Am Dienstag begann unsere Reise, bereits um 6.20 Uhr ging unser Flug nach Rom. Von dort hätte es um kurz nach 9 Uhr nach... EM-Tagebuch aus Bordeaux (4): Streiks, eine Niederlage und warum es hier trotzdem schön ist

_Frankreich EM 2016 KarteAm Dienstag begann unsere Reise, bereits um 6.20 Uhr ging unser Flug nach Rom. Von dort hätte es um kurz nach 9 Uhr nach Toulouse gehen sollen, wir wären anschließend mit dem TGV nach Bordeaux gefahren, hätten die Tram zum Hotel und später jene zum Stadion genommen.

Der Konjunktiv zeigt an, dass dem nicht so war. Unser Flug verspätete sich um mehr als eine Stunde, am Flughafen Toulouse gab es dann noch eine Passkontrolle, unseren Anschlusszug von Toulouse nach Bordeaux haben wir damit verpasst. Einen späteren Zug gab es laut Fahrplan einmal, doch fiel dieser den Streiks zum Opfer. Was wir erst später erfuhren: Vom Hauptbahnhof Bordeaux hätten wir die Tram zu unserem Hotel wahrscheinlich gar nicht nehmen können, da viele Linien des öffentlichen Verkehrs ebenfalls streikten. Unsere kurzfristige Lösung : ein Mietauto.

Wir waren jedoch nicht die einzigen mit dieser Idee und daher hatten manche Anbieter gar keine Autos mehr im Angebot (!) und die restlichen Anbieter übertrafen sich gegenseitig in ihrer Preistreiberei. Etwa 230 Kilometer liegen zwischen dem Flughafen Toulouse und unserem Hotel in Bordeaux, die Reise wurde also nicht einfacher, aber was tut man nicht alles, um das Nationalteam bei einer Europameisterschaft zu sehen?

Als wir endlich (um 15.45 Uhr ca., also nach fast 10 Stunden Anreise) in unserem Hotel ankamen, wussten wir zumindest, dass wir das Spiel nicht verpassen werden, immerhin. Erfreut stellten wir auch schnell fest, dass unser Hotel  mehrheitlich von unseren Fans gebucht wurde. Auch einige Ungarn sind hier untergebracht, alles sehr nette Typen – auf beiden Seiten. Das bemerkten wir sofort, als wir den ersten heimischen Fan herzlich mit “Immer wieder …” begrüßten und nach einer kurzen Unterhaltung sofort eine Fahrgemeinschaft zum Stadion bildeten. Der Weg zum Stadion war nun die letzte Herausforderung an unsere Geduld an diesem Tag : Vielleicht auch wegen der Streiks bildete sich ein mühsamer Stau, rechtzeitig zum Stadion kamen wir aber dennoch.

Im Stadion angekommen verwunderte uns zuerst die unterdurchschnittliche Polizeipräsenz  – bei jedem Wiener Derby sind mindestens doppelt so viele Polizisten sichtbar. Sie war aber auch gar nicht notwendig, die Stimmung beider Fanlager war nämlich sehr gut und so konnte man sich vor Anpfiff bereits sehr entspannt mit den Ungarn unterhalten. Die Vorfreude war bei allen Fans deutlich sichtbar.

Das Spiel selbst war dann klarerweise für unsere Leute sehr enttäuschend – wie oft hatten wir während der 90 Minuten das Gefühl, dass ein Tor für Österreich unmittelbar bevorstand? Zu oft. Und dieses Spiel trübte natürlich die Stimmung der Österreicher in Bordeaux. Wir selbst waren nicht sicher, ob wir noch in die Stadt wollten oder ob wir die Niederlage nicht lieber in unserem Hotel verdauen sollten. Wir gingen in die Stadt. Es war die richtige Entscheidung!

In einer (sehr belebten) Seitengasse fanden wir ein nettes kleines französisches Restaurant, wo wir hervorragend und sogar zu einem guten Preis speisten und uns das eine oder andere Gläschen Rotwein gönnten. Hin und wieder hört man von Franzosen, die sich weigern, andere Sprachen als die ihre zu verwenden. Unser Bistrobesitzer war so ein “Original”, tätowiert von oben (Gesicht) bis unten (Beine) weigerte er sich partout auch nur ein einziges englisches Wort in den Mund zu nehmen. Und nicht nur das, er forderte uns auch (gespielt resignativ) dazu auf, dass wir doch bitte seine Sprache lernen sollen. So ein Original findet man nicht häufig in diesen Tagen in Bordeaux, eigentlich bemüht sich jeder, den Fans entgegenzukommen. Die Bestellung selbst war dann aber unkompliziert, er verstand schon gut, was wir (auf Englisch) bestellten. Kulinarisch erwartete uns ein tolles Essen, guter Wein und der Service war top.  Wir hatten jedenfalls Spaß mit unserem französischen Original.

Von unserer Position aus konnten wir auch gut die vorbeiziehenden Fanmassen beobachten. Die meisten von ihnen trugen den Adler auf der Brust. Und dann war eine Sache spannend zu beobachten : Zuerst waren die Mienen unserer Leute finster, die Enttäuschung war den meisten ins Gesicht geschrieben. Doch irgendwann (so ca. nach der zweiten Flasche Bordeaux) breitete sich plötzlich wieder Optimismus aus. Sogar “Immer wieder …” wurde von einigen angestimmt. Die Stimmung verbesserte sich, die Vorfreude auf Paris schien wieder zu steigen: “Dann müssen eben die Portugiesen herhalten”, meinte zum Beispiel ein fremder Fan zu mir. Natürlich war auch noch die Enttäuschung spürbar, keine Frage, aber die gute Stimmung siegte hier eindeutig. Und das ist vielleicht der Grund dafür:

Ich habe selten so viele kommunikative Menschen auf einem Platz erlebt. Egal ob Engländer ihren trockenen Humor beweisen, ob sich die vielen Österreicher gegenseitig Mut zusprechen, ob man mit Ungarn normal übers Spiel reden kann (vielfach: “we are sorry for you”, fast schon zu viel Empathie und Mitleid), ob Iren ein Boot in Arcachon lautstark mit “Come on you boys in green!” begrüßen oder ob man mit den Franzosen über die Situation in ihrem Land spricht – man hat den Eindruck, dass hier im Südwesten des Landes tatsächlich “noch alles in Ordnung” ist. Diese Offenherzigkeit aller Personen, die ich bislang kennenlernen durfte, ist beeindruckend, stimmungshebend und definitiv eine Reise wert.  Anbei ein paar Impressionen für euch:

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Emanuel Graf, abseits.at

Emanuel Graf

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