Jeden Sonntag wollen wir in dieser Serie Spieler beleuchten, die ungewöhnliche Wege eingeschlagen haben. Wir möchten Geschichten von Sportlern erzählen, deren Karriere entweder im... (Wo)Men to (re)watch (50) – Lily Parr (KW 50)

Jeden Sonntag wollen wir in dieser Serie Spieler beleuchten, die ungewöhnliche Wege eingeschlagen haben. Wir möchten Geschichten von Sportlern erzählen, deren Karriere entweder im Konjunktiv stecken blieb, die sich zu einem gegebenen Zeitpunkt radikal verändert haben oder sonst außergewöhnlich waren und sind: Sei es, dass sie sich nach dem Fußball für ein völlig anderes Leben entschieden haben, schon während ihre Profizeit nicht dem gängigen Kickerklischee entsprachen oder aus unterschiedlichen Gründen ihr Potenzial nicht ausschöpften. Auf jeden Fall wollen wir über (Ex)-Fußballer reden, die es sich lohnt auf dem Radar zu haben oder diese (wieder) in den Fokus rücken. Wir analysieren die Umstände, stellen Fragen und regen zum Nachdenken an: In der fünfzigsten Ausgabe porträtieren wir Lily Parr, die als Stürmerin zwischen 900 und 1000 Tore erzielt haben soll…

Eine ovale, himmelblaue Plakette an einem Backsteinbau in Preston, Nord-West-England, erinnert heute an die „Dick, Kerr Ladies“, die in diesem Gebäude im Dezember 1917 gegründet wurden. Als „Pioneers of women’s football“ ist das Fußballteam auf dieser Blechtafel ausgewiesen, doch der breiten Öffentlichkeit sind die kickenden Frauen unbekannt. Dieses undankbare Schicksal teilt auch ihr größter Star, die torgefährliche Flügelstürmerin Lilian „Lily“ Parr, die als Teenager kurz nach dem Ersten Weltkrieg zur Lokalberühmtheit aufstieg und danach wieder vergessen wurde. Erst in den 2000ern entdeckte man Parr wieder, honorierte ihre Wegbereiterinnenrolle mit einer Statue im National Football Museum in Manchester und einem Gedenkturnier. Es sind schwache Erinnerungen an eine starke Frau.

Ladies am Ball

Ausgerechnet ihr größter Erfolg sollte Parr und ihren Mitspielerinnen zum Verhängnis werden: 53.000 Zuschauer:innen wohnten am 26. Dezember 1920 dem Spiel der Dick, Kerr Ladies gegen die St. Helens Ladies im Liverpooler Goodison Park, wo sonst der FC Everton seine Heimspiele austrägt, bei. 10.000 weitere mussten aus Platzgründen weggeschickt werden. Der englische Verband sah sich gezwungen zu reagieren, schließlich sollte frau nicht auf den Gedanken kommen in Männerdomänen zu reüssieren: Der Erste Weltkrieg war vorbei, die Herren der Schöpfung drängten ‑ körperlich und geistig versehrt – sowohl zurück an ihre Arbeitsplätze und als auch auf die Fußballfelder. Konkurrenz durch erfolgreiche Frauenfußballteams wollte die FA nicht tolerieren. Professioneller oder wohltätiger Frauenfußball wurde somit zwei Jahre später verboten, offiziell natürlich – so das übliche Feigenblatt – weil er die weibliche Gesundheit beeinträchtige.

Die Dick, Kerr Ladies ließen sich davon zunächst nicht entmutigen und gingen auf eine ausgedehnte Tournee, die sie nach Kanada und in die Vereinigten Staaten, wo sie gegen Herrenmannschaften antraten, führte. Parrs Hoffnungen zurück in England an die einst erfolgreichen Stunden des – zufällig geborenen – Frauenfußballs anschließen zu können, erfüllten sich nicht: Die FA blieb bei ihrem Verbot. Lily stürmte zwar weiterhin für ihr Team, das sich in „Preston Ladies“ umbenannt hatte. Gekickt wurde allerdings auf miesen Plätzen, ohne großes Zuschauerinteresse und nur zum Spaß. Parr begann eine Ausbildung als psychiatrische Krankenschwester und arbeitete bis zu ihrer Pensionierung im Whittingham Mental Hospital. Kaum einer ihrer Patienten wusste, dass die großgewachsene Frau in der Schwestertracht eigentlich eine Wunderstürmerin mit Pferdeschuss war.

Geboren wurde die Fußballerin am 26. April 1905 an der englischen Merseyside. Dort, wo Handelsschiffe aus aller Welt anlegten, wuchs Lily als viertes von sieben Kindern einer Arbeiterfamilie auf. Ihr Vater war Glaser, die Verhältnisse einfach. Lily wurde schon früh von ihren älteren Brüdern zum Fußball- und Rugbyspielen animiert. Zum Entsetzen ihrer Mutter zeigte das wilde und großgewachsene Mädchen kein Interesse an hausfraulichen Tätigkeiten wie Kochen oder Nähen. Lily sollte auf 1,81 Meter heranwachsen und entwickelte einen Bombenschuss. Der schottische Fußballer Bob Walker bezeichnet sie als das größte Talent, das er je gesehen hatte.

