Dreimaliger Welttorhüter, achtfacher deutscher Meister, sechsmaliger deutscher Pokalsieger, CL-Finalist und CL-Gewinner, Vize-Weltmeister, Torhüter des All-Star-Teams der WM 2002, bester Spieler bei Letzterer und so weiter – Oliver Kahn ist ohne Zweifel einer der erfolgreichsten und besten Torhüter der Fußballgeschichte. Und jedes Kind weiß, wie er zu diesem wurde. Das Geheimnis seines Erfolges ist mit drei Worten zu beschreiben: Talent, harte Arbeit und ein eiserner Wille.
Spätestens seit der Dokumentation „Oliver Kahn und die Dinge des Lebens“ ist aber bekannt, dass es auch bei „Olli“ nicht ganz ohne Hilfe von außen ging: „Ich hab‘ schon mal verzweifelt versucht ein Buch zu finden, in dem sich jemand mit der Situation auseinandersetzt, in der ich mich befinde. Es gibt sehr viele Bücher, die immer darüber schreiben, wie kommt man irgendwo hin. Wie kommt man an sein Ziel. Aber es gibt ganz wenig Bücher, wenn überhaupt, die sich auseinandersetzten wie bleibt man da oben.“, sagte er einst über seine Position in der deutschen Nationalmannschaft mit Hinblick auf das WM-Turnier 2006.
Grundsätzlich beschäftigt sich aber auch sein eigenes Werk mit dem steinigen Weg „nach oben.“ Doch auf den letzten Seiten widmet sich der nunmehr 44-jährige auch der Frage, wie es post- successum weitergeht. Kahn erlebte dieses „(Un)glück“ am eigenen Leibe und macht außerdem bereits auf den ersten Seiten seines Buches klar, dass er in diesem Ratgeber auch Fehlschläge behandeln wird: „Es wird auch darum gehen müssen, dass es auch abwärts gehen kann, selbst dann, wenn man keine entscheidenden, vielleicht sogar gar keine Fehler gemacht hat. Und es wird darum gehen, wie man da wieder rauskommt.“
The Secret of My Success
„Ich“ heißt das Buch, Untertitel „Erfolg kommt von innen.“ Na bravo, also hier ist er wieder: Der „alte Egoist, Egomane, Kotzbrocken, A…!“. So bezeichnet sich Kahn auf den ersten Seiten seines biografischen Buches selbst, denn er weiß, mit welchen Vorurteilen er seit Jahr und Tag abgekanzelt wird. Als Profisportler musste er seinem Ziel „bester Torhüter der Welt zu werden“ alles unterordnen, anders funktioniert es eben nicht. Kahn meint, man muss eine starke Persönlichkeit sein aber trotzdem teamfähig bleiben um in seinem Leben Erfolg zu haben. Es bedarf eines „sozialen Egoisten“ würde Hans Krankl sagen. So abstrus oder scheinbar widersprüchlich es klingen mag, aber beide haben Recht. Letztendlich ist sich nämlich jeder selbst der Nächste, ohne eine helfende Hand, die hin und wieder zur Rettung eilt, wird es aber nicht gehen. Schon gar nicht, wenn man Teamspieler ist und das ist – wenn man den größeren Rahmen betrachtet- fast jeder Berufstätige.
In zehn Kapiteln versucht Kahn das Grundrezept seines Erfolges „hineinzuquetschen.“ Es geht weniger um psychologische Tricks, die man wenige Sekunden vor den entscheidenden „Wettkampfsituation“ auspacken kann, sondern um die Grundeinstellung eines Menschen zum Leben. Dabei gibt Kahn sehr viel von sich preis und man durchlebt auf 352 Seiten die Wandlung des Menschen und Sportlers. Als Rahmenhandlung hat sich der dreifache Vater die Nachbetrachtung jenes Zweikampfes ausgesucht, der die deutschen Sportfreunde monatelang vor dem Beginn der Weltmeisterschaft im eigenen Land beschäftigt hatte: Kahn versus Lehmann.
Einleitend beginnt „der Titan“ mit jenem Tag, an dem ihm der damalige deutsche Bundestrainer mitgeteilt hat, dass er sich für den damaligen Arsenal-Goalie und gegen den Torhüter des FC Bayern entschieden habe. Eine Stunde der Niederlage für den von Ehrgeiz zerfressenen Baden-Würtemberger. Damit macht er gleich klar: Erfolg und Scheitern liegen nahe beieinander.
