohne dabei eine klare Dreierabwehr entstehen zu lassen. Die Außenverteidiger, Halstenberg und Schachten, häufig auch Nehrig, schieben hoch, um Breite zu gewährleisten. Die Aufteilung unter den Achtern dürfte im Verlauf der Rückrunde weiter eine asymmetrische bleiben. Links dürfte der kombinations- und zweikampfstarke Trybull seinen Platz sicher haben, rechts ist der ehemalige Bochumer Rzatkowski gesetzt. Er ist eher der direkte und schnelle Sprinter, sucht gerne den Weg nach vorn. Vor ihnen auf der „10“ wirbelt Fin Bartels, seines Zeichens wohl bester Individualist der Paulianer und immer wieder verbindend und auf der Suche nach Kombinationsmöglichkeiten auf dem Platz unterwegs. In der Hinrunde wusste er auch als Sturmspitze zu beeindrucken. Diese hießen in den ersten Spielen 2014 Nöthe und Thy, beide eher geschickte Teamplayer denn eigensinnige Tormaschinen. Oft lösen gerade diese sich aus ihren schematisch statischen, zentralen Positionen und machen das Spiel in der Defensive variantenreich. Häufiger driftet Nöthe auf den Flügel heraus und mit wenigen Anpassungen ist eine 4-2-3-1 Anordnung entstanden.
Die Chancen Paulis
Angesichts der engen Situation in der Spitzengruppe der Liga ist der FC St. Pauli trotz des eher enttäuschenden Jahresauftakts immer noch zwangsläufig ein Aufstiegsaspirant. Sie haben zweifellos Erstligapotenzial. Mit einer originellen und begeisterungsfähigen Spielweise wissen sie zu beeindrucken. Technisch sind sie jederzeit in der Lage jeden Gegner der Liga innerhalb eines Angriffs in die Knie zu zwingen. Doch, auch laut Coach Vrabec: Sie müssen sich noch weiterentwickeln, sind noch zu einfach aus dem Konzept zu bringen. Sie müssen noch eingespielter, sicherer und selbstbewusster in der eigenen Spielweise werden, individuelle Initialzündungen besser timen. Erst dann werden sie auch auf Dauer bestehen können und ihren Fans noch mehr Freude bereiten.
Lennart Kühl, abseits.at
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