Jeden Sonntag wollen wir in dieser Serie Spieler beleuchten, die ungewöhnliche Wege eingeschlagen haben. Wir möchten Geschichten von Sportlern erzählen, deren Karriere entweder im Konjunktiv stecken blieb, die sich zu einem gegebenen Zeitpunkt radikal verändert haben oder sonst außergewöhnlich waren und sind: Sei es, dass sie sich nach dem Fußball für ein völlig anderes Leben entschieden haben, schon während ihre Profizeit nicht dem gängigen Kickerklischee entsprachen oder aus unterschiedlichen Gründen ihr Potenzial nicht ausschöpften. Auf jeden Fall wollen wir über (Ex)-Fußballer reden, die es sich lohnt auf dem Radar zu haben oder diese (wieder) in den Fokus rücken. Wir analysieren die Umstände, stellen Fragen und regen zum Nachdenken an. Nach Lucas Scholl und Alexandre Pato beenden wird heute unsre „Trilogie der großen Talente“ mit einem Hamburger Spieler…
Hamburg-Wandsbek – dort ist der 54-jährige Walter Laubinger heute zuhause. Der Nordosten der Hansestadt war und ist seine Heimat; in Billstedt begann er mit dem Kicken, ehe er beim Bramfelder SV mit Stefan Effenberg Freundschaft schloss. „Stefan war eigentlich fast jeden Tag bei uns zu Besuch. Er hat bei uns irgendwie mit dazugehört.“, erinnert sich der Ex-Spieler. Später ging „Laube“ zum HSV, wo er Liebling von Ernst Happel wurde: „Zauberer“ rief ihn der knorrige Wiener zärtlich und jeder, der sich auskennt, weiß ein größeres Kompliment vergab der Wödmasta in der Regel nicht. Während Effenberg jedoch Karriere als „aggressive leader“ bei Mönchengladbach, den Bayern und der deutschen Nationalmannschaft machte, wurde aus „Laube“ nicht einmal ein gestandener Bundesligaspieler. Für den jungen Mann mit dunklem Vokuhila und Schnauzbart war plötzlich die Partyszene der Hansestadt interessanter; er beteiligte sich an Schlägereien, verlor mehrfach seinen Führerschein und beendete seine Fußballkarriere schließlich mit 21 Jahren bevor sie noch richtig begonnen hatte.
Der Patriarch
Viele erfolgreiche Profis erzählen, dass sie nie die talentiertesten oder besten Spieler in ihren Nachwuchsmannschaften waren, sich aber mit harter Arbeit und Beharrlichkeit nach oben kämpften. Bei Walter Laubinger war es genau umgekehrt: Er konnte seine fantastischen Anlagen nicht in Spiele oder Titel ummünzen. Zu seiner Ehrenrettung muss jedoch gesagt werden, dass die Verhältnisse des Ex‑Stürmers eine ruhige Entwicklung kaum möglich machten: Laubinger wird am 9. November 1967 in eine Sinti-Familie, die mit strenger Hand des Vaters geführt wurde, hineingeboren. Martin Laubinger hat es sich in den Kopf gesetzt aus einem seiner fünf Kinder einen Fußballprofi zu machen und findet, dass die Chancen bei seinem Drittgeborenen dafür am besten stehen. Von Kindesbeinen an wird Walter geformt. Am Billstedter Hartplatz zieht ihm der Vater den rechten Schuh aus, damit der Bub nur seinen schwächeren linken Fuß trainiert. Bruder Domingo ist der Sparringspartner und das lohnt sich, denn der HSV will schon den zehnjährigen Walter in seine Jugendabteilung holen. Martin Laubinger winkt aber zunächst ab. Für seinen Sohn läuft es auch ohne ein Engagement beim einstigen Bundesliga-Dino hervorragend: Erst Hamburger Landesauswahl, dann U 15-Nationalmannschaft. „Ich habe geweint vor Glück.“, erzählt Walter. Kurze Zeit später bietet ihm Günter Netzer, damals HSV-Manager, einen Jugendvertrag und dann einen Profivertrag an. Vater Martin erledigt das Geschäftliche, Walter hat keine Ahnung, worum es geht. Das wird bis zum Ende seiner kurzen Karriere so bleiben.
Walter ist schnell, stark am Ball und (dank Vaters Spezialtraining) beidfüßig. Ernst Happel ist beeindruckt; nach dem ersten Training nimmt er den Spieler in den Arm und sagt ihm, er soll morgen wieder kommen. „Laube“ schwebt auf Wolke Sieben; mit den DFB-Junioren wird er 1986 Dritter bei der Europameisterschaft und hofft, bald seine Schuhe für die Kampfmannschaft der Rothosen zu schnüren. Doch „Aschyl“ lässt ihn nicht spielen. Walter versteht die Welt nicht mehr: „Ich habe meinen Vater angeschrien und geheult. Warum spielen die anderen, obwohl ich doch viel besser bin als sie?“ Für seinen Freund und Kollegen Ralf Jester, der sich zwanzigjährig so schwer verletzte, dass er den Fußball als Sportinvalide aufgeben musste, ist es unverständlich, dass Laubinger nicht früher die Chance gegeben wurde sich bei den Profis zu beweisen: „Ich behaupte, dass Walter das größte Fußballtalent war, das wir in jenen Jahren in Deutschland hatten.“
Jeans statt Jogginghose: „Ich tanzte gern, war immer gut drauf, wurde zum Partyheld.“
„Laube“ ertränkt seinen Frust schließlich: Schon nach wenigen Wochen, in denen er nur trainiert, beginnt er seine Freizeit auf andere Art und Weise zu nutzen. Von nun an beackert er nicht nur die linke Seite, sondern läuft auch in Kneipen und Discos ein und aus. Er wird als HSV-Kicker erkannt und umschwärmt: Männer laden ihn zu Bieren, Frauen zu anderem ein. „Für mich war es plötzlich ganz einfach an Mädels zukommen.“, erinnert sich der Offensivspieler, obwohl er nach Sinti-Tradition bereits mit seiner Cousine verheiratet ist. Überhaupt habe er in dieser Zeit erstmals Jeans angehabt, nicht nur Sportkleidung und Alkohol getrunken, wie es für Freunde aus seinem Kiez längst modern war.
