Jeden Sonntag wollen wir in dieser neuen Serie Spieler beleuchten, die ungewöhnliche Wege eingeschlagen haben. Wir möchten Geschichten von Sportlern erzählen, deren Karriere entweder... Men to (re)watch (5) –  Tobias Rau (KW 5)

Jeden Sonntag wollen wir in dieser neuen Serie Spieler beleuchten, die ungewöhnliche Wege eingeschlagen haben. Wir möchten Geschichten von Sportlern erzählen, deren Karriere entweder im Konjunktiv stecken blieb, die sich zu einem gegebenen Zeitpunkt radikal verändert haben oder sonst außergewöhnlich waren und sind: Sei es, dass sie sich nach dem Fußball für ein völlig anderes Leben entschieden haben, schon während ihre Profizeit nicht dem gängigen Kickerklischee entsprachen oder aus unterschiedlichen Gründen ihr Potenzial nicht ausschöpften. Auf jeden Fall wollen wir über (Ex)-Fußballer reden, die es sich lohnt auf dem Radar zu haben oder diese (wieder) in den Fokus zu rücken. Wir analysieren die Umstände, stellen Fragen und regen zum Nachdenken an. Im fünften Teil ist Tobias Rau, Ex-Bayern-Profi und heutiger Volksschullehrer, Protagonist dieser Serie…

Tobias Rau hatte in den letzten Tagen viel zu tun, schließlich standen die Zeugnisse an. Vor Jahren wäre das noch anders gewesen, da hätte er die ersten Spiele nach der Winterpause schon hinter sich gehabt. Doch Rau geht schon lange nicht mehr in die Vereinskabine um sich Umzuziehen, sondern ins Lehrerzimmer. Er lauscht keinem Taktiktraining mehr, muss ins Kältebecken, in den Bus, zur Spielvorbesprechung oder ins Trainingslager, stattdessen steht er vor einer Gruppe Kinder und versucht diesen etwas beizubringen. Wenn „Tobi“ gegen einen Ball tritt, dann nur weil er im Sportunterricht mit seinen Schülern Fußball spielt.

Tobias Rau, der einst deutscher Nationalspieler war, beim FC Bayern kickte – kurz einen Bubentraum lebte – arbeitet heute als Lehrer an einer Gesamtschule in Westfalen. Sein Arbeitsplatz ist ein helles, modernes Gebäude, als Pädagoge ist er prägende Figur für seine Schützlinge. Diesen Aspekt seines Berufes wusste er schon als Praktikant zu schätzen: „Es ist erfüllend mit welcher Begeisterung sie mir begegnen. Das Fußballgeschäft ist doch ich-bezogen, jeder schaut, dass er weiterkommt. Hier ist es ein Miteinander und das ist eine der schönsten Sachen überhaupt.“

Mensa statt Meisterfeier

Das Fußballgeschäft erlebte Tobias während seiner zehnjährigen Profilaufbahn von seiner radikalsten Seite: Sein Aufstieg war unheimlich schnell, der Abstieg ebenso. Schon mit 19 Jahren spielte der Defensivspieler in der Bundesliga, zwei Jahre später debütierte er für die deutsche A‑Nationalmannschaft. Im Sommer desselben Jahres wechselte er zum FC Bayern München und schien am Ziel seiner Träume. Der Außenverteidiger war aber nie ein gewöhnlicher Fußballprofi. Als er damals nach seinen Zukunftsträumen gefragt wurde, meinte er vorsichtig: „Ich weiß noch nicht genau, was ich später machen will, aber Grundschullehrer, das wäre schon schön.“ Ungewohnte Töne von einem topfitten jungen Mann, der seinen silbernen Audi vor einer Villa in München-Grünwald parkte. Rudi Völler hatte ihm – anlässlich seines furiosen Auftritts im EM-Quali-Spiel gegen Schottland – prophezeit „auf der linken Seite der Spieler der nächsten Jahre zu werden“, keiner wusste, dass Rau aber nur sieben Mal das DFB-Trikot überstreifen sollte

Tobias Raus Leben begann am Silvestertag 1981 in Braunschweig. Ab seinem 14. Lebensjahr spielte er für die traditionsreiche Eintracht aus seiner Heimatstadt. Parallel dazu war er ab der U 15 Teil der deutschen Nationalmannschaft. Rau galt als Riesentalent: Schnell, technisch gut, mit viel Übersicht. Er spielte mit viel Herz und scheute keinen Zweikampf. Außerhalb des Platzes entsprach er nur wenig dem Stereotyp eines Fußballers: Er sprach überlegt, wirkte ruhig und besonnen.

2001 wechselte er aus der Regionalliga in die Bundesliga zum VfL Wolfsburg, nur zwei Saisonen später klopfte Uli Hoeneß an seine Türe: Die Bayern wollten sich den Linksaußen schnappen. Rau beurteilte den Transfer rückwirkend folgendermaßen: „Wenn man ein ehrgeiziger Fußballer ist, viel erreichen will und man bekommt die Chance bei Bayern München zu spielen, dann ist es schwierig nein zu sagen.“ Anfang schien es auch beim Rekordmeister gut zu klappen, die Bayern-Bosse hatten den jungen Braunschweiger als Nachfolger von Lizerazu verpflichtet und waren mit seiner Entwicklung zufrieden. Doch in seiner zweiten Saison bei den Münchnern begannen die Verletzungssorgen des Tobias R.: Aufgrund seiner Ausfälle, entwickelte er keinen Spielrhythmus und war bald weg vom Fenster. Geduld ist keine bayerische Tugend, sodass der 23-jährige zu Arminia Bielefeld wechseln musste, um seine hoffnungsvolle Karriere zu retten.

