Stefan Kießling und die Nationalmannschaft (3): Weshalb gibt es keinen Plan B?
Deutschland 20.November.2013 Rene Maric 3
Das Thema „Kießling und die deutsche Nationalmannschaft“ ist eines der am öftesten und heiß diskutiertesten Themen. Nahezu jeder Experte oder Prominente im Bereich Sport, der in Deutschland was auf sich hält, hat bereits seine Meinung zu diesem Thema kundgetan. Vielen mangelt es dabei an einer stringenten Argumentation, wo konstruktiv und mit rational stichhaltigen Aspekten diskutiert wird. Manche andere haben sich aber auch näher an die Materie gewagt und mit objektiveren Analysen die Für und Wider besprochen, wie zum Beispiel Kollege Tobias Escher bei Spielverlagerung.
Im dritten Teil geht es um:
Die eigentliche Kernfrage: Wieso dieser Plan A und wieso (k)ein anderer Plan B?
Gerechtfertigt ist natürlich die Frage, wieso Jogi Löw sich anscheinend für diese Spielweise und kategorisch gegen Kießling entschieden hat. Wäre Kießling nicht eine tolle Kaderalternative, wenn auf Konter gespielt werden soll? Dabei müssen aber die Charakteristika betrachtet werden, welche seine Mitspieler mitbringen; insbesondere die Flügelstürmer, die Außenverteidiger und Löws Lieblingsschlüsselspieler Mesut Özil.
Bei der DFB-Elf rücken die Flügelstürmer sehr oft in den Strafraum. Sie gehen nicht um diesen herum in den Zwischenlinienraum oder machen das nur bei Kontern, sondern auch in Ballbesitz, wo die Flügelstürmer sehr oft eingerückt im Strafraum agieren und als verkappte Mittelstürmer fungieren – ob Lukas Podolski, Thomas Müller oder auch André Schürrle und Marco Reus. Die Tore der Deutschen bei der WM 2010 fielen gegen England und Argentinien nach Kontern auch eher über schnelle Bewegungen von Özil, einrückende Läufe von Podolski und Müller, als über einen langen Ball auf den Mittelstürmer.
Diesen einrückenden Stürmern müssen Räume geöffnet werden, was insbesondere in dynamischen Situationen Klose besonders gut kann, während Kießling sich im Konterspiel über andere Aktionen definiert. Gleichzeitig agieren die Außenverteidiger in der DFB-Elf deutlich anders als jene von Bayer Leverkusen. Wirklich konstant gut flanken nach dynamischen Läufen kann eigentlich kein einziger deutscher Außenverteidiger, der zur Verfügung steht – von Flügelstürmern gar nicht zu reden.
Spieler wie Marcel Schmelzer, Benedikt Höwedes und Jerome Boateng sind keine konstant guten Flankengeber. Bei Schmelzer fehlt es an der Technik dafür, bei letzteren Beiden ist das Problem die Dynamik bei Läufen zur Grundlinie und das Mischen mit den Flanken. Marcell Jansen entspräche am ehesten diesem Profil, obgleich auch er weit vom Flankengott früherer Jahre, Manni Kaltz, entfernt ist. Philipp Lahm könnte diese Rolle wahrscheinlich ansatzweise zufriedenstellend, allerdings würde sie seinem Spielercharakter nicht entgegenkommen und seine enormen Qualitäten wären unglaublich schlecht eingesetzt.
Auch wegen den Flügelstürmern, den Außenverteidigern und Mesut Özils ausweichenden Läufen ist die Alternative für Klose, sollte dieser nicht fit sein, vermutlich eher ein noch „mitspielenderer“ Stürmer und kein Wandspieler à la Kießling oder auch kein Gomez.
Nach Löw’schem Selbstverständnis gibt es keine Mannschaft gegen die sich Deutschland an der Leverkusener Konterspielweise anpassen müsse oder es überhaupt effektiv auf dem hohen Niveau, wo dies erforderlich wäre, tun könnte. Steht Deutschland im tiefen Mittelfeldpressing, dann ist Klose vermutlich theoretisch die beste Variante. Wäre Deutschland hinten, dann stellt sich der Gegner im Normalfall ohnehin tiefer rein oder lässt den Ball tief zirkulieren. Bei Letzterem wird im besten Fall ein enorm dynamischer Stürmer eingesetzt, der mit vielen Sprints Druck machen kann – Typ Müller, Kruse, Reus.
Steht der Gegner aber tief und enorm kompakt ohne Ballbesitzfokus, dann ist es eher eine spielphilosophische Frage.
Bringt Kießling mit seiner Luftstärke einen größeren Mehrwert zu Klose, wenn verstärkt geflankt werden soll? Bringen diese verstärkten Flanken überhaupt einen größeren Mehrwert? Löw scheint nämlich eher zur Lösung zu tendieren, dass diese Enge mit Spielern aufgelöst werden soll, die sich in engen Räumen bewegen oder diese engen Räume erweitern können. Ersteres spräche dann für den Typus Götze, Reus oder Kruse, Letzteres am ehesten noch für Klose – und weder für Kießling noch für Gomez.