Seine Eskapaden bleiben noch geheim, spätnachts klettert er über ein offenstehendes Fenster in die elterliche Wohnung zurück. Walter ist ein Kämpfer: Nach einer Psycho-Grätsche von Manfred Kaltz bei einem Trainingsmatch, spielt er mit blutverschmiertem Gesicht einfach weiter. Der Abwehrspieler steckt ihm lapidar: „Mach weiter so und du wirst ein ganz Großer.“ zu. Das Problem ist jedoch, dass „Laube“ nicht richtig in den stark hierarchisch organisierten Fußballsport passt. Er ist notorisch unpünktlich, mehrfach fährt er dem Mannschaftsbus zum Auswärtsspiel nach; außerdem fehlt es ihm an Respekt: Ältere Teamkollegen stiften ihn im Trainingslager an den Affen zu machen, Walter gehorcht und zieht sich den Unmut des Trainerstabs zu.
Als er in der Spielzeit 1987/88– nach Stammspieler-Abgängen – seine Chance wittert, bremst ihn die Hamburger Chefetage rasch aus: Sie schlagen ihm eine Leihe vor, damit er Spielpraxis sammelt. Laubinger lehnt ab – ein Fehler: Denn Happels Nachfolger Skoplar setzt nicht auf ihn, auch weil er zu wenig in der Defensive arbeitet. Eine Leihe in die zweite Liga zur SpVg Bayreuth bringt wegen einer kniffligen Knöchelverletzung keinen Erfolg. Zurück in der Heimat setzt der Stürmer nochmals alles auf eine Karte und trainiert „wie ein Bekloppter“, doch Erich Ribbeck, sein neuer Chef, hat keine Verwendung für ihn. Martin und Walter Laubinger bitten um eine echte Chance, doch das Management der Rothosen will „Laube“ nochmals verleihen. Für den Angreifer ist das Maß voll, er fasst einen folgenschweren Entschluss: „Ich will nicht mehr spielen.“ Er lässt sich reamateurisieren und läuft für seinen Ex-Klub auf.
Walter, der Profi(-Gärtner)
Einmal wird der Stürmer noch schwach: Der Zufall will es, dass er seinen alten Kumpel Stefan Effenberg wieder trifft, der nicht glauben kann, dass sein hochtalentierter Jugendfreund seinen Traum vom Profi aufgegeben hat. „Effe“ organisiert für Laubinger ein Probetraining bei Mönchengladbach. Walter macht einen guten Eindruck, doch die Borussen ziehen ihr Angebot plötzlich zurück und der Ex-HSV-Spieler ist in seiner Ehre gekränkt. Damit hakt Walter Laubinger das Kapitel Fußball ab und krempelt sein Leben komplett um. Damals ist er bereits zweifacher Vater und braucht dringend Geld; er übernimmt die kleine Gartenbaufirma seines Vaters und verzichtet auf seinen Wochenendspaß. Seine gläubige Frau nimmt ihn mit in die Kirche, Walter wird praktizierender Christ: „Mein Leben bekam durch den Glauben einen neuen Sinn.“
In seiner Freizeit trainiert er fortan Jugendmannschaften; seine Schützlinge sind begeistert von seinen fußballerischen Fähigkeiten. Auch als Coach macht er sich in der Hamburger Szene rasch einen Namen, weil seine Mannschaften nicht nur einmal die Jugendteams der Großklubs schlagen. Sogar „Uns-Uwe“ Seeler klopft ihm anlässlich eines solchen Triumphes einmal auf die Schulter und fragt, warum er es nicht als Profi-Trainer versucht, doch Walter schüttelt den Kopf: Er hat mit dem Fußballgeschäft abgeschlossen. Selbst sein talentierter Sohn wird kein Bundesligaspieler; obwohl Domingo in der Jugend Tore wie am Fließband macht. Schuld daran ist auch die Reputation des Herrn Papa: „Die Laubingers hatten in Hamburg einfach den Ruf unzuverlässig zu sein.“ Domingo ist heute selbständiger Dachdecker, Vater Walter betreibt noch immer sein Gärtnergeschäft. Gelegentlich läuft „Laube“ für die Alten Herren des Hamburger SV auf, seinen Torriecher hat er nie verloren.
Marie Samstag, abseits.at
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