Kahn beginnt seine Thesen mit dem „Ich“. Dieses sei der Schlüssel zum Erfolg, den der Ex-Goalie als „keine temporäre Sache“ ansieht: „Erfolg muss ein ganzes Leben lang halten. […] Und in jeder Lebensphase kann die Antwort darauf, was Erfolg ist, anders ausfallen.“ Alles müsse man diesem Erfolg unterordnen, nur das sei „authentisch“: Schließlich bestimmt man selbst sein Betätigungsfeld und muss dieses positiv prägen. Nachdem er einen Abschnitt fertig behandelt, fasst der Deutsche in einem khakifarbenen Kasten die wichtigsten Fakten seiner „Forschungsarbeit“ zusammen: „Quick Check!“ nennt er seine abhak-freundlichen Listen.
„Psychoanalyse“ leicht gekürzt
Schon auf den ersten Seiten fällt auf, dass der Ex-Bayern-Keeper zum „Fünf-Minuten-Freud“ mutiert: Er definiert ein „privates Ich“, ein „Wettkampf-Ich“ und die „Ware Ich“. Man müsse diese verschiedenen Persönlichkeitszüge auseinanderhalten um glücklich zu leben, dies untermauert Kahn mit jener berühmten Szene, als er 1999 versuchte BVB-Angreifer Heiko Herrlich ins Ohr zu beißen: „Wieder auf dem Boden angekommen, rempelt mich der Dortmunder Stürmer Heiko Herrlich – leicht, muss ich zugeben. Wie ein Tiere setze ich mich „zur Wehr“ – und hätte zu diesem Zweck den Herrlich um ein Haar in den Hals gebissen.“ Kahn war in einer Spielunterbrechung also noch zu sehr in den Regeln seines „Wettkampf-Ichs“ verfangen. Ebenso entschuldigt der zweifache Bambi-Preisträger die Momente als er den damaligen Leverkusener Brdaric am Nacken packte oder Andi Herzog „am Krawattl nahm“ und schüttelte.
Kahn beschreibt, wie schauspielerische Fähigkeiten notwendig sind, um seinen Kameraden und sich selbst überzeugend Mut zu machen. Bei der Nachbetrachtung des Meisterschaftsfinale 2001 zieht sich mir der Magen zusammen, obwohl ich das Ende der Geschichte bereits kenne. Für alle jene, die sich nicht mehr erinnern können: Durch ein indirektes Freistoßtor von Anderson schaffte Bayern in der letzten Minute der Verlängerung noch den Ausgleich gegen den HSV und schnappte so den Schalkern, die fälschlicherweise schon dachten, das Spiel sei vorbei, den Titel vor der Nase weg. Jedoch frage ich mich, ob solche Momente nicht vielmehr mit Glück zu tun haben und deshalb nicht „planbar“ sind. „Wer zu sich findet und auf das hört, was ihm sein „Ich“ sagt, wird Erfolg haben – fast hätte ich gesagt: ob er will oder nicht.“, weiß Kahn aber beherzt zu behaupten.
„Man kann nicht nichtwachsen.“ Der 1,88 cm große Ex-Tormann definiert die Wichtigkeit von Zielen. Einem Wissenschaftler ähnlich erläutert er verschiedene Modelle, die er sich offenbar selbst zurechtgelegt hat. Ob „Horizonterweiterung“ oder „missing piece“, Visionen braucht der Mensch. Der 44-jährige legt offen, was wohl längst jeder weiß: „Meine Vision, und sie stand schon sehr früh für mich fest, war folgende: Ich wollte der beste Torhüter der Welt werden.“ Kahn erzählt, wie er als Bub am Nebenplatz des Karlsruher SC in Gedanken sein eigenes „großes Spiel“ durchlebte, während angrenzend die Profis kickten. Die herüberschwappenden Emotionen schrieb er sich gedanklich zu und motivierte sich dadurch. „Olli“ philosophiert über die Wichtigkeit, dass passende Ziel zu finden: „Nicht zu groß und nicht zu klein.“ Er ermuntert auch zu praktischen Schritten: „Malen Sie sich ein Fußballtor auf, schreiben Sie ihr Ziel hinein, das Sie als Nächstes erreichen wollen und geben Sie nicht auf, bis Ihr „Ball im Tor“ ist.“
Aufmunternd berichtet der „Titan“ auch von seinen Rückschläge: Mit 15 aus der Kreisauswahl aussortiert, das erste Bundesligaspiel 0:4 verloren, usw. Sein „Vergleich“ mit Abraham Lincoln, der vor seiner Präsidentschaft sämtliche Wahlniederlagen einstecken musste, ist amüsant und nicht vermessen. Beruhigend ist außerdem, dass der Buchautor seine Thesen schon in Kapitel Zwei selbst hinterfragt. Denn nichts ist störender als „Klugscheißerei“ von einem Dogmatiker, der keinen Millimeter von seinen in Stein gehauenen Thesen à la Moses zwölf Tafeln, abrücken möchte: „Mal kein Ziel setzen, sich mal treiben lassen. […] Ich habe es schon mal versucht, seitdem. Ich habe es aber noch nicht geschafft. […] Was sagen Sie dazu?“
