Am Samstag war es soweit: Die knapp sechsmonatige Abschiedstournee von Liverpools Captain Stevan Gerrard erlebte mit seinem finalen Auftritt an der Anfield Road den emotionalen Höhepunkt. Der endgültige Schlusspunkt einer außergewöhnlichen Karriere wird am Samstag gesetzt, wenn der 34-Jährige im Britannia Stadium in Stoke die Reds zum Letzten Mal aufs Feld führen wird. Den Fußballer samt seiner ganze YouTube-Filme füllenden Traumtore kennen die meisten Fußballinteressierten. Den Menschen der im Trikot mit der Nummer acht steckt, die Wenigsten.
Die ganze Geschichte nahm im schicksalsträchtigen Jahr 1989 ihren Anfang: Steven Gerrard heuerte damals in der Jugendakademie der Reds an. Sein Sandkastenfreud und Cousin Jon-Paul Gilhooley sollte es ihm gleich tun, gemeinsam wollten sie sich ihren Traum vom Liverpool-Profi erfüllen. Doch soweit kam es nicht mehr, der Zehnjährige wurde im überfüllten Fankäfig von Hillsborough regelrecht zerquetscht. Er war das jüngste von 96 Todesopfern.
So blieb es an Steven hängen, den geteilten Traum von der Karriere bei ihrem gemeinsamen Lieblingsklub alleine zu verwirklichen. Mehr noch, fühlte er sich trotz seines jungen Alters verantwortlich – wie er in seiner Biografie später schrieb – doppelt so hart für das Ziel zu arbeiten, um es schlussendlich auch für Jon-Paul zu erreichen. So führten ihn später als Profi die Fahrten zu seinem „Arbeitsplatz“ immer am Hillsborough-Mahnmal vorbei, wo er dann oft inne hielt und sich die Namen der 96 durchlas.
Der Lokalheld war in der Arbeiterstadt an der Merseyside verwurzelt, was sich auch in der Loyalität zu seinem Klub und seiner Heimatstadt wiederspiegelte. Mit Chelsea oder Real Madrid hätte er wohl das letzte fehlenden Mosaikstück in seiner Titelsammlung auf Klubebene holen können: Eine Meisterschaft. Doch hier gipfelte seine Loyalität, stellte der Champions-League-, UEFA- und FA-Cup-Sieger die Riesen-Chance zurück, eine große persönliche Karriere mit einer Meisterschale endgültig zu krönen. So versuchte er es immer und immer wieder mit seinem Herzensverein doch irgendwann den Titel an die windige Westküste Englands zu holen.
Seit 1990 lechzt man in der Beatles-Stadt nach dem 19. Titelgewinn. Im Vorjahr wäre es dann fast so weit gewesen, doch ausgerechnet der Kapitän selbst rutschte in Minute 45 als letzter Mann aus, servierte so Demba Ba und Chelsea die Führung und Manchester City die Meisterschaft am Silbertablett. Die Fans haben ihm sowieso längst verziehen, er sich selbst wohl eher nicht. Weil er schmerzlich realisierte, dass dies wohl die letzte Chance auf „seinen“ Meisterpokal war und sie ihm ausgerechnet am glitschigen Rasen vor dem Kop entglitt.
Vor etwa 16 Jahren, im Spätherbst 1998 begann die Profikarriere im roten Shirt. Die Sekunden vor seinem Meisterschaftsdebüt beschrieb er in seiner Biografie folgendermaßen: „Ich konnte die Skepsis in den Gesichtern der Leute sehen. Ich konnte hören wie sie fragten: Wer ist dieser kleine, dünne Typ? Hoffentlich kommt er nicht rein!“ Seinen ersten Einsatz in der Startelf beschrieb er als Albtraum, wurde er von Englands Spieler des Jahres David Ginola regelrecht schwindlig gespielt.
Von diesem holprigen Karrierestart erholte sich der Mittelfeldrackerer aber rasch und trumpfte schon früh groß auf. Doch der eher introvertierte, fast schon schüchterne Gerrard ist weniger als Taktgeber im Zentrum geeignet, weil es für ihn eigentlich nur ein Tempo gibt – Vollgas. So erlebte er seine erfolgreichsten Jahre – nicht ganz zufällig – mit Xabi Alonso an seiner Seite. Der Spanier dirigierte mit dem Spanier das Spiel der Reds, während sich der Kapitän mit seinen Vorlieben austoben konnte: Tacklings, Weitschüsse und Pressing-Vorstöße. Dieser Spielertyp fehlte ihm später sowohl bei Liverpool, als auch im Nationalteam, wo er nur selten an die Leistungen im Verein anschließen konnte.
