Abgeschrieben und plötzlich wieder wichtig. Unter Hansi Flick hat sich Jerome Boateng zurück in die Münchner Startelf gekämpft und spielt wieder groß auf. Doch... Jerome Boateng – plötzlich wieder gefragt

Abgeschrieben und plötzlich wieder wichtig. Unter Hansi Flick hat sich Jerome Boateng zurück in die Münchner Startelf gekämpft und spielt wieder groß auf. Doch wie konnte dies passieren? Was hat Hansi Flick im Vergleich zur Vorgänger Niko Kovac anders gemacht, um dem Weltmeister von 2014 wieder in die Spur zu verhelfen?

Aus in der Nationalmannschaft. Bei der Meisterfeier vorzeitig verschwunden. Trotzdem zur neuen Saison immer noch bei den Bayern, aber entweder mit großen Problemen oder nicht mal auf dem Feld. Die Saison 2018/19 zählte sicherlich zu den Tiefpunkten in der langen Karriere des Jerome Boateng. Kein Wunder, dass der ehemalige Nationalspieler und Weltmeister von 2014 mit einem Wechsel kokettierte. Gegen Ende der Karriere ist Manchester United sicherlich noch einmal reizvoll. Auch Juventus Turin und Paris St. Germain waren an seinen Diensten interessiert – beide Teams mit guten Aussichten auf einen Champions-League-Triumph.

Doch irgendwie wurde aus dem Wechsel nichts – zum Glück, denn unter Hansi Flick spielt Jerome Boateng wieder groß auf. Plötzlich wirkt er wie ausgewechselt. Während unter Niko Kovac nicht nur seine Athletik nachließ, sondern auch noch Ungenauigkeiten im Passspiel und Konzentrationsschwächen dazukamen, wirkt Boateng unter Flick wieder ziemlich stabil.

Zwar baute der Innenverteidiger athletisch im Vergleich zu seiner besten Zeit ab, allerdings ist dies wohl auch dem Alter geschuldet. Weiterhin zeichnet Boateng sich eben nicht nur durch seine Schnelligkeit und Zweikampfstärke aus, sondern auch durch saubere Pässe im Aufbauspiel und intelligentes Stellungsspiel. Während er diese Qualitäten unter Niko Kovac nicht zeigen konnte, gelingt dies unter Hansi Flick wieder mehr und mehr. Doch woran liegt das?

Hansi Flick – und warum ein gutes System wichtig ist

Der Leistungsunterschied lässt sich unter anderem durch den Trainerwechsel erklären. Unter Kovac aussortiert, genießt Boateng unter Flick wieder vollstes Vertrauen. Während Kovac mehr Wert auf die defensiven Aufgaben legte und den Innenverteidigern sehr wenig Verantwortung übergab, vielleicht auch ein Grund weswegen Mats Hummels die Münchner verließ, rückt Flick die Innenverteidiger wieder in das Zentrum des Ballvortrags.

An der Seite von David Alaba bildet Boateng wohl die spielstärkste Innenverteidigung der Liga. Insbesondere die Versetzung des Österreichers in die Innenverteidigung hilft Boateng seine Stärken auszuspielen. Unter Hansi Flick wurde David Alaba der Fokuspunkt des Aufbauspiels. Seine scharfen Pässe gepaart mit seinem dynamischen Andribbeln erzeugen sehr viel Druck. Der pfeilschnelle Alphonso Davies tut sein Übriges und sorgt dafür, dass der Gegner der linken Seite der Münchner besonders viel Aufmerksamkeit schenken muss. Folglich entstehen Räume, die Boateng nach Seitenwechseln dank seiner herausragenden Technik und seinem hohen Spielverständnis nutzen kann.

Aktuell agiert Kingsley Coman auf der rechten Seite. Der Franzose war schon immer ein Spieler, der sehr gerne eher an der Außenlinie agierte. Nur selten bewegt sich der Franzose weit ins Zentrum. Auch Rechtsverteidiger Benjamin Pavard hält eher seine Position. Dementsprechend findet Boateng immer wieder Raum für seine scharfen Flachpässe. Meist ist dabei Robert Lewandowski der Zielspieler, aber auch Thomas Müller oder Leon Goretzka können diese Bälle erhalten. Gelingt es dem Gegner die rechte Seite zuzustellen, dienen die langen Diagonalbälle von Boateng als Waffe, damit der schnelle Davies nach diesen Wechseln sofort attackieren kann.