Mindestens 25 Muskelverletzungen

Doch die Muskulatur des deutschen Meisters von 2005 spielte nicht mehr mit: Rau fiel aus, musste sich zurückkämpfen und verletzte sich nach ein paar Partien erneut. Er geriet in einen Teufelskreis und merkt irgendwann, dass er keine Lust mehr hatte: „Man muss sich immer wieder neu motivieren, sich neu aufbauen. Am Ende war ich etwas müde und hatte nicht mehr so viel Feuer wie am Anfang der Karriere.“ Mit 27 Jahren – im besten Fußballeralter – fällt er eine folgenschwere Entscheidung: Er beendet seine Karriere und schreibt sich als Lehramtsstudent für Biologie und Sport an der Uni Bielefeld ein. Viele schütteln den Kopf, gehörte Rau doch vor wenigen Jahren noch zu den besten Spielern Deutschlands. Es liegen genügend Angebote aus der 2. Bundesliga und auch aus dem Ausland vor, aber „Tobi“ hat mit seiner Zeit als Fußballer abgeschlossen.

Insbesondere der kometenhafte Aufstieg hat bei ihm Spuren hinterlassen: „Wenn es so rasant geht, kann die Persönlichkeitsentwicklung gar nicht hinterherkommen. Die kam erst später. In dem Geschäft gibt es leider wenige Leute, die so ehrlich sind, dass man als junger Spieler genau weiß, was um einen herum passiert. Ich habe mich sehr bemüht, alles zu relativieren und das reale Leben nicht aus den Augen zu verlieren.“ Letztendlich sind es viele Gründe, die ihn dazu bewegen das Kicken sein zu lassen: „Ich wollte nicht noch einmal umziehen, mir ein neues Umfeld suchen, das habe ich schon so oft gemacht.“ Er steigt aus der Fußballerblase aus, nimmt die rote Pille und befreit sich aus der Simulation, verlässt den Elfenbeinturm: „Es ist eine Scheinwelt, und die Glücksmomente, die man empfindet, wenn man ein Spiel gewinnt und das ganze Publikum jubelt, sind eben künstlich. Man weiß genau, dass man von denselben Leuten ausgepfiffen wird, wenn man ein paar Tage später schlecht spielt.“

In seiner ersten Uniwoche ist Rau zwar noch ein Sonderling: Fast jeder erkennt den ehemaligen DFB-Nationalspieler, das legt sich aber rasch wieder. Von seinem „ersten Leben“ profitiert er nicht nur mit dem finanziellen Polster, den er sich geschaffen hat, sondern auch mit der mentalen Stärke, die er sich als Fußballer aneignen musste. So ist „Prüfungsangst“ ein Vokabel, das in seinem Sprachgebrauch nicht vorkommt. Er beendet sein Studium erfolgreich und arbeitet heute an der Peter-August-Böckstiegel-Gesamtschule in Borgholzhausen, nahe Bielefeld. Wenn die deutschen Nationalmannschaft spielt, sieht er sich die Spiele zu Hause gemeinsam mit Freunden an. Während seine Kumpels ihre Trikots aus dem Fanshop haben, zieht sich Rau sein altes Dress mit der Rückennummer 2 an. Wehmut verspürt er keine, selbst vor wenigen Jahren als er noch alte Kollegen wie Bastian Schweinsteiger im TV beobachten konnte. Im Gegenteil: Er denke gerne an seine aktive Zeit zurück, behauptet Rau.

Natürlich hat sich Tobias Rau nicht gegen das Nationaltrikot und für das Klassenbuch entschieden. Inwiefern er seine Profikarriere nach vielen Blessuren noch einmal in Schwung bringen hätte können, wird ein Geheimnis bleiben. Wahrscheinlich spürte er, dass es für ihn nicht mehr dorthin gehen würde, wo er bereits war und wollte sich ein tragisches Finale als „herumeiernder“ Mittdreißiger auf einem zertretenen Platz in der 4. Liga ersparen.

Fußball ist für Tobias Rau – nach wie vor – ein Traumberuf: „Ich würde jedem, der das Talent hat, raten es als Profi zu versuchen, aber man muss etwas in der Hinterhand haben.“ Er liebt den Sport und kickt als Stürmer bei einer Amateurmannschaft nahe seines Wohnortes um sich fit zu halten: Gemeinsam für eine Sache zu kämpfen, Siege und Niederlagen erleben – die Essenz des Fußballs. 2018 beendete er seine Amateurlaufbahn, gründet in Bielefeld eine Fußballschule und sitzt im Aufsichtsrat von Arminia: „Das ist für mich eine Herzensangelegenheit. Ich habe das Gefühl: Ich kann helfen.“ Eine Rückkehr in das Geschäft Fußball schließt Rau aber aus.

Marie Samstag, abseits.at

Marie Samstag