Gelsenkirchen liegt bei Schalke (2/2) – Die Geschichte von S04
Deutschland 21.Mai.2017 Marie Samstag 0
Auf Schalke verändert sich einiges. Reinhard Libuda, der 1962 zum Verein kommt, ist einer der Wenigen, der noch den typischen Schalker Lebensweg vorzuweisen hat: Als Sohn eines Bergmanns lernt er in einer Werkself das Kicken und entwickelt sich bei den Blau-Weißen zum kreativen Rechtsaußen. Seine Tricks erinnern an den englischen Supertechniker Sir Stanley Matthews und so dauert es nicht lange bis Libuda „Stan“ gerufen wird.
Sportlich gesehen taumelt die Mannschaft in den ersten Jahren der Bundesliga am unteren Tabellenende entlang. Trotzdem ist die Atmosphäre der „Glückauf-Kampfbahn“ unvergleichlich: „Die Leute sangen wie in der Kirche. Ernsthaft, bemüht, den richtigen Ton zu treffen, ergriffen.“, erinnert sich Uli Homann. Das Pokalhalbfinale 1972 ist eines der raren Spektakel dieser Zeit: Ausgerechnet Libuda verschießt seinen Elfer im Elfmeterschießen. Zuvor hatte Schalke noch in der regulären Spielzeit Unmögliches möglich gemacht: Der 1. FC Köln führte bereits vor der Pause mit 3:0, bevor Schiedsrichter Heckeroth eine Serie von Strafstößen pfiff. Tormann Nigbur hält in der Verlängerung Kölns Matchball fest und bewährt sich auch im Elferschießen. Libuda vergibt, Nigbur kann jedoch ausgleichen indem er Overaths Schuss pariert. Nach 21 (!) Elfmetern steht Schalke als deutscher Pokalfinalist fest. Das eigentliche Endspiel gegen den 1. FC Kaiserslautern gerät wegen seines klaren 5:0-Sieges nach so einem dramatischen Abend fast zur Nebensache. Der Kreisel hat auf Schalke lang ausgedient. Dank Libuda und Kremers an den Flügeln ist die Mannschaft für ihre guten Steilvorlagen bekannt und spielt einen frischen, schnellen Konterfußball. Reinhard Libudas Schicksal verläuft tragisch: Nach dem Pokalsieg und der knapp verpassten Meisterschaft ‘72 wechselt er zu Racing Strasbourg, wo er sich jedoch nicht durchsetzen kann. Er ist noch drei Saisonen lang bei den Knappen engagiert, schafft es aber nicht an frühere Leistungen anzuknüpfen. Nach dem Ende seiner aktiven Karriere scheitern seine Versuche als Unternehmer Geld zu machen kläglich. „Stan“ lebt nach seiner Scheidung zurückgezogen bei seiner Mutter. Er stirbt mit nur 52 Jahren an einem Schlaganfall.
Spitze des Eichbergs
1973 wird die „Glückauf-Kampfbahn“ durch das Parkstadion ersetzt, das bereits im Hinblick auf die WM gebaut wird. In den 70ern ändert sich viel: Trikotsponsoren kommen, Bestechungsgelder machen die Runde. Schalke ist in den Bundesliga-Skandal involviert: Die Mannschaft verliert absichtlich 0:1 gegen Arminia Bielefeld. Zwölf Schalker werden verurteilt und zum Teil später begnadigt. Die 80er-Jahre werden zu den anni horribili der Gelsenkirchner: Die Schulden drücken, erstmals müssen Spieler des Geldes wegen verkauft werden. Nach Debakeln gegen Duisburg und Nürnberg muss Schalke schließlich absteigen. Der Abstieg ist die Rechnung für die Tatsache, dass der Verein seit der Gründung der Bundesliga nie langfristig geplant hat, sondern nur von seinem Mythos und der bedingungslosen Unterstützung der Knappen-Anhänger gelebt hat. Die legendären Fans werden jetzt immer weniger. Erst als sich Schalke in der zweiten Liga neu konsolidiert, kehrt mit dem Kampfgeist der Mannschaft auch der des Publikums zurück. Libudas Nachfolger als Spieler und Zugpferd ist ein gewisser Olaf Thon aus Gelsenkirchen-Beckhausen. Er ist eigentlich seit frühester Kindheit Bayern-Anhänger, wird aber zum Fanliebling auf Schalke. Wie Libuda ist auch Thon Protagonist eines legendären Pokalhalbfinalspieles: Während des 6:6 gegen seinen einstigen Traumverein erleiden zwei Zuschauer Herzinfarkte, ein Dritter stirbt. Für Thon und Co. gibt es im Mai 1984 jedoch kein Happy End, denn das Wiederholungsspiel endet mit 2:3. Finanziell sieht es miserabel aus, dem Verein