Zu dieser Zeit tobte in Europa der Erste Weltkrieg. Während die britischen Männer (vermeintlich) für König und Vaterland zu den Waffen gerufen wurden, wurden die Frauen an der sogenannten Heimatfront eingesetzt: Munitionsfabriken hatten Personalbedarf. Eine dieser Firmen war „Dick, Kerr & Co.“ in Preston, ein Unternehmen, das ursprünglich für den Lokomotiv- bzw. Straßenbahnbau gegründet worden war. In den Büros von „Dick, Kerr & Co.“ arbeitete Alfred Frankland. Als Frankland von seinem Dienstzimmer aus, die Fabriksarbeiterinnen beim Fußballspielen in den Pausen beobachte, kam ihm eine Idee: Er bestärkte eine der Damen dahingehend ein Team für Juxspiele zu Wohltätigkeitszwecken zu gründen: Die Geburtsstunde der „Dick, Kerr Ladies“.

Am 25. Dezember 1917 spielten Dick, Kerr Ladies erstmals zugunsten von verwundeten Soldaten, Frankland fungierte dabei als Trainer. Die Nachfrage nach Vergnügen, die Lust auf Matches im Mutterland des modernen Fußballs war so groß, dass viele Fabriken damals Fußballerinnenteams gründeten. Ohne es zu beabsichtigen hatten der Krieg und das Elend danach einen Frauenfußballboom ausgelöst, Charitymatches wurden zu gesellschaftlichen Veranstaltungen in Zeiten, in denen es ansonsten wenig zu lachen gab. Auch in Lily Parrs Heimatstadt, zwischen Manchester und Liverpool, gründete sich ein Damenteam, die St. Helens Ladies, für die Parr bereits als Vierzehnjährige debütierte.

„Sie hat mir den verdammten Arm gebrochen!“

Als Parr mit ihrem Team gegen die Dick, Kerr Ladies spielte, war Alfred Frankland von ihrem Talent ganz angetan: Er köderte Lily und ihre Kollegin Alice Woods mit dem Angebot nach Preston umzuziehen, einen Arbeitsplatz bei „Dick, Kerr und Co.“ anzutreten und eine monatliche Extrazahlung von 10 Shilling zu kassieren. Lily und Alice stimmten zu. Das hatte nicht nur sportliche Gründe: Die Beiden waren ein Liebespaar und nutzen die Gelegenheit – fernab von ihren Familien und dem Druck einen Mann zwecks Hochzeit und Familiengründung zu finden – zusammenzuleben. Lily, die damals erst fünfzehn Lenze zählte, entwickelte sich rasch zum Star der Dick, Kerr Ladies; in ihrer ersten Saison schoss sie 43 Tore. 20.000 bis 30.000 Zuschauer:innen fanden sich regelmäßig ein um der Offensivspielerin und ihren Kameradinnen auf die Beine zu sehen. Die Dick, Kerr Ladies spielten gegen jedes Team, das elf Spieler auf den Platz brachte: Männer, Frauen, Jugendliche, gemischte Mannschaften. Lily stach immer heraus. Ein Chronist beschrieb sie als „riesengroß, mit tiefschwarzen Haaren. Ihre Kraft und ihr Talent werden bewundert und gleichzeitig gefürchtet. Lily ist eine absolut selbstlose Spielerin, die einen perfekten Pass direkt auf den Fuß der Mitspielerin spielen kann und eine fantastische Ballbehandlung hat.“

Parrs strammer Schuss war einmalig, wie eine Anekdote aus dieser Zeit illustriert: Ein englischer Torwart behauptete lautstark, dass keine Frau so hart wie ein Mann schießen könne. Lily Parr spitzte die Ohren. Grinsend forderte sie den Maulhelden zu einem Elfmeter-Zweikampf heraus. Das hatte unangenehme Folgen für den Schlussmann: Die Stürmerin trat mit voller Wucht gegen die Lederkugel, der Goalie versuchte den Schuss zu blocken, es machte knnnaaacks. Außer sich schrie er: „Bringt mich so schnell wie möglich ins Spital! Sie hat tatsächlich meinen Arm gebrochen!“

Die kettenrauchende Lily Parr war „one of a kind“ – wie man in England sagt: In einem Spiel gegen die englische Damenauswahl „Best of Britain“ erzielte sie beim 9:1-Sieg fünf Tore. Parrs Team fungierte auch als inoffizielles englische Nationalteam und schlug seine französischen Geschlechtsgenossinnen mit 5:0, wobei alle Treffer auf das Konto der Stürmerin gingen. Auf der USA-Reise 1922 wurde Lily noch als „beste Fußballerin der Welt“ gehandelt, danach verebbte die Berichterstattung. Das Verbot des Frauenfußballs verhinderte ernsthafte Wettkämpfe; Parr und ihre Mitspielerinnen wurden um ihre Erfolge gebracht.

Trotz allem blieb die Stürmerin dem Kicken und ihren „Ladies“ immer treu und wurde sogar Kapitänin der Mannschaft. Im August 1950 bestritt sie ihr letztes Fußballspiel, nachdem sie beinahe 1000 Tore geschossen haben soll. Erst acht Jahre vor ihrem Tod hob die Football’s Association das Spielverbot für Frauen auf. Parr lebte mit ihrer Freundin Mary, die sie als Kollegin im Krankenhaus kennengelernt hatte, in Goosnargh, einem kleinen Dorf nahe Preston, zusammen und schloss am 22. Mai 1978 in Marys Armen für immer ihre Augen. Seit ihrer Wiederentdeckung durch Feministinnen gilt Parr heute als englische Frauenfußball‑ und LGBTQ-Ikone, weil sie so lebte und spielte, wie sie wollte.

Marie Samstag, abseits.at

Marie Samstag