Wenig Ballbesitz, wenige Pässe: Die Gründe warum Bayer Leverkusen sich trotzdem als deutsches Topteam etablierte
DeutschlandTaktik & Theorie 5.November.2013 Tobias Robl 0
Neben den beiden Topteams Bayern München und Borussia Dortmund, ist Bayer Leverkusen die Mannschaft der Stunde in der deutschen Bundesliga. Mit 25 Punkten aus elf Spielen liegen sie drei Punkte hinter Dortmund, vier hinter den Bayern und haben schon jetzt sechs Punkte Vorsprung auf Platz vier – dazu kommen sechs Punkte aus drei Spielen in der Champions League. Einzig die 0:1-Niederlage gegen Eintracht Braunschweig in der vergangenen Runde war als kleiner Dämpfer zu werten. Grund genug sich einmal die Spielweise der Mannschaft von Sami Hyypiä genauer anzusehen.
Schaut man sich die Leistungsdaten der „Werkself“ an, wird nicht direkt ersichtlich, warum diese Mannschaft eigentlich so erfolgreich ist: In der Bundesliga hat sie einen durchschnittlichen Ballbesitz von nur 45%, spielt pro Spiel 300 Pässe, davon 20% lang und hat dabei eine passable Passgenauigkeit von 80%. Keine schlechten Werte, aber im Vergleich mit Bayern (71% Ballbesitz, 640 Pässe davon 12% lang und 90% Passgenauigkeit) deutlich abfallend. Ausschlaggebend für diese Werteverteilung ist der Fokus der Leverkusener auf das schnelle und riskante Umschaltspiel, doch alles der Reihe nach.
Leverkusen gegen den Ball
Bayer Leverkusen spielt gegen den Ball eine Mischform aus 4-5-1 und 4-3-3, wobei in der Bundesliga meistens ein klares 4-3-3 zum Einsatz kommt. Die Leverkusener spielen dabei ein „normalhohes“ Mittelfeldpressing, mit einem geringen Abstand zwischen den ersten beiden Linien, mit dem sie versuchen den Gegner aus zentralen Räumen herauszuhalten. Die Hauptarbeit dabei kommt der Sturmreihe um Mittelstürmer Kießling und den beiden Flügelspielern Sam und Son zu, die den Gegner immer wieder anlaufen und in die Halbräume abdrängen, wo sie dann situativ Mannorientierungen herstellen. Dabei werden sie meist von einem der beiden Achter unterstützt, der Anspielstationen des Gegner nach vorne ebenfalls mannorientiert zustellt, bzw. eine lose Mannorientierung eingeht, sodass der Gegner zum langen Ball gezwungen wird.
Dabei ist das Pressing der Leverkusener vom Grundprinzip eher leitend und es wird situativ zugeschlagen. So kann Leverkusen viele Bälle erobern, ohne wirklich an Kompaktheit zu verlieren, auch wenn die erste Linie überspielt worden ist, weil es immer noch drei zentrale Mittelfeldspieler vor der Abwehr gibt.
Leverkusen mit dem Ball
Im Aufbauspiel fallen sofort die extrem hohen Außenverteidiger auf, die fast immer in die vorderste Reihe nach vorne schieben und dem Spiel dort Breite geben, oder sich zumindest so positionieren, dass sie das in kurzer Zeit und mit wenig Laufarbeit bewerkstelligen können.
Durch die hohe Position der Außenverteidiger werden die Flügelspieler von ihrer Aufgabe befreit, dem Spiel Breite zu geben und sie können sich stark in die Mitte orientieren. Dabei stehen sie sehr eng zusammen und relativ lang auf einer Höhe um dem Spiel Tiefe zu geben. Im weiteren Angriffsverlauf lässt sich dann immer wieder einer der Stürmer in den Zwischenlinienraum fallen, die anderen beiden verhindern mit ihrer hohen Position ein Herausrücken der Innenverteidiger. So kommen vor allem Son und Sam immer wieder in spieloffene Positionen vor der Abwehr. Dass Son und Sam zurückfallen, geschieht meist dann, wenn der Ball sich im Halbraum befindet. Befindet er sich am Flügel, und es besteht die Möglichkeit, dass eine Flanke hereingespielt werden kann, dann lässt sich Kießling leicht fallen, um später mit vollem Tempo in den Ball gehen zu können. Bayer hat in seinen Spielen einen hohen Flankenfokus und die Außenverteidiger sind immer wieder frei, weil die gegnerische Viererkette sehr eng spielen muss, um die drei Stürmer aufzunehmen. So ergeben sich immer wieder Freiräume am Flügel.
Um die hohe Positionierung der Außenverteidiger (zumeist Boenisch und Donati)abzusichern und das Spiel nach vorne zu tragen, fallen die beiden Achter Can und Castro im Spielaufbau in die Halbräume zurück. Dabei kippt Castro nach links und geht tiefer als Can, wohingegen dieser nur minimal auf der rechten Seite nach außen kippt und etwas nach vorne schiebt. Die Gründe dafür sind wohl, dass durch das Abkippen Castros der linke Innenverteidiger Spahic, der in der Spieleröffnung einige Mängel hat, entlastet wird. Auf der rechten Innenverteidigerposition gibt es mit Wollscheid und Toprak zwei Spieler, die diese Probleme nicht haben.