droht gar der freie Fall in die Drittklassigkeit. Günter Eichberg tritt auf und verschafft Schalke kurzfristig Luft. 1991 steigen die Knappen wieder in die Bundesliga auf und Eichberg hat hochtrabende Pläne: Er möchte dem Verein und den Fans Dienste erweisen, scheitert jedoch an seinem fehlenden Fachwissen. Trotzdem kann er die Jugendarbeit in der Knappenschmiede professionalisieren. Millioneneinkäufe für die Kampfmannschaft wie Bent Christensen, dänischer Nationalspieler, floppen jedoch gigantisch. Eichberg vertschüsst sich – nach erfolgreicher Wiederwahl – plötzlich in die USA und hinterlässt Chaos. Bayern-Manager Uli Hoeneß ist schon früher argwöhnisch geworden: „Wirklich reiche Leute gehen nicht so mit Geld um, wie es Eichberg tut.“ Er hat Recht: Tatsächlich lebt der Unternehmer nur auf Pump, hinter der Fassade bröckelt es gewaltig und Schalke steht wieder einmal mit leeren Händen da. Die letzte und beste Entscheidung von Eichberg ist die Verpflichtung Rudi Assauers als Manager. Assauer, den die Fans zuerst ablehnen, schafft es Schalke wiederaufzurichten. Ruhe kehrt langsam ein: Lehmann, Thon, Freund und Max sind Kicker, die man bis heute nicht vergessen hat. Der Star bleibt jedoch die Mannschaft, die 1996 Dritter in der Meisterschaft wird. Die Spieler rebellieren gegen Trainer Jörg Berger und Präsident Rehberger gibt nach. Nach wochenlangem Hin-und-Her zwischen Funktionären, Fans und Mannschaft tätigt Assauer einen Goldgriff: Huub Stevens kommt in den Ruhrpott. Jetzt zeigt Schalke plötzlich Spitzenfußball. Wilmots und de Kock sind die anderen beiden Holländer, die die blau-weißen Anhänger entzücken. Sie spielen nicht immer gut, aber effektiv: Als mit Valencia im UEFA-Cup-Viertelfinale der Bayern-Bezwinger kommt, präsentieren sich die Königsblauen bärenstark. Linke köpft das 1:0, Wilmots macht in der 82. Minute den Siegtreffer. Taktik und Einsatz machen die individuelle Klasse der Spanier wett. Im Rückspielt bringen vor allem Libero Thon und Tormann Lehmann die knappe 1:0-Führung über die Zeit. CD Teneriffa wartet im Halbfinale und die Vorzeichen sind denkbar schlecht: Sowohl Mulder als auch Max fallen im Sturm aus. Olaf Thon verursacht zudem durch sein Elfmeterfoul – „Ich habe ihn nur leicht retuschiert“ – das erste Gegentor. Johan de Kock verschießt später einen Strafstoß. Stevens gibt für das Rückspiel aus: „Druck über Außen ausüben, mit Standards erfolgreich sein“. Thon macht seinen Fehler wiedergut: Er liefert die Flanke für Linke. In der Verlängerung bereitete er das Tor von Wilmots vor: 2:1 für Königsblau.
Es geschah im Mai
Thomas Linke erweist sich im Finale gegen Inter Mailand nicht als Goalgetter sondern als Abwehrrückhalt. Dank ihm können die Mailänder Stürmer Zamorano und Ganz keinen Stich setzen. Geduldig warten die Gelsenkirchner währenddessen auf ihre Chance. Wilmots hat seine Kräfte genau eingeteilt: 20 Minuten vor Ende spurtet er von der Mittelauflage aus los und reißt mit einem 25-Meter-Kracher fast ein Loch ins Tornetz. 20.000 Schalker begleiten ihr Team zum Rückspiel am 21. Mai 1997. Wieder wird es eine Abwehrschlacht. Olaf Thon weiß schon nach dem Hinspiel: „Mehr geht nicht.“. Nach dem 1:0 von Inter in der 85. Minute sind viele Schalker deshalb den Tränen nahe. Doch sie halten tapfer durch: Elferschießen. Ingo Anderbrügge ist der Erste und er hämmert den Ball in die Kreuzecke, als würde das Spiel gerade erst losgehen. Das ist der Aufwachruf für die Deutschen! Zamorano schießt und Lehmann hält dank der Hilfe von Stevens, der ihm vorher eine Statistik präsentierte, wonach der Italiener meist in die rechte untere Ecke schieße. Nachdem auch Aaron Winter für die Norditaliener vergeben hatte, verwandelt Mark Wilmots den entscheidenden Treffer und Schalke 04 ist UEFA-Cup-Sieger. Der Pott ist im Pott, sagt der Verein. „Lasst euch knutschen!“ titelt die Bild.
