Jeden Sonntag wollen wir in dieser neuen Serie Spieler beleuchten, die ungewöhnliche Wege eingeschlagen haben. Wir möchten Geschichten von Sportlern erzählen, deren Karriere entweder im Konjunktiv stecken blieb, die sich zu einem gegebenen Zeitpunkt radikal verändert haben oder sonst außergewöhnlich waren und sind: Sei es, dass sie sich nach dem Fußball für ein völlig anderes Leben entschieden haben, schon während ihre Profizeit nicht dem gängigen Kickerklischee entsprachen oder aus unterschiedlichen Gründen ihr Potenzial nicht ausschöpften. Auf jeden Fall wollen wir über (Ex)-Fußballer reden, die es sich lohnt auf dem Radar zu haben oder diese (wieder) in den Fokus zu rücken. Wir analysieren die Umstände, stellen Fragen und regen zum Nachdenken an. In der neunten Fortsetzung beleuchten wir Neo-Wolfsburger Max Kruse, der gerne aus der Reihe tanzt, näher…
„Eine Plastiktüte war es nicht. Es war mein Rucksack. Der ist auch noch weg, also kannst du noch einen Tausender draufrechnen.“, gab Max Kruse kürzlich, als er wiedermal auf jene Affäre angesprochen wurde, die ihn wohl in die unfreiwillige DFB-Pension geschickt hatte, zu Protokoll. Der Fußballprofi gilt als „Typ“: „Ich spreche alles direkt an und scheue keine Konfrontation. […] Doch ich gehe niemand persönlich an und werfe ihm grundlos etwas an den Kopf, weil ich gerade Lust dazu habe.“, sagte er einst über sich selbst.
Mittlerweile ist es über sechs Jahre her, dass dem Fußballprofi in einem Berliner Taxi kolportierte 75.000 Euro Casino-Gewinn abhandengekommen sind. Sein Jetzt-wieder-Verein Wolfsburg belegte ihn damals mit einer Geldstrafe, viel schmerzhafter war jedoch, dass dieser Zwischenfall und ein folgender Disput mit einer Klatschpresse-Reporterin dazu führten, dass Kruse vom damaligen Bundestrainer Joachim Löw aus dem deutschen EM-Kader für die Endrunde 2016 gestrichen wurde. Doch was hat Kruse eigentlich verbrochen? Er verteidigt gegenüber einer Journalistin seine Privatsphäre bzw. verschusselte eine Menge Euronen, die für einen Profi trotzdem Peanuts sind. Kein Mord, kein Totschlag. Für Löw und seinen Trainerstab war der Norddeutsche trotzdem nicht mehr tragbar: „Spieler sollen Vorbilder sein.“
Medial firmiert Kruse spätestens seit damals als „Bad Boy“ und wird hie und da zur Sau gemacht, die von gaffenden Moralisten durchs Dorf getrieben wird. „Söldner“ nennen ihn zudem manche Fans, denn der bald 34-jährige Profi macht keinen Hehl daraus, dass Fußball sein Beruf ist und er davon auch finanziell profitieren möchte. Der Offensivspieler ist selbstbewusst und erfrischend ehrlich: Er mag eben die schönen Dinge des Lebens wie Sportwagen, Nutella und Zocken. Damit ist er nicht allein, seine fußballerischen Qualitäten unterscheiden ihn aber von den meisten Menschen. Zwar gilt der 1,80 Meter große Kicker als Spätstarter, wurde aber zu einem Spieler, der jede Mannschaft (punkteschnittmäßig) besser macht. Wenn er seine Teams wieder verlässt, schwächeln diese. Das ist der Max-Effekt.