Auch wenn es vielleicht einige Hardcore-Reds-Fans nicht wahrhaben wollen, aber selbst SG8 ist nicht göttlich, sondern schlussendlich nur menschlich. „Gefangen“ in einem Körper der nach 34 Geburtstagen seine Pausen braucht. Der sich auch nicht mehr immer so schnell Richtung Ball bewegen kann, wie es der erfahrene Fußballverstand es ihm eigentlich vorgibt. Wo dann die Sprints langsamer werden, die Tacklings schlechter getimter und der Gegenspieler immer öfter spritziger ist. So erlebte der Skipper in den letzten Monaten die wahrscheinlich bitterste Phase einer Fußballkarriere, die alle begabten Kicker durchleben mussten: Dann wenn man realisiert, dass die Zeit anbricht, in der aus einem großen Fußballer ein Ex-Star wird. Aus dem Leader eine Legende!
Natürlich war auch seinem Coach Brendan Rodgers diese Entwicklung bewusst. Im Dezember wurde dann gemeinsam seine Zukunft besprochen. Wobei der nur acht Jahre ältere Coach mit offenen Karten spielte und Klartext redete. Seine neue, angedachte Rolle im Verein fortan: Zwar weiterhin der Führungsspieler in der Kabine, aber nur mehr eine Nebenrolle am Platz. Dann wenn Not am Mann ist oder spielbedingt die neuen jungen Wilden einen Leitwolf brauchen, sollte er einspringen.
So stand der Skipper vor der schwierigsten Entscheidung seiner Karriere: Should I stay or should I go? Auch zum Wohle seiner Liebe, dem FC Liverpool fasste er schließlich den Entschluss zu gehen. So wollte er der Entwicklung des neuen laufintensiven, temporeichen Spielstils nicht im Wege stehen. Wohl aber auch im eigenen Sinne! Der Kop mit seinen Fans sollte ihren Liebling in Frische und mit Power in Erinnerung behalten, statt als dahinsiechender Altstar.
Am 2. Jänner war es dann soweit. Die Pressekonferenz fiel ihm sichtlich schwer, mit gebrochener Stimme und feuchten Augen verkündete er den Abschied zum Saisonende, nach 26 Jahren bei „seinem“ Klub. Die Fans sprachen in Fanforen aus, wofür sich der Offensivstratege wohl auch insgeheim am meisten fürchtete: Was passiert jetzt mit dem FC Liverpool? Wer verkörpert zukünftig diesen Verein, drückt ihm seinen Stempel, sein Image auf? Ein Balotelli? Bestimmt nicht! Ein Raheem Sterling der den Verein gerade mit unverschämten Gehaltsvorstellungen erpresst? Wohl auch nicht! Wer verkörpert nun den Shankly-Spirit – wenn der berühmteste Sohn der Stadt seit den Beatles, dann nach Los Angeles übersiedelt?
Geht die große Geschichte eines stolzen Vereins mit dem Abschied (der Demontage?) ihrer letzten Legende jetzt endgültig zu Ende? Wofür steht der Verein noch, wenn mittlerweile sogar schon der offizielle Liverpool-Donut werbewirksam verhökert wird? Die Wandlung vom Traditionsklub zum Marketingobjekt kann auch ein Steven Gerrard nicht aufhalten. Der Vorstand des Klubs, der es beim letzten Heimspiel ihres wohl größten und loyalsten Spielers nicht der Mühe wert findet im Stadion zu sein und stattdessen im Rampenlicht der Abschiedsshow marketingwirksam die neuen Trikots präsentieren lässt? Der rote Teil Liverpools ist besorgt, wenn ihr Lokalheld, einer von ihnen, den Klub nicht mehr (mit)gestalten kann. Mit 1. Juli wird nämlich Steven George Gerrard dann erstmals seit 26 Jahren kein Liverpool-Spieler mehr sein, sondern für LA Galaxy unter Vertrag stehen.
Werner Sonnleitner, abseits.at
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