National kann man den hohen Erwartungen nach dem UEFA-Cup-Sieg jedoch nicht entsprechen. Zwar stellt Schalke wieder einige Nationalspieler, kann aber nicht mit Bayern München in Konkurrenz treten. 2000 wird eine „Heulsuse“ aus Dortmund verpflichtet. Viele Fans sind erzürnt und machen sogar eine eigene Webseite auf: www.möller-raus.de. Doch Andy Möller lernt auf Schalke das Grätschen und Beißen und kann sein weinerliches Image ablegen. Auch ein Jörg Böhme, der nur als Backup aus Bielefeld geholt wird, rackert sich mit wichtigen Toren in die Herzen der Anhänger. Nach acht Jahren besiegen die Königsblauen den Erzfeind im Westfalenstadion wieder: 4:0 heißt es am Ende und die Presse feiert die Wiedergeburt des Schalker Kreisels. Mit einem Punkt Vorsprung auf die Roten aus München geht es in die Winterpause. Trainer Huub Stevens, der schon als Rausschmisskandidat Nummer Eins gegolten hat, erhält jetzt einen unbefristeten Vertrag. Nach der Pause drückt eine kurze Schwächeperiode vorerst noch die Titelträume der Anhänger, gegen Bayern bringt man sich jedoch mit einem überraschenden 3:1-Sieg wieder zurück ins Rennen. Dann flattern aber die Nerven: Im vorletzten Match ist man in Stuttgart zu Gast. Die Schwaben brauchen Punkte um in der Liga zu bleiben und rühren daher Beton an. Die Schalker finden keine Mittel dagegen, rollen den Ball nur hin und her. In der 90. Minute fällt doch der Treffer für Stuttgart, während Bayern gegen Kaiserslautern gewinnt. Der Titel scheint vor dem Saisonfinale schon verloren zu sein. Bayern reicht jetzt ein Punkt gegen den HSV um aus eigener Kraft Meister zu werden. Schalke dagegen muss Unterhaching besiegen und auf Schützenhilfe der Hanseaten hoffen. Die Königsblauen geben nicht auf, obwohl sie zwischenzeitlich schon mit 2:0 zurückliegen, drehen sie das Spiel noch zu einem 5:3 um. Und in Hamburg? Da rennen die Rauten-Jungs an, als ob es für sie um alles gehe. Lange steht es 0:0. Dann in der 90. Minute köpft Barbarez, der Torschützenkönig werde will, zum 1:0 ein. Riesenjubel in Hamburg und in Gelsenkirchen. Ist sie das? Die erste Meisterschaft seit Jahrzehnten? Manager Assauer warnt, dass das das Spiel noch nicht zu Ende sei. Irgendwer behauptet doch. Jubel bricht aus, die Fans stürmen das Feld, nehmen Rasenstücke als Erinnerung mit. Feuerwerk wird gezündet. Dann der Schrecken: Das Spiel ist nicht aus und das Unwahrscheinliche ist wirklich passiert. In der vierten Minute der Nachspielzeit bekommt Bayern wegen eines als Rückpass gewerteten Zuspiels einen indirekten Freistoß zugesprochen. Obwohl sich alle Spieler im Elfmeterraum aufhalten, findet Andersson die Lücke und macht Bayern zum Meister. Im Parkstadion weinen Fans und Spieler. Es sind die bittersten Minuten des Schalke-Fans. Vier Minuten lang war man deutscher Meister. Vier Minuten. Der Gewinn des Pokals gegen Union Berlin ist nur ein kleiner Trost. Jörg Böhme, der in dieser Saison die wichtigsten Tore für die Königsblauen macht, mutiert auch im Endspiel zum Matchwinner. Die Fans honorieren seinen Kampfgeist, die Bereitschaft zu wagen, selbst wenn man dabei scheitert. Sportsmann Böhme will nach einer verkorksten Championsleague-Partie sogar eine Einladung ins Nationalteam ablehnen. Begründung: Dort gehören nur die Besten hin und zu denen zählt er sich im Moment nicht. Der gebürtige Sachse sorgt ein Jahr später auch für die Verteidigung des DFB-Pokals: Sein Rémis-Treffer gegen Leverkusen läutet den 4:2-Sieg der Schalker ein.
Dem Fast-Triumph in der Meisterschaft folgt eine erneute Auf-Ab-Phase. In der CL ist man im Konzert der Großen nur ein Lehrbub. Für Beständigkeit sorgt auch die 2001 eröffnete Arena nicht. In der Winterpause 2001/2002 erklärt Stevens, dass er zu Saisonende nach sechs Jahren den Ruhrpott verlassen werde. Viele Eurofighter wie Thon, Büskens, Nemec, Mulder und Eigenrauch gehen ebenfalls. Generationswechsel und Spiele im Niemandsland zwischen großen Ambitionen und großen Fehlschlägen brechen an. Ralf Rangnick ist 2004 erstmals wieder knapp am Meistertitel dran. Seitdem kämpft Schalke als Großklub in der oberen Tabellenhälfte mit Drang nach Besserem um nationale sowie internationale Titel. Was ist geblieben vom Zechenklub? Die Wirtschaft hat sich verändert. Schalke ist aber immer noch Identifikationspunkt der Region. Ein Verein, der in seinen erfolgreichen Zeiten nicht mit „Reinholzen“ agierte, sondern gepflegten Fußball spielte und phasenweise mit taktischem Geschick zum Erfolg kam. Einzig sein Image war immer „working class“ – darauf ist man heute noch stolz. Egal, welcher Sponsorenname auf dem Trikot steht.
Marie Samstag, abseits.at
Marie Samstag
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