Was Mäxchen (nicht) lernt…
Auffällig war Kruse schon als Kind. Sein Jugendtrainer erinnert sich: „Er kam mit seinen grünen Gummistiefeln an und ab diesem Zeitpunkt ging es nur um Fußball: Er wollte den Ball haben und die Tore schießen.“ Damals im beschaulichen Reinbek bei Hamburg umgeben von Wäldern, Wiesen und norddeutscher Architektur aller Epochen tritt der Vierjährige beim hiesigen TSV erstmals gegen den Ball. Bereits bei seiner zweiten Klubstation, dem SC Vier- und Marschlande, lernt er Martin Harnik kennen mit dem er bis heute befreundet ist. Der Weg von beiden Spielern führt danach weiter in die Akademie von Werder Bremen, dort schafft jedoch nur der spätere ÖFB-Angreifer den Durchbruch. Max wechselt stattdessen zu St. Pauli. Als sein Vertrag 2011 ausläuft, steht der nunmehr 23-jährige an einem ersten Scheidepunkt seiner Karriere: „Ich habe mich sehr lange nur auf mein Talent verlassen, weil ich es eben konnte. Ich war gut genug, ohne Zusatzschichten zu absolvieren, also habe ich mir darüber keine Gedanken gemacht.“ Schlagartig wird ihm klar, dass er nun kein hoffnungsvolles Talent mehr ist, sondern Zweitliga-Profi, der sich im täglichen Konkurrenzkampf behaupten muss. Seine Träume von einem Top-Erstliga-Verein und der Nationalmannschaft würden fiktiv bleiben, wenn er nicht bereit ist an sich zu arbeiten. Gesagt, getan. Kruse holt sich einen Personal Coach, schiebt Zusatzschichten und wird disziplinierter. Auf dem Platz profitiert er von seiner unorthodoxen Art zu kicken: Er ist kein klassischer Stürmer, sondern ein Hybrid-Modell aus Torjäger, Vorbereiter und Spielgestalter. Kruse ist ein Bauchmensch, der auch als Sportler gern improvisiert. Ein Fußballer mit einem derartigen Näschen darf jedoch nicht handzahm oder gar diplomatisch werden. Brav oder bieder? Niemals. Bis heute umgibt den einstigen HSV-Fan der Ruf nur haarscharf um das Prädikat „gescheitertes Talent“ herumgekommen zu sein.
Kruse steht zu seinen ungewöhnlichen Hobbys: Er hat ein Motorsport-Team und begeistert sich für Poker. Letztere Leidenschaft wurde entfacht, als der damals 18-jährige von Werder-Kollegen ins Kasino mitgenommen wurde. Der Ex-Legionär zeigt auch mit den Karten Talent und hat bis heute kolportierte 130.000 Dollar an Preisgeld gewonnen. Außerdem liebt er das Fernsehen, singt mit blondiertem Haar und in James-Bond-Look in einer türkischen Sendung oder spielt bei Schlag-den-Star mit. Aufsehen erregt auch jener Zwischenfall, als Kruse während seines Engagements beim bodenständigen SC Freiburg mit einem weißen Maserati vorfährt, während Trainer Streich mit dem Fahrrad zum Training kommt. Später lässt Max sein Luxusauto in Tarnfarben umlackieren. Auch nicht unauffällig.
Bei St. Pauli mausert sich Kruse zum torgefährlichen Mittelfeldspieler und wechselt schließlich 2012 nach Freiburg. Dort etabliert er sich und bekommt eine SMS von Jogi Löw: Der Bundestrainer nominiert ihn für die USA-Reise des DFB-Teams. Ein überraschender und später Aufstieg für den 25-jährigen, den er vor allem seiner Spielintelligenz zu verdanken hat. Löws Lobpreisungen erwecken den Eindruck, Kruse würde zur deutschen Stürmerhoffnung der nächsten Jahre mutieren. Er nennt seine Spielweise „raffiniert“. Die Medien kramen derweilen ein peinliches „Rap-Video“ hervor. Kruse nimmt es locker, sein Trainer in Freiburg auch: „Der Max bietet natürlich Angriffsfläche.“, sagt Streich. Doch solange der Angreifer seine Leistung bringt, hat niemand Grund zu meckern: Mit elf Treffern ist Kruse bester Torschütze des SC und trägt mit seiner Leistung dazu bei, dass der vermeintliche Abstiegskandidat am Ende der Saison auf einem Champions League-Startplatz landet.
„Es ist mir Latte, ob man mich Söldner oder geldgeil nennt.“
Doch international müssen die Baden-Württemberger ohne ihren Torgaranten auskommen, denn der Weg des Angreifers führt weiter nach Gladbach. Er bleibt zwei Saisonen ehe er zum ersten Mal nach Wolfsburg wechselt: „Jeder weiß, dass ich bei jedem Verein meinen positiven Stempel hinterlassen haben. Ich war mit meinen Mannschaften immer erfolgreich, nur in Wolfsburg war der ein oder andere Störfaktor drin. Es lief nicht optimal und ich mag es nicht vor etwas davonzulaufen, deswegen bin ich froh, dass ich die Möglichkeit bekommen habe, nochmals zu zeigen, dass ich auch bei Wolfsburg erfolgreich sein kann.“, meint er vor kurzem über seine Zukunftspläne mit den Wölfen.