Sollte wirklich auf massives Fokussieren von Flanken umgestellt werden, dann muss auch überlegt werden, wie diese effektiv umgesetzt werden können. Wer bringt die Flanken? Müssen dann auch die Flügelstürmer oder die Außenverteidiger ausgetauscht werden? Und haben Flanken, selbst bei sehr guter Ausführung, eine ähnlich hohe Erfolgsquote wie Angriffe aus dem Spiel heraus bei sehr guter Ausführung? Und welche dieser Spielweise kann man auf sehr gutem Niveau vom Kader her gesehen eher erfüllen?
Die Frage nach Kießling ist im Endeffekt also keine wirkliche Frage nach einem Leistungsvergleich zwischen den Spielern, sondern eher eine Mischung aus Widerspruch zur strategischen Ausrichtung der Löw-Philosophie, den kollektiven Rahmenbedingungen und dem klassischen medialen Gekreische nach dem aktuell formstärksten Stürmer als Spieler bei einer WM, die erst in einem Jahr stattfindet.
Wenn über Kießlings Nichtnominierung gestritten wird, dann sollte eigentlich zuerst die Grundsatzfrage geklärt werden. Die Diskussion sollte nicht sein, ob Kießlings Leistungen gut genug sind, sondern wieso denn Kießling als Spielertypus in die Nationalmannschaft muss.
Möchte man die strategische Komponente der Mannschaft verändert sehen? Dann ist eine Diskussion durchaus möglich, konstruktiv und interessant, sollte aber nicht an den Namen der Stürmer hängen bleiben. Die Diskussion sollte sich um die kollektiven Rahmenbedingungen der Mannschaft innerhalb der jeweiligen komplexen Spielausrichtung drehen, in der die Namen der Stürmer nur zwei oder drei von mindestens zwanzig sind.
Natürlich würde sich Kießling rein leistungstechnisch in den vergangenen Jahren, wo er sich spielerisch und durchaus auch taktisch enorm verbessert hat, eine Nominierung verdienen. Natürlich könnte er in bestimmten Situationen der Mannschaft einen gewissen Mehrwert geben und für spezielle Veränderungen beim Spielrhythmus, Ergebnissen oder spezifischen Begebenheiten sorgen. Und natürlich stehen über Form und Fitnesszustand der Konkurrenten Klose und Gomez zumindest aktuell große Fragenzeichen.
Aber die Selbstverständlichkeit dieser Faktoren als gegeben hinzunehmen und daraus eine absolute Diskussion über ein komplexes Mannschaftsspiel und zusätzlich zeitlich fernliegendes Turnier zu führen, vereinfacht den Fußball zu sehr. Problematisch ist das zwar prinzipiell nicht, wird es aber, wenn zu vehement und einseitig gewisse Sachen gefordert werden. Sie werten den Fußball ab – anstatt eine komplexe Diskussion mit der nötigen Detailliebe zu führen und der Entscheidung wie den Konsequenzen harren.
Diese könnten dann auch zu kreativen Ideen und Schlussfolgerungen führen. Beim Diskussionspunkt von Kießlings eventuell benötigter Kopfballstärke in Endphasen von Spielen mit knappem Rückstand könnte über den Nutzen, die Häufigkeit und Erfolgsrate von Standards generell, über die Kopfballstärke des deutschen Kollektivs spezifisch (mit möglichen effektiven Freilaufbewegungen und den nötigen Staffelungen zur Absicherung hypothetisch) oder anderen effektiven Ausführungsmethoden theoretisch diskutiert werden.
Selten liest man in den Medien beispielsweise davon, dass Ecken im Schnitt nur in 2% der Fälle zu Torerfolgen führen und gleichzeitig in ähnlicher Quote aber erfolgreiche Konter des Gegners zulassen. Selbst in der absoluten Leistungsspitze sind die Quoten nicht allzu hoch: Manchester United stellte in der Saison 2012/13 beispielsweise den Bestwert in der Premier League auf, als sie 6,88% ihrer Ecken verwerteten. 7 von 100 also. Ergo würde die deutsche Nationalelf bei dieser Rekordquote ungefähr 14 Ecken in der Schlussphase benötigen, um ein Tor zu erzielen. Selbst die Leverkusener mit Kießling haben in der letzten Saison „nur“ zehn Tore aus 183 Versuchen erzielt – 5,46%.
Statistisch gesehen sind kurze Ecken stabiler und erfolgreicher – wieso wird darüber nicht diskutiert? Weil es nicht in das Diskussionsschema passt? Schade, dass dies im Großteil der Medienwelt so gemacht wird. Man könnte stattdessen analysieren, wieso welche Ecken gefährlich werden und ob kurze Ecken trotz der Verteufelung dieser Variante am Stammtisch nicht doch effektiver sind…
René Maric, www.abseits.at
Nachtrag: Wer diese Argumentation nicht glaubt oder sich generell für das Thema und Zahlen interessiert, dem empfehle ich folgende Links:
Why the Goal Value of Corners Is (Almost) Nil: Evidence From the EPL
Corners Part 1: Goals For and Against
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