Verkehrte Welt am 3.Achtelfinaltag: Italiener die neuen Spanier, Isländer die neuen Engländer!
EURO 2016 28.Juni.2016 Daniel Mandl 0
Der Montag war nach dem bereits guten Sonntag der zu erwartende interessante letzte Achtelfinaltag. Mit Italien und Island setzten sich die Außenseiter durch – und das völlig zu Recht. Die Verlierer haben den Finger bereits am Reset-Knopf.
Dass die Italiener Hummeln im Hintern haben, war bereits nach dem taktisch hervorragenden Auftaktspiel gegen Belgien klar. In weiterer Folge sprang die Conte-Truppe in der Gruppenphase nur so hoch wie nötig, brannte keine Gala ab.
Vendetta!
Gegen Spanien ging es jedoch um mehr, als nur um den Aufstieg. Die Squadra Azzurra ließ alles, außer eine Revanche für zahlreiche schmerzende Niederlagen, für ungültig erklären. Die letzten fünf Spiele hatten die Italiener gegen die Furia Roja nicht gewonnen. Da waren bekanntlich Niederlagen im Confed-Cup-Halbfinale und vor allem im letzten EM-Finale dabei. Und auch 2008 scheiterte Italien an Spanien.
Mit dem 2:0 am gestrigen Abend gelang Italien der erste Pflichtspielsieg über Spanien seit 22 Jahren. Damals setzte man sich im WM-Viertelfinale mit 2:1 gegen die Iberer durch. Der Erfolg der Italiener war höchstverdient, einem disziplinierten Kampf und sehr geradlinigem Spiel geschuldet. Nicht umsonst sprachen viele Beobachter von einer verdrehten Welt.
Come una cantata
Wenn eine italienische Nationalmannschaft nicht funktioniert, wird sie eher mit den schmutzigen Stilmitteln des Fußballs assoziiert. Schwalben, Verzögern, Liegenbleiben, Unsportlichkeiten, Übertreibungen und so weiter. Wenn wiederum Spanien funktioniert und auf Betriebstemperatur ist, ist die Roja wie eine wunderschöne Arie. So das Bild, das die letzten knapp acht Jahre zeichneten.
Gestern endete diese Ära mit einem Polsprung. Das Magnetfeld des Fußballs hat die Seiten gewechselt. Plötzlich waren die Azzurri wieder die Kantate, leidenschaftlich und laut, getragen von einer stolzen Defensive, einer erbarmungslosen Offensive und einem Ritalinjunkie als Dirigenten. Man hätte es an La Scala nicht besser aufführen können.
Vergogna…
Und Spanien? Neben den paar guten Chancen, die man mit solch hoher Qualität eben bekommt, war das gestrige Spiel das Ende einer Epoche. Larmoyante, teils lethargische Kicker, bei denen das meiste in einem einheitlichen Tempo ablief. Für ein Spiel auf mehr oder weniger gleichem Level lieferten die Spanier kaum etwas Mitreißendes. Das simeonische Atlético-Gen fehlte dieser Seleccion wie Vicente del Bosque die Klamauk-Ader. Und als man dann auch selbst spürte, dass das gegen diese aufgezuckerte Squadra nichts wird, begann man zu dramatisieren und ließ sich von Schiedsrichterfehlern aus der Balance bringen. Der spanische Umbruch und wohl auch ein Umdenken im Stil sind somit immanent.
Brexit 2.0
Am Abend ging es schließlich ans David-gegen-Goliath-Duell zwischen Island und England. Der Brexit-Dunst und der faulig-gemeine Hákarl-Geruch (denn genauso angenehm sind die Isländer zu bespielen) in der Luft ließen schon vermuten, dass sich hier eine Sensation anbahnt. Rooneys Elfmeter schien die an diesem Tag verkehrte Fußballwelt wieder gerade zu rücken. Aber die Nordmänner sind mit diesem Turnier noch nicht fertig und überkamen auch England. Gary Lineker ahnte den zweiten Brexit binnen Tagen bereits nach dem 1:2 voraus, der schlechteste Trainer des Turniers, Roy Hodgson, sorgte dann mit britischer Gelassenheit und Schlafwagencoaching dafür, dass er auch Wirklichkeit wurde.
Disgrace…
So sehr wünschte man sich in England den Bruch des Turnierfluchs. 50 Jahre nach Wembley wäre das nur zu schön gewesen. Noch dazu beim ewigen Rivalen, mitten in Frankreich. Doch unterm Strich ist das englische Nationalteam längst nicht mehr der Fight Club, der Arbeiterklasse und Indie-Generation mit Kampfeslust, Leidenschaft und den menschlichen Exzessen abseits des Rasens eint. Die Generationen von Irren sind längst nicht mehr aktiv und auch die Schöngeister von der Insel blättern bereits in Erinnerungen, anstatt sie zu leben.
Missing the ol‘ lads
Die Gascoignes, Adams, Linekers oder Beckhams sind Vergangenheit und es fühlt sich an, als wären sie schon seit 100 Jahren weg vom Fenster. Die Realität und Gegenwart sind Hypes. Korsettspieler wie Alli, Kane, Wilshere oder Sterling. Geformt, ohne Makel und ängstlich, Fehler zu machen. Da können auch die letzten Mohikaner wie Rooney oder Vardy nichts mehr kitten – Englands Nationalteam ist schlichtweg eine aalglatte, teils überhebliche Truppe, geführt von einem greisen Trainer mit dem Charme von Elizabeth Bowes-Lyon. Wenn Spaniens Nationalteam einen Reset braucht, dann braucht England eine Neugründung.
Berjast og vinna!
Wie’s eigentlich sein sollte, zeigte ausgerechnet Island – ein Land mit genauso vielen Einwohnern wie Leicester. Abwehrchef Ragnar Sigurdsson sagte schon vor der Partie, dass es ihm „scheißegal sei, wer seine Gegenspieler sind und wie sie heißen“. Kratzen, beißen, schwitzen, bluten – das sollte eigentlich die Devise jeder englischen Nationalelf sein. Wenn Abwehrchef Sigurdsson und Kapitän Gunnarsson die „englischsten“ Spieler auf dem Rasen waren, spricht das Bände über den Zustand der Three Lions.
Witziges Detail am Rande: Ein Jahr nach dem Weltmeistertitel der Engländer 1966 steckte Island die höchste Länderspielniederlage seiner Teamgeschichte ein. In Kopenhagen setzte es ein 2:14 gegen Dänemark. Die Entwicklung beider Mannschaften seitdem ist Geschichte.
Daniel Mandl, abseits.at
Daniel Mandl Chefredakteur
Gründer von abseits.at und austriansoccerboard.at | Geboren 1984 in Wien | Liebt Fußball seit dem Kindesalter, lernte schon als "Gschropp" sämtliche Kicker und ihre Statistiken auswendig | Steht auf ausgefallene Reisen und lernt in seiner Freizeit neue Sprachen
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