2015 läuft es in der VW-Stadt nicht rund, der „Unterschiedsspieler“ macht zu wenig Unterschied. Dazu kommt jene Thematik, die seine Länderspielkarriere bei vierzehn Spielen und vier Toren enden lässt. Damals hat Max Kruse aber noch eine offene Rechnung in Bremen: Im August 2016 wechselt er zu seinem einstigen Ausbildungsverein und wird in der Saison 2018/19 sogar zum Kapitän ernannt. Nach 84 Spielen für Werder geht er zu seiner (bisher) einzigen Auslandsstation Fenerbahçe Istanbul. Zwar ist er noch gut im Geschäft, viele schreiben die glorreichen Tage des Max Kruse nach seinem Aus bei der Nationalmannschaft und dem Transfer in die Süper Lig jedoch ab. Aufgrund von Zahlungsschwierigkeiten beendet der Ex-Internationale allerdings bald sein Engagement in der türkischen Hauptstadt und wechselt zu Union Berlin. Dort meldet er sich eindrucksvoll zurück und beweist, dass er noch lange nicht zum alten Eisen gehört: Kruse stellt mit sechzehn verwandelten Elfmetern einen Uralt-Rekord ein, wird zur Lebensversicherung der Köpenicker. Plötzlich winkt auch wieder das DFB-Team und wenn es auch nur für das – wenig prestigeträchtige – olympische Fußballturnier ist: Der mittlerweile 33-jährige soll als Leitwolf den Weg zur Goldmedaille ebnen. Kruses einziger voller Erfolg in Tokio bleibt aber jener Heiratsantrag, den seine Freundin annimmt. Deutschland scheidet schon in der Vorrunde aus.
Max Kruse hat sich wieder ins Rampenlicht gespielt: Besonders schnell war er nie, dafür ist sein Zug zum Tor noch genauso effektiv wie früher. Er verfügt über eine gute Übersicht und nimmt sich noch immer kein Blatt vor den Mund: Nach einem Auswärtssieg beim Vfl Bochum grüßt er viral alle „Ruhrpott-Assis“ und verabschiedet sich mit „einem Kuss auf die Nuss“, er analysiert Länderspiel-Ergebnisse mit der Shisha am Pool oder teilt jene Abende, die er an seiner goldenen Playstation verbringt, im Online-Stream. Im Jänner 2022 macht der VfL Wolfsburg erneut das Rennen um Kruse. Der Klub hofft, dass die Tore des Angreifers im Abstiegskampf helfen. Wie einst in Freiburg pfeift Max auf einen möglichen DFB-Pokalsieg oder Champions League-Startplatz mit Union, sondern unterschreibt beim Werksklub. Er räumt zudem ein in Berlin nicht mehr so zufrieden wie anfangs gewesen zu sein: Es hat „nur“ sechs Spiele in der Hinrunde über 90 Minuten absolviert. Der Vater eines Sohnes gibt auch freimütig zu, bei einem womöglich letzten Vertrag noch einmal gut verdienen zu wollen.
Ist Kruse also der letzte Typ der Bundesliga? Wahrscheinlich schon. Der Kicker gibt keine vorgestanzten Sätze von sich, vermeidet kommunikative Umwege, indem er sich in den sozialen Medien selbst zu Wort meldet, verstellt sich nicht. Trotzdem ist er jemand, der an seine Leistungsgrenze geht: Seine laid-back-Attitüde darf nicht den Eindruck erwecken, Kruse sei kein verlässlicher Profi. Er nimmt seinen Beruf ernst und kann deshalb Spaß haben. Kruse pfeift auf Kampfgewicht oder Zapfenstreich, macht im Match aber trotzdem den Unterschied aus. Er ist ein Mentalitätsmonster ohne Launen, muss nicht gestreichelt werden damit er seine Klasse aufblitzen lässt, sondern gibt einer Mannschaft den positiven Schliff mit. Das unterscheidet ihn von Spielern, die über unglaubliches Potenzial verfügen, dies aber – mangels Einsatzbereitschaft oder Lustlosigkeit – nicht genügend zeigen. Kruse geht voran und ist immer für eine Überraschung gut, seine Reise ist noch nicht zu Ende.
Marie Samstag, abseits.at
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