Auch Kimmichs zentrale Rolle hilft Boateng, der nun neben Alaba auch Kimmich als sichere Anspielstation hat. Alles in allem haben die Bayern eine bessere Feldaufteilung und folglich mehr Anspielstationen seit Hansi Flick das Ruder in München übernahm. Durch das verbesserte Positionsspiel gibt es mehr Raum und vor allem mehr Zeit für jeden einzelnen Akteur – bei Boatengs Spieleröffnung ein Gefahrenherd für jede Verteidigung.

Was unterscheidet den früheren vom heutigen Boateng?

Boateng zeichnen aktuell Eigenschaften aus, die er zum Teil auch während seines Karrierehöhepunkts rund um die WM 2014 repräsentierte – Ruhe, Übersicht und Präzision. Allerdings wurde sein Spiel damals neben seinen technischen Fähigkeiten vor allem durch seine Athletik dominiert. Schaut man sich beispielsweise eine Partie aus der Saison 14/15 an, wird man mehrere Situationen sehen, in denen Boateng mit einem sagenhaften Sprint den Stürmer noch vor dem Sechzehner abfängt. Darüber hinaus war Jerome Boateng damals noch sehr beweglich, auch wenn viele die Szene noch gegen Lionel Messi im Kopf haben.

Diese Fähigkeiten sind nicht mehr so präsent wie früher. Dies führte dazu, dass er sein Spiel ein wenig umstellte. Dribbelte er früher des Öfteren aggressiv an, um seine präzisen Pässe einzuleiten, so agiert er heute eher statisch. Zum einen liegt es wohl daran, dass er aufgrund der fehlenden Schnelligkeit einen möglichen Ballverlust nicht mehr kompensieren kann, zum anderen sind die Spieler um ihn herum eben auch als Grund zu nennen.

Unter Hansi Flick nimmt er vielmehr die Rolle eines wahren Quarterbacks ein, wie man ihn vielleicht vom American Football kennt. Während Joshua Kimmich gerne ausweicht und von dort aus das Spiel mit kurzen Dribblings antreibt, dribbelt David Alaba immer wieder aggressiv an. Folglich wird der Gegner immer weiter zurückgedrängt, muss sich um verschiedene Tiefenläufe kümmern und hat keine Zeit Boateng unter Druck zu setzen. Ein Spieler mit diesen technischen und taktischen Fähigkeiten wie Jerome Boateng freut sich über den vorhandenen Platz und kann so seine Stärken perfekt einbringen.

Das muss man Hansi Flick hoch anrechnen. Ihm gelang es ein System zu entwickeln, dass die einzelnen Stärken der Spieler zum Vorschein bringt und deren Schwächen kaschiert, etwas, das Niko Kovac in seinen knapp 1 ½ Jahren in München nie gelang.

Was bringt die Zukunft?

Nun profitierte Boateng natürlich auch von den Verletzungen von Niklas Süle und Lucas Hernández, sowie dem Verschieben von Joshua Kimmich auf die Sechserposition woraufhin Benjamin Pavard einen Stammplatz als Rechtsverteidiger erhielt.

Bei Niklas Süle wird es wohl noch einige Zeit dauern, bis er wieder auf dem Platz steht und Lucas ist eben wie David Alaba Linksfuß. Zwar setzte Hansi Flick bereits auf beide in der Innenverteidigung, allerdings wirkte dies für beide extrem ungewohnt. Insbesondere der Österreicher kann seine Spielstärke eben primär halblinks zur Geltung bringen.

Aktuell muss man sagen, dass die Kombination aus Boateng und Alaba perfekt zum Spielstil der Münchner passt, weder Pavard noch Lucas verfügen über die spielerischen Fähigkeiten, die der Weltmeister von 2014 mitbringt. Auch Niklas Süle kann sich in der Spieleröffnung immer noch einiges von Boateng abschauen.

Dementsprechend ist es wohl sehr realistisch, dass Boateng auch über den Sommer hinaus in München bleiben wird. Sein Vertrag läuft noch bis 2021, gut möglich, dass dieser sogar noch einmal verlängert wird. Insbesondere, wenn Hansi Flick mit einer langen Vorbereitung im Rücken das Münchner Spiel noch etwas flexibler gestaltet, könnte Boateng als zentraler Innenverteidiger in einer Dreierkette vielleicht sogar noch effektiver sein und die gegnerischen Verteidigungslinien mit seinen langen Bällen auch in hohem Alter von vor große Probleme stellen.

Tobias Hahn, abseits.at

Tobias Hahn

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