Werden und Wachsen
Plötzlich stutze ich, als ich folgende Geschichte lese: Der 18-jährige Jung-Tormann steht unter der Dusche und wird von einem Kameraden des KSC angepinkelt. Unglaublich aber wahr: „Nicht selten wurde ich beim Training von älteren Spielern übel beschimpft.“, beichtet Kahn. Eine im wahrsten Sinne des Wortes grausliche Geschichte: Der als so hart geltende Fußballer erzählt wie er einst unter der medialen Darstellung seiner Person gelitten hätte. Er schließt daraus, dass ein erheblicher Teil demotivierender Strukturen von außen kommt. Je länger ich lese, desto mehr lässt Kahn den „Fünf-Minuten-Freud“ „raushängen“: Er packt sein Erste-Hilfe-Köfferchen für den Fall akuter Demotivation oder adaptiert die Maslow’sche Bedürfnispyramide für sich. Trotzdem bin ich nach einem Drittel der Kahn-Lese-Therapie ziemlich begeistert: „Ich“ ist ein schnell zu lesendes Buch, in dem viele Ereignisse aus der Sportlerkarriere des Herrn Kahn verarbeitet werden. „Der Titan“ mutiert nicht zum Psycho-Schwafler sondern gibt sinnvolle Tipps, die einem gesunden Menschenverstand entspringen.
Der Absatz über Werte entpuppt sich als philosophischer Einsteigerkurs, doch auch hier verbrennt sich Kahn nicht die Finger. Wollte er durch Zitate Marc Aurels oder Kants kategorischem Imperativ seinen Ratgeber „aufwerten“? Die „angekratzte“ Geistesliteratur hat aber in einem „Do-it-yourself“-Buch nicht viel Platz, da sie aufgrund der Allgemeintauglichkeit und Kürze eines solchen Ratgebers sowieso nicht gebührend bearbeitet werden kann. Außerdem muss man Kahns Ratschläge nicht auf diese Art aufpolieren, dieser halbherzige Versuch ist unnötig.
„Weltoffener Egoismus“ sei nötig um sein Ziel zu erreichen, so knüpft Kahn an den Anfang seiner „Lehre vom „Ich““ an. „Es kommt nicht darauf an, wie gut Sie etwas können, sondern wie sehr Sie es wollen.“, predigt der ehemalige Welttorhüter den Glauben an die eigenen Fähigkeiten. „Positives Denken“ befreit Kahn von jeglicher „Schönfärberei“. Er will niemanden bekehren: „Ich bin einfach nicht der Typ, der seinen Antrieb aus dem Missglückten zieht, der sich damit motiviert, dass alles sowieso vergebens ist […]. Falls es Ihnen aber liegt – warum nicht?“ Stattdessen nennt Kahn seine Konzentrationsmethode „Power Thinking“: Aktives, zielgerichtetes, konkretes und realitätsbezogenes Denken.
Mittlerweile blättere ich locker durch die Seiten. Alles klingt logisch: Die „Gedankenredaktion“, Konzentration, Fitnessvoraussetzungen, etc. Der beste Torhüter der WM 2002 plaudert geradezu aus dem Nähkästchen. Körpersprache erklärt der Fußballer anhand anderer berühmter Sportler: Emotionslos wie Borg, entflammt wie John „You-can’t-be-serious“ McEnroe, selbstbewusst wie Tiger Woods oder grundaggressiv wie Stefan Effenberg.
Professionalität statt Perfektion, ein „biozentrisches“ statt eines „egozentrischen“ Weltbildes. „Olli“ entlarvt Verhaltensweisen, die man ihm zutraut und die er einst tatsächlich auslebte: „Ich hängte das Bild meines Kontrahenten an die Wand und sagte mir: „Das ist dein Feind…“ und „…den musst du besiegen!“. Seltsamerweise spielte Famulla [Alexander Famulla, Tormann beim Karlsruher SC, Anmerkung] exakt während dieser Zeit eine hervorragende Saison, und ich kam meinem Ziel keinen Schritt näher. Ich nahm das Foto wieder ab und es wurde langsam besser.“
Heute weiß Kahn, welche Schiene man im Konkurrenzkampf fahren muss: Es gilt das Registrieren-Ignorieren-Prinzip. Einige Seiten später erweist sich Kahn als pfiffig, indem er dem Abschnitt über Provokationen eine tatsächliche Aufreizung beifügt, um gleich auf Herz und Nieren zu überprüfen, ob die Ratschläge an seine Leser auf fruchtbaren Boden gefallen sind. Der Mann hat Humor!
Interessanterweise geht es erst im Kapitel „Scheitern“ wieder um den Zwist ums deutsche WM-Tor: Frei von der Leber weg erzählt Kahn wie schwer der Druck damals auf ihm lastete. Und wo Kahn nicht mit eigens Erlebtem punkten kann, schnappt er sich jemanden, anhand dessen er eine Situation erklären kann. Der gebürtige Karlsruher zitiert Horace Engdahl, den ständigen Sekretär der Schwedischen Akademie: Es sei eine große Aufgabe, Menschen das Verlieren zu lehren. Kahn ergänzt: „Wir wären also dumm, die Niederlage nicht genau zu analysieren. Ich halte mich dabei allerdings nie damit auf, „die richtigen Schlüsse“ zu ziehen. Ich ziehe „meine individuellen Schlüsse“ daraus.“
Der Erfolg ist ein Hund
Im zehnten Kapitel kommt Kahn nun endlich zu jenem „Kleinod“, das den Titel dieser „Leistungs-Alchemie-Anleitung“ bildet: Erfolg. Er versucht in den letzten Zeilen, die Frage zu klären, was man machen soll, wenn das Zielband durchlaufen ist und der „Gedankenchor“ „We are the champions“ anstimmt: „Das Wichtigste am Erfolg ist die Klärung der Frage, warum ich den Erfolg haben wollte.“, meint er. Für einen gewissen Hansi Hölzel aus Wien-Margarethen kommt dieser Ratschlag viel zu spät. Auch Kahn selbst hat es zunächst nicht richtig gemacht und musste bitter für seinen Triumph büßen: „Ich hatte einen Preis bezahlt. Den Preis für mein Tunnelleben. Den Preis für meine Besessenheit. Es war das komplette Burnout. Körper ausgepumpt, Geist leer.“ Die nachfolgenden Beschreibungen laufen nüchtern ab, dennoch lichtet sich das Bild immer mehr: Oliver Kahn, der personifizierte Ehrgeiz, das Alpha-Männchen mit der Körpersprache eines aggressiven Primaten, so haben ihn Medien und Fans gerne dargestellt, in Wirklichkeit ist auch er „nur“ ein Mensch, der Übermenschliches leisten wollte und danach vollkommen erledigt war.
Der Inhalt des gesamten Buches klingt nach tibetanischer Ein-mal-Eins-Philosophie oder altbackenen großmütterlichen Ratschlägen à la „Man muss nur Geduld haben, dann klappt alles.“ Trotzdem entdeckt man sich in Kahns „Erfolgsrezepte“ leicht wieder, seine Thesen sind logisch und geschmackvoll mit Erlebnissen aus seiner Sportlerkarriere sowohl garniert als auch untermauert. Der Ex-Keeper hat (seinen) Weg zum Erfolg in zehn Aspekte gegliedert. Er betont, dass es sich um einen Kreislauf und nicht um ein Rezept mit „Geld-zurück-Garantie“ handelt: „Denn wir lernen ja ständig dazu. Jedes Mal betrachten wir dabei einen der Aspekte aus einer neuen Perspektive. Und jedes Mal ergibt sich ein neues Bild, eine neue Sichtweise, eine neue Erkenntnis. Und jedes Mal folgt danach ein neuer Start.“
Der Autor beschließt sein Buch mit der einzigen, kitschigen Geschichte des Ratgebers: „Plötzlich weiß ich, dass ich etwas gelernt habe. Ich stehe zwischen den Spielern, gehe langsam los, dort hinüber. Jetzt bin ich da, stehe direkt hinter ihm, ich kniee mich zu ihm in den Rasen. Und gebe unserem Torwart die Hand.“, so beschreibt er den denkwürdigen Handschlag mit Rivale Lehmann vor dem WM-06-Elfmeterschießen gegen Argentinien. Dieser Kitsch und Kahns philosophische „Wikipedia-Quickies“ sind die einzigen Kritikpunkte an „Ich“, das ansonsten eine anregende Lektüre, die den einen oder anderen bestimmt auf die Siegerstraße bringen kann, darstellt.
Marie Samstag, abseits.at
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