Bedingt durch das Abkippen der Achter eröffnet Bayer fast jeden Angriff über die Halbräume, auch weil mit Rolfes, dem Sechser der Mannschaft, nur noch eine Anspielstation im Zentrum zur Verfügung steht. Die Fixierung der Spieleröffnung über die Außen zwingt Bayer oft mit langen Bällen zu spielen, was diese aber auch bewusst tun, weil am Flügel mit den Außenverteidigern und den eigentlichen Flügelspielern, die aus einer eingerückten Positionen agieren, Überzahlsituationen entstehen. So können die Leverkusener auch immer wieder Situationen erzeugen bei denen sie zweite Bälle erobern und gut ins Umschalten kommen.
Eine entscheidende Bedeutung bei der Spieleröffnung kommt den Achtern zu. Sie bewegen sich, wie bereits erwähnt, zuerst nach hinten um das Spiel nach vorne zu tragen und schieben dann in die Halbräume auf Höhe der Mittellinie und darüber hinaus nach. Sie werden sich in der Regel so positionieren, dass sie genügend Abstand zu Situation haben, um als sichere Anspielstation zu dienen über die das Spiel verlagert werden kann, um Pressingsituationen des Gegners zu entgehen.
Außerdem kommt ihnen die Aufgabe zu, dem Spiel die Balance zu geben. Eventuell können sie selbst noch mit auf zweite Bälle gehen, generell sind sie aber im defensiven Umschaltmoment gefordert, da sie für den Fall, dass der Kampf um den zweiten Ball verloren geht, oder es sonst irgendeinen Ballverlust gibt, die ersten Spieler sind, die sich dem Gegner entgegenstellen. Dabei haben sie die Möglichkeit den Gegner anzugreifen, was sie aber in der Regel nur dann tun werden, wenn sich der Ball sicher gewinnen lässt, oder es unbedingt notwendig ist, weil z.B. durch einen einfachen Schnittstellenpass eine Großchance entstehen kann. Ansonsten werden sie versuchen das Spiel zu lenken. Entweder nach außen, wenn es darum geht das Spiel zu verlangsamen, oder nach innen, wenn die Möglichkeit besteht, dass der ballführende Gegner im Verbund, vor allem mit Rolfes, gedoppelt werden kann.
Der offensive Leverkusener Umschaltmoment
Ein wichtiger Bestandteil des Leverkusener Angriffsspiels ist der offensive Umschaltmoment. Zwar haben sie nur 5 der 22 bisher erzielten Tore, aus klaren Kontern erzielt, aber sie schaffen es immer wieder schnell und viel Raum zu überbrücken und den Ball danach vorne auch zu halten.
Dabei nutzen sie fast jeden Umschaltmoment aus und spielen viele erste Bälle vertikal nach vorne. Um das zu ermöglichen stehen sie schon bei gegnerischem Ballbesitz so, dass sie für den Fall einer Balleroberung schnell kombinieren können. Stefan Kießling gibt dem Spiel die Tiefe und beteiligt sich nicht mehr an der Abwehrarbeit, sobald er überspielt ist, der ballferne Flügelspieler positioniert sich schon etwas höher im Halbraum und zwar so, dass er gegebenenfalls noch defensiv mitwirken kann. Damit hat Leverkusen schon einmal zwei Spieler, die sofort angespielt werden können, der Flügelspieler sogar „spieloffen“.
Die Konter werden ebenfalls gut durch die beiden Achter unterstützt, die ja nur bei längeren Ballbesitzphasen nach hinten fallen und formationsbedingt kurze Wege nach vorne haben. Das ermöglicht wiederum den Flügelspielern viel in Dribblings zu gehen, oder Stefan Kießling sich durch horizontale Bewegungen für Schnittstellenpässe anzubieten. Dadurch wird zwar die Struktur des Angriffs zerstört, aber der Raum vor der Kette bleibt frei und in diesem können dann die Achter angespielt werden.
Fazit
Wenn man die angesprochenen Punkte berücksichtigt, werden die Leistungsdaten der Leverkusener in ein anderes Licht gerückt. Ein Spiel, das viel auf den Umschaltmoment und das Erobern zweiter Bälle ausgelegt ist, fordert nun einmal viele lange Bälle, die teilweise riskant sind, und daher häufiger verloren gehen, als kurze Pässe.
Die Tatsache, dass das Pressing der Leverkusener relativ leitend ist und der Umstand, dass der Gegner den Ball in für das Konterspiel sinnvollen Räumen verlieren muss, erklärt außerdem den geringen Ballbesitzwert.
Tobias Robl, abseits.at
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Tobias Robl
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