Wiederholung in Zeitlupe (9) – Der irre Sprint zum Pokalsieg (KW 20)
Deutschland 23.Mai.2021 Marie Samstag
Jeden Sonntag wollen wir in dieser neuen Serie einen Blick in die Vergangenheit werfen: Wir spielen sozusagen einen Zuckerpass in den Rückraum und widmen uns kurz und bündig legendären Toren, Spielen, Fußballpersönlichkeiten, Ereignissen auf oder neben dem Platz und vielem mehr. Wir wollen Momente, Begebenheiten, Biografien – im Stile von Zeitlupenwiederholungen aus dem TV nochmals Revue passieren lassen. Gedanken machen wir uns dabei über Vergangenes, das in der abgelaufenen Kalenderwoche stattgefunden hat. Heute erinnern wir an den 17. Mai 2014, exakt 22:31 Uhr, und an Thomas Müllers Tor, das dem FC Bayern München damals den deutschen Pokal einbrachte…
Müller, Maschine, Mentalität.
„Ich kann mich noch genau daran erinnern: Diese Distanz. Das war so lang.“, analysierte der Finaltorschütze fünf Jahre nach seinem legendären Treffer eines seiner emotionalsten Tore. Müller war nach 122 Minuten im Endspiel um den Deutschen Pokal 2014 – wie auch der Rest der Bayern – ausgebrannt und erledigt, doch als der eingewechselte Pizarro kurz nach der Mittelauflage den Ball geschickt durchsteckte, gab es für den Offensivallrounder nur eines: Laufen und zwar so schnell wie möglich. Der drahtige Oberbayer konnte von Marcel Schmelzer nicht mehr gestoppt werden, umkurvte Roman Weidenfeller und schob zum erlösenden Tor ein. Der Jubel danach kannte nicht nur bei der Nummer 25 des FC Bayern keine Grenzen: Die Münchner hatten das Double 2013/14 geholt.
Der Treffer scheint ein typischer „Müller“ zu sein, ein lucky punch oder etwa doch nicht? Der mittlerweile 31-jährige ist ein unorthodoxer und oft unterschätzter Fußballprofi. Seine Erfolge sprechen jedenfalls für sich: Der Stürmer ist Weltmeister, zweifacher Champions-League-Sieger, zehnfacher Deutscher Meister, sechsfacher Pokalsieger. Er war nicht nur dabei, sondern mittendrin, hat wettbewerbsübergreifend über 200 Tore erzielt und wurde dafür auch individuell ausgezeichnet.
Müller kickt seit 2000 für die „Roten“ aus München. Seine Spezialität: Tore. Sein Erfolgsrezept: „Müllern“. 2012 erklärte der gebürtige Oberbayer freimütig, er könne einfach keine Tricks und müsse insbesondere junge Fans bei Meet-and-greets oft enttäuschen: „Die wollen dann immer irgendwelche Zaubereien sehen, Ball hochhalten, viermal um die eigene Achse und so was. Aber das war noch nie mein Fachgebiet.“ Müller ist eine Art Anomalie im Profifußball: Kein Supertechniker, kein Kopfballungeheuer, kein Modellathlet und trotzdem Stammspieler bei einem der besten Vereine der Welt. Böse Zungen nennen ihn „Holzfuß“, er sei überschätzt und „nudle“ seine Bälle irgendwie ins Netz. Doch das stimmt nicht, dafür muss man sich nur ein Best-Of seiner Tore anschauen: Thomas Müller kann Weitschusstore erzielen, vollbringt einen Fallrückzieher in Bedrängnis oder schließt direkt mit dem Außenrist ab. Er ist keineswegs nur der Nutznießer von Abstaubern oder Stochereien, sonst hätte er sich nicht jahrelang im Haifischbecken des FC Bayern behauptet oder hätte nicht den goldenen und silbernen Schuh bei Weltmeisterschaftsendrunden gewonnen. Was ihn aber vor allem auszeichnet und von anderen Kickern unterscheidet, sind seine Qualitäten im Kopf: Müller antizipiert gut, erkennt Räume, hat den Torriecher. Er ist ein klassischer Fußballer mit viel Übersicht und so auch ein hervorragender Vorbereiter.
Auch privat kultiviert der Stürmer sein Image vom Lausbuben mit Herz und Hirn: Müller hat immer einen flotten Spruch auf den Lippen, wirkt bodenständig, ehrgeizig, heimatverbunden, aber doch weltoffen. Er verkörpert seit Jahren das Gesicht des FC Bayern, gibt sich als verwurzelt, aber doch modern. Der Verein, weiß was er an ihm hat: Müller fällt nicht durch Nobelkarossen und bunte Kleidung auf, sondern zeigt lieber Fotos von seinen Hunden oder spielt bei Fanclubtreffen das bayerische Kartenspiel Schafkopf. Gemeinsam mit seiner Frau, die als Reiterin ebenfalls sehr erfolgreich ist, betreibt er südlich von München ein Gestüt und züchtet hochklassige Turnierpferde.
Zurück zum Pokalfinale 2014: Es war ein hart umkämpftes Spiel, in dem beide Teams unbedingt den Sieg wollten. Müllers erste Topchance vereitelte Schlussmann Weidenfeller mit dem Kopf, nach der Halbzeitpause scheiterte „die sprechende Lederhose“ nach einer Vorlage von Ribéry erneut am Dortmunder Keeper. In der 64. Minute gab der Schiedsrichter einen gültigen Treffer der Schwarz-Gelben nicht: Lewandowski verlängerte auf Hummels, dieser köpfte den Ball hinter die Linie, Dante drosch diesen jedoch ohne, dass die Kugel den Boden berührt hatte, weg. In der Verlängerung konnte Robben nach einer Boateng-Flanke glücklich den Führungstreffer für die Süddeutschen erzielen. Obwohl die Bayern statistisch überlegen waren und auch die besseren Chancen hatten, war der Käse noch nicht gegessen: Dortmund zeigte Mentalität und versuchte zu drücken, doch sie hatten die Rechnung ohne Thomas Müller und seinen Mini-Rest im Tank gemacht. In der Verlängerung der Verlängerung holte der Angreifer noch einmal alles aus sich heraus und machte nach einem Monster-Sprint den Deckel drauf. Während die Münchner jubelten, war die Enttäuschung bei Jürgen Klopp und seinen Spielern riesig. Da tröstete auch nicht, dass „Kloppo“ einen seiner legendärsten Sprüche bei der anschließenden Pressekonferenz vor laufender Kamera gebar: „Wenn der Spieler mit dem rechten Bein auf der Torlinie steht und mit dem linken Bein den Ball wegschlägt, dann müsste er – ja, keine Ahnung – einem Cirque de Soleil angehören um das machen zu können ohne, dass der Ball hinter der Torlinie war […]“, kommentierte der heutige Liverpool-Trainer das nicht-gegebene Tor von Hummels. Des einen Freud, des anderen Leid.
Marie Samstag